Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit dbb-Europathemen
Europathemen: Fühlen Sie sich als überzeugter Europäer manchmal allein? Bekennen sich die politischen Eliten Deutschlands noch zur europäischen Einigung?
Schäuble: Als überzeugter Europäer fühle ich mich keinesfalls allein, sondern insbesondere in der Bundesregierung und in meiner Partei gut aufgehoben. Deutschlands Zukunft liegt in Europa, die bereits erreichte Integration ist ein Glücksfall für die Deutschen, politisch wie wirtschaftlich. Die europäische Einigung ist das Erfolgsprojekt der letzten 50 Jahre und Deutschland hat einen maßgeblichen Anteil daran.
Die aktuelle, intensive Diskussion über die weitere Entwicklung der Europäischen Einigung zeigt, dass Europa immer stärker in der Lebenswirklichkeit der Menschen ankommt – die Bürger aber auch aktiv an der Gestaltung des europäischen Weges beteiligt werden wollen.
Europathemen: Sie haben wiederholt angedeutet, dass die Euro [Glossar] Schuldenkrise nur durch mehr Integration überwunden werden kann. Sind der Pakt für Wettbewerbsfähigkeit und die stärkere wirtschaftliche Koordinierung der Mitgliedstaaten mehr als Lippenbekenntnisse?
Schäuble: Selbstverständlich. Um zukünftige Schuldenkrisen erst gar nicht aufkommen zu lassen, muss es eine verstärkte, frühzeitige wirtschaftliche Koordinierung aller Eurostaaten und insbesondere eine Überwachung potenzieller Krisenstaaten geben. Die hierzu notwendigen Strukturreformen bedeuten selbstverständlich ein Mehr an Integration, bei dem die Eurozone nicht nur bei der Währung, sondern auch bei der Wirtschaftspolitik stärker zusammenarbeitet.
Deswegen haben wir in der Europäischen Union ein umfassendes Paket vereinbart, um dieses Ziel zu erreichen. Um zukünftig eine ausufernde Staatsverschuldung zu vermeiden, reichen nicht nur Strafen im Nachhinein, wie sie der frühere Sanktionsmechanismus zu den Maastricht-Kriterien vorsah. Nunmehr sind auch präventive Vorkehrungen getroffen, dazu zählt beispielsweise auch eine bessere Abstimmung der europäischen Haushaltspolitik durch das sogenannte „Europäische Semester“. Der von Ihnen angesprochene auch als „Euro-Plus-Pakt“ bezeichnete Pakt für Wettbewerbsfähigkeit ist nur ein Element davon.
Die Mitgliedstaaten koordinieren ihre Wirtschaftspolitik zukünftig wirksamer und wachstumsorientierter. Sie vereinbaren jährliche Ziele zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Gleichzeitig werden neue Verfahren zur Überwachung und Korrektur gesamtwirtschaftlicher Ungleichgewichte, geschaffen.
Das bedeutet, dass wir in Zukunft Fehlentwicklungen in einem Mitgliedstaat frühzeitig kritisch ansprechen und damit auch etwas dagegen tun können. Wichtig ist es auch, dass die Widerstandsfähigkeit des Finanzsektors gegen Krisen gestärkt wird, auch hier wurden Integrationsfortschritte erreicht durch die neue europäische Finanzmarktaufsicht, regelmäßige Stresstests sowie strengere Anforderungen an das Eigenkapital [Glossar] von Banken, um diese krisenresistenter zu machen.
Ferner soll bei akuten Notfällen der neue permanente Europäische Stabilitätsmechanismus gegen Einhaltung strikter Auflagen helfen, eine drohende Zahlungsunfähigkeit eines Mitglieds des Euroraums abzuwenden. Zusammenfassend kann man sagen, dass ein sehr konkretes Maßnahmenpaket vereinbart wurde, um zukünftige Krisen zu vermeiden oder zumindest im Extremfall beherrschbar zu machen.
Europathemen: Was verstehen Sie unter einer Europäischen Wirtschaftsregierung? In welchen Punkten unterscheidet sich Ihre Sicht von der französischen?
Schäuble: Die Idee einer Europäischen Wirtschaftsregierung ist so alt wie die ersten Pläne für eine Europäische Wirtschafts- und Währungsunion [Glossar]. 1999 wurde die Gemeinsame Wäh-rung mit dem Euro eingeführt. Sie besteht seit nunmehr gut zehn Jahren. Seitdem hat sich nicht nur die Architektur der Gemeinsamen Währung weiterentwickelt, sondern auch die Debatte über die Europäische Wirtschaftsregierung.
Mit den jüngsten Beschlüssen des Europäischen Rates vom 24./25. März zur Reform der Währungsunion haben wir mit unseren europäischen Partnern auch ein neues gemeinsames Verständnis über die so genannte wirtschaftspolitische Steuerung im Gemeinsamen Währungsgebiet entwickelt. Die dabei vereinbarten Instrumente machen den Willen der Eurostaaten deutlich, ihre wirtschaftspolitische Abstimmung auch in Bereiche auszudehnen, die in nationaler Verantwortung liegen. Die Verankerung der Prozesse auf Ebene der Wirtschafts- und Finanzminister und der Staats- und Regierungschefs verdeutlicht, dass wir zu einer neuen Qualität der wirtschaftspolitischen Steuerung übergehen, nicht zuletzt, weil der Europäische Rat im Frühjahr zukünftig ein „Wirtschaftsgipfel“ sein wird. Zu diesen Maßnahmen haben sich alle Mitgliedsstaaten der Union, inklusive Frankreich, bekannt.
Europathemen: Der Pakt für Wettbewerbsfähigkeit sieht ein Heilmittel in der Lohnzurückhaltung. Zuvor war Deutschland von seinen Partnern vorgeworfen worden, mit der Politik der Lohnzurückhaltung zu den ökonomischen Ungleichgewichten in der EU beigetragen zu haben. Richten die Europäer sich nun nach deutschen Vorgaben?
Schäuble: Ziel des „Euro-Plus-Pakts“ ist es, in Ergänzung zur verstärkten wirtschaftspolitischen Überwachung im Rat die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten und Europas insgesamt zu verbessern. Denn die Krisen der letzten Jahre haben gezeigt, welche Gefahren von gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichten ausgehen können.
Eine Vielzahl von Faktoren kann grundsätzlich für Wettbewerbsschwächen verantwortlich sein. Ein Aspekt sind dabei auch Unterschiede in den Mitgliedstaaten bei den Löhnen im Verhältnis zur Produktivität. Es ist unbestritten, dass diese beiden Faktoren in einem Zusammenhang stehen und hierfür in einem gemeinsamen Währungsraum zumindest einigermaßen ähnliche Bedingungen gelten müssen.
Deswegen soll die Entwicklung von Lohnstückkosten und Lohnbildungsprozessen in der Privatwirtschaft und dem öffentlichen Dienst über einen gewissen Zeitraum hinweg beobachtet und dabei mit den Entwicklungen in anderen Ländern des Euro-Währungsgebiets und in den wichtigsten vergleichbaren Handelspartnerländern verglichen werden. Denn eines ist klar: Unverhältnismäßig stark ansteigende Lohnstückkosten können zu einer Aushöhlung der Wettbewerbsfähigkeit eines Landes führen.
Auch wenn die konkreten Entscheidungen weiterhin in der Zuständigkeit jedes Staates liegen, muss es auch in diesem Bereich zu einer besseren Abstimmung, also einem Mehr an Koordinierung der Wirtschaftspolitik kommen. Und selbstverständlich gibt hier nicht Deutschland alleine den Takt an, aber Deutschland ist in Punkto Wettbewerbsfähigkeit bereits gut auf gestellt.
Europathemen: Bedauern Sie, dass die Staats- und Regierungschefs sich gegen eine Beteiligung privater Gläubiger ausgesprochen haben? Können die Banken sich darauf verlassen, dass der Steuerzahler sie raushaut?
Schäuble: Die Staats- und Regierungschefs haben sich für – und nicht gegen – eine Beteiligung privater Gläubiger im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus ab Juli 2013 ausgesprochen. Daher gibt es nichts zu bedauern. Um im Fall der Fälle ein solches Verfahren technisch zu erleichtern, werden sämtliche danach begebenen Staatsanleihen der Staaten der Eurozone entsprechende Vertragsklauseln haben.
Für die Zukunft muss klar sein: Wer seine Staatsfinanzen solide aufstellt, zahlt niedrigere Zinsen für seine Refinanzierung. Im umgekehrten Fall ist die Refinanzierung nun einmal teurer. Dabei ist es unerlässlich, dass es zukünftig auch eine private Beteiligung der Gläubiger gibt und der Staat ihnen diese Risiken gerade nicht abnimmt.
Europathemen: Wann ist die Grenze für weitere Hilfen erreicht?
Schäuble: Die Schuldentragfähigkeit von Staaten, die einen Hilfsantrag stellen müssen, wird bei der Programmaufstellung geprüft sowie vor jeder weiteren Mittelausreichung. Die Frage ob das Programm wie vereinbart absolviert wird und ob die Schuldentragfähigkeit weiter gegeben ist, ist im Zentrum der Frage, ob die Hilfsgelder ausgeschüttet werden können. Das Ziel ist immer die Staatsverschuldung auf ein langfristig tragbares Niveau zurückzuführen und kurz- oder mittelfristig eine eigene Refinanzierung an den Märkten wieder zu erreichen. Zur Überprüfung dieser Fragen gibt es immer eine Troika aus Europäischer Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank, die die Verhältnisse vor Ort analysieren und bewerten.
Europathemen: Was bedeutet die EU für die Demokratie in Europa? Müssen die Parlamente, die nationalen wie das Europäische, gestärkt werden?
Schäuble: Der Vertrag von Lissabon hat die Rechte des Europäischen Parlaments sowie der nationalen Parlamente und damit die Demokratie in Europa substantiell gestärkt.
Im Bereich der Rechtssetzung ist das Parlament durch das Verfahren der Mitentscheidung zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren in den meisten Bereichen zu einem gleichberechtigten Gesetzgebungsorgan neben dem Rat aufgewertet worden. Weiterhin steht dem Parlament gemeinsam mit dem Rat das Haushaltsrecht zu.
Den nationalen Parlamenten werden Entwürfe von Gesetzgebungsakten zugeleitet mit der Möglichkeit, die Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes zu überprüfen und Verstöße dagegen zu rügen.
Das Grundgesetz sichert die Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat in Angelegenheiten der Europäischen Union. In den Begleitgesetzen, die das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon Vertag umsetzen, werden die Informations- und Beteiligungspflichten von Bundestag und Bundesrat erstmals auf eine klare gesetzliche Grundlage gestellt und betont.
Europathemen: In vielen EU-Staaten, auch in Gründungsländern der Gemeinschaft, mehren sich aggressive, antieuropäische Stimmen. Besorgt Sie diese Entwicklung?
Schäuble: Zu meinem Bedauern müssen wir feststellen, dass zum Teil sehr populistisch argumentierende europakritische Stimmen verstärkt an Aufmerksamkeit und Zustimmung gewinnen. Aber eine aggressive antieuropäische Stimmung auf breiter Basis in den EU-Staaten kann ich so nicht erkennen. Dennoch: Gerade wir Politiker und überzeugten Europäer, um auf Ihre erste Frage zurückzukommen, sind gefordert, den Menschen in Europa das Erreichte der europäischen Einigung vor Augen zu führen und Tag für Tag uns der Aufgabe zu stellen, Europa zu erklären und dafür zu werben.
Wir können unsere Ziele in Europa nur gemeinsam erreichen. Ein Rückfall in „nationalstaatliches Kleinklein“ ist keine Option für ein Europa des 21. Jahrhunderts. Im Gegenteil: wir können die Herausforderungen der Zukunft nur gemeinsam in und mit Europa meistern. Wir sind bereits weit gekommen, aber es bleibt noch ein schönes Stück Weg vor uns. Aber das Erreichte stimmt mich optimistisch, dass Europa der Weg der Zukunft ist.
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