Wir wollen nicht spalten



Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble hat in einem ZEIT-Interview vom 25.10.2012 große Pläne für Europa. Die Bevölkerung, glaubt er, stehe dabei hinter ihm.

DIE ZEIT: „Der europäische Einigungsprozess ist an einen kritischen Punkt seiner Entwicklung gelangt. Wenn es nicht gelingt, eine Lösung zu finden, dann wären die existenzielkn Probleme der europäischen Gesellschaften nicht zu bewältigen“ – kommt Ihnen dieses Zitat bekannt vor, Herr Minister?

Schäuble: Es passt auf viele Situationen in der Geschichte der EU und beschreibt auch die gegenwärtige Lage gut.

ZEIT: Es entstammt dem Papier zur Zukunft Europas, das Sie im Jahr 1994 zusammen mit Karl Lamers verfasst haben.

Schäuble: Sehen Sie!

ZEIT: Muss es nicht zu denken geben, dass Europa nun schon seit 18 Jahren über dieselben Probleme redet und sie offenbar nicht gelöst bekommt?

Schäuble: Das ist doch etwas verkürzt. Anders als heute ging es in den neunziger Jahren vor allem um die Frage, ob die Europäische Union erweitert oder vertieft werden soll. Wir haben gesagt, man muss beides machen. Heute haben wir es mit anderen Herausforderungen zu tun. Aber richtig ist immer: Europa entwickelt sich Schritt für Schritt und normalerweise ohne den Big Bang, denn die Menschen sind nur schrittweise dazu bereit, bestimmte Zuständigkeiten auf die europäische Ebene zu übertragen. Das ist ein mühsamer Prozess, der uns aber schon weit getragen hat.

ZEIT: Warum ist er so mühsam?

Schäuble: Es hat etwas damit zu tun, dass demokratische Wohlstandsgesellschaften das Wort „Veränderung“ nicht sehr schätzen. Es gibt halt Besitzstände, und die werden verteidigt. Niemand will den Flughafen in seiner Nähe haben, aber alle wollen fliegen. Europa ist ein andauerndes Veränderungsprojekt.

ZEIT: Vielleicht ist die Zurückhaltung ja auch Ausdruck einer gesunden Skepsis gegenüber politischen Experimenten.

Schäuble: Das glaube ich nicht. Es ist doch so, dass die Zustimmung zu Europa eher zugenommen hat.

ZEIT: Wirklich? In Griechenland und Spanien gibt es Proteste gegen die Sparauflagen aus Brüssel, in Deutschland gegen den Rettungsschirm ESM.

Schäuble: Proteste gehören zu einer Demokratie, und viele der jetzt beschlossenen Maßnahmen sind in der Tat für den Einzelnen hart und dementsprechend oft auch unpopulär. Entscheidend ist aber doch der Wille der Mehrheit. Und immer wenn die Mehrheit erkennt, was auf dem Spiel steht, ist sie bereit, etwas zu tun. Nehmen Sie die Wahlen in den Niederlanden, bei denen die Euro-Skeptiker abgestraft wurden. Auch die zweiten Wahlen in Griechenland oder gerade jetzt die spanischen Regionalwahlen haben bewiesen: Je konkreter die Gefahr, desto größer die Reformbereitschaft.

ZEIT: Trifft das auch für Deutschland zu? Die Freien Wähler wollen mit einem euroskeptischen Programm in den Bundestag einziehen.

Schäuble: Und sie werden scheitern. Genau wie Hans-Olaf Henkel oder wer auch immer. In Deutschland konnte bislang keine Partei mit einem Anti-Euro-Kurs bei Wahlen punkten. Als versucht wurde, dies zum Thema bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus zu machen, haben sich die Wähler abgewandt. Europa kommt immer in Krisen wirklich voran, das war schon immer so.

ZEIT: Das wäre dann ein Europa, das die Finanzmärkte erzwingen. Wäre es nicht ein besserer Ausgangspunkt für das friedliche Zusammenleben der Völker, wenn eine derart gravierende Entscheidung in freier Übereinkunft getroffen würde?

Schäuble: Es ist doch klar und zwingend, dass ohne die Zustimmung der Völker und der Parlamente überhaupt nichts in Europa passiert. Aber manchmal braucht es eben einen Anstoß, einen Anlass, um etwas weiterzuentwickeln. Sonst säßen wir wohl immer noch in der Steinzeit, denn so kalt waren die Höhlen ja vielleicht auch nicht. Nach meinem Verständnis von demokratischer Politik kann man einen großen Plan nur mit Beteiligung der Bevölkerung umsetzen und muss ihre Bedenken und Sorgen berücksichtigen.

ZEIT: Trotzdem bauen Sie an einem europäischen Superstaat. Wie passt das zu einem konservativ-skeptischen Menschenbild?

Schäuble: Es geht gerade nicht um einen Superstaat, sondern um die Fortentwicklung der Idee des Nationalstaats. Diese sehr europäische Idee hatte sich schon mit dem Morden des Ersten Weltkriegs ad absurdum geführt, daher ja auch die ersten paneüropäischen Bewegungen in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Es bedurfte aber eines weiteren großen Kriegs, bevor die Idee in die Praxis umgesetzt wurde. Was wir in Europa im Bereich der effizienten Zuordnung von Souveränität zwischen Kommunen, Regionen, Staaten und der europäischen Ebene machen, ist hochinnovativ – und unter den Bedingungen der Globalisierung wichtiger denn je.

ZEIT: Die Kriegserzählung verliert für Jüngere an Überzeugungskraft. Wie kann man heute Europa begründen?

Schäuble: Ich vermute mal, dass dies eine rhetorische Frage ist. Klima, Rohstoffe, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Terror und Ähnliches mehr fallen einem schnell als Antwort ein. Aber auch bei der Finanzmarktregulierung können Sie allein wenig ausrichten. Ich war gerade in Asien, dort beobachtet man sehr genau, was wir in Europa machen.

ZEIT: Ist es dann nicht riskant, Europa durch hochtrabende Integrationspläne zu gefährden?

Schäuble: Der Euro hat noch keinen umfassend adäquaten institutionellen Rahmen. Das holen wir jetzt nach. Damit gefährden wir Europa nicht, sondern stärken es.

ZEIT: Sie haben vergangene Woche vorgeschlagen, einem Brüsseler Superkommissar für Währung ein Vetorecht über nationale Staatshaushalte einzuräumen. Ist es demokratisch, das Budgetrecht des Parlaments auszuhöhlen?

Schäuble: Da wird nichts ausgehöhlt. Die Idee ist weder neu noch revolutionär. Der Kommissar kann keine beliebigen Entscheidungen treffen. Er soll dafür sorgen, dass die Regeln eingehalten werden, denen die Mitgliedsstaaten und zumeist auch ihre Parlamente bereits verbindlich zugestimmt haben. Nicht mehr und nicht weniger.

ZEIT: Wie lange werden die nationalen Parlamente noch die Haushalte festlegen?

Schäuble: Irgendwann wird das Europäische Parlament das Budgetrecht wahrnehmen. Dazu müssen aber noch viele Voraussetzungen erfüllt sein – vor allem müssen es die Menschen als ihre Vertretung annehmen. Wir könnten jedoch schon viel früher mit der Stärkung der Demokratie in Europa beginnen und den Präsidenten der Kommission direkt vom Volk wählen lassen.

ZEIT: Sie glauben, dass sich die Deutschen für den Kommissionspräsidenten interessieren?

Schäuble: Wenn es einen Wahlkampf gibt, schon. Das wäre eine Urerfahrung, die bleibt. Sie könnte bei der Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit helfen. Schauen Sie doch, mit welchem Interesse die Menschen eine Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart verfolgen!

ZEIT: Je mehr Kompetenzen Sie aus der Hand geben, desto größer die Gefahr, dass nicht im deutschen Interesse entschieden wird. Viele Berliner Positionen sind in Europa nicht mehrheitsfähig.

Schäuble: Daran arbeiten wir. Die Garantie allerdings, dass sich immer die deutsche Position durchsetzt, kann niemand geben. Demokratie bedeutet, darauf zu vertrauen, dass die Mehrheit schon das Richtige tut. Das ist das Risiko der Freiheit. Und als es hieß, dass am deutschen Wesen die Welt genesen solle, war es sicherlich nicht zu unserem Besten.

ZEIT: Im Fall der Europäischen Zentralbank (EZB) wird dieses Vertrauen sehr strapaziert. Für die meisten Bundesbürger ist die Politik der Notenbank ein Bruch mit deutschen Stabilitätsidealen.

Schäuble: Der EZB zu unterstellen, sie sei nicht stabilitätsbewusst, hieße, die Realität zu ignorieren. Sie agiert innerhalb ihres Mandats.

ZEIT: Sie sagen, dass die Krise Europa zusammenführt. Entzweit sie nicht den Kontinent? Vor allem Deutschland und Frankreich finden nicht zusammen.

Schäuble: Im Moment sind wir mit der Situation konfrontiert, dass es bei uns wirtschaftlich – noch – sehr gut läuft, während andere – noch – Probleme haben. Aber nur Frankreich und Deutschland gemeinsam können verhindern, dass in Europa der Norden und der Süden auseinanderdriften.

ZEIT: Ist Frankreich Süden oder Norden?

Schäuble: Auch für die französische Gesellschaft gilt, dass sie noch nicht sehr offen für Veränderungen ist. Nicolas Sarkozy hat im Wahlkampf einen radikalen Bruch versprochen, ist aber sehr schnell eingefangen worden. Francois Hollande hat einen anderen Wahlkampf geführt, vergleichbar mit dem von Gerhard Schröder im Jahr 1998. Schröder hat damals eine Menge Dinge getan, von denen er wusste, dass sie falsch sind. Das musste er dann später korrigieren. Auch Hollande hat eine Menge Erwartungen geweckt. Die kann er jetzt nicht einfach enttäuschen, er muss sein Lager zusammenhalten. Sie können jedoch davon ausgehen, dass wir Europa gemeinsam voranbringen werden.

ZEIT: Aber welches Europa? Sie wollen neue Regeln durchsetzen, Frankreich will mehr Geld.

Schäuble: Die Franzosen wissen, dass die Währungsunion nur richtig funktionieren kann, wenn Zuständigkeiten an Brüssel abgegeben werden – auch wenn sie aus historischen Gründen etwas zurückhaltender sind als die Deutschen. Nicolas Sarkozy hatte das verstanden, und ich glaube, Francois Hollande hat es auch verstanden.

ZEIT: Aus diesem Grund gibt er wenige Tage vor einem entscheidenden Gipfeltreffen Interviews, in denen er die deutschen Vorschläge kritisiert?

Schäuble: Europa ist ein konstanter Diskussions- und Lernprozess. Wir haben vereinbart, dass wir uns in Ruhe darüber austauschen, was wir voneinander lernen können. Aber es bleibt dabei: Ohne das französisch-deutsche Tandem kommt Europa nicht voran. Und das wissen alle.

ZEIT: Vielleicht muss ja auch die Bundesregierung dazulernen. Im Rest Europas stößt der deutsche Sparkurs auf Kritik.

Schäuble: Ich kenne niemanden, der sagt, wir sollten ein höheres Defizit in Europa zulassen. In fast allen Industriestaaten ist die Verschuldung zu hoch. Sie muss gesenkt werden. Diskutiert wird nur, mit welchem Tempo. Ich glaube nicht, dass es für Vertrauen sorgt, wenn man sich langfristige Ziele setzt und diese dann kurzfristig nicht einhält.

ZEIT: Hat beim Thema Schulden ein Umdenken stattgefunden?

Schäuble: Ich glaube das schon. Das beste Beispiel ist doch der Fiskalpakt. Vor zwei Jahren hätte man Sie ausgelacht, wenn Sie vorhergesagt hätten, dass 25 Mitgliedsstaaten der EU eine Schuldenbremse nach deutschem Vorbild einführen würden. Das haben wir jetzt mehr oder weniger geschafft, und das ist ein wichtiges Signal, auch über Europa hinaus. Unsere Rolle als Europäer sollte es sein, uns im Konzert der Mächte für mehr Nachhaltigkeit in der Politik einzusetzen. Dazu müssen wir glaubwürdig sein.

ZEIT: In Ihrem Papier von 1994 haben Sie vorgeschlagen, dass ein harter Kern der integrationswilligen Staaten vorangeht und die anderen folgen. Wenn die Euro-Zone heute vorangeht, folgt niemand mehr. Riskieren Sie die Spaltung Europas?

Schäuble: Nein. Die Währungsunion übt immer noch eine ungeheure Anziehungskraft aus. Viele neue Vorhaben verhandeln wir auch im Rahmen aller 27 Mitgliedsstaaten der EU – zum Beispiel die Bankenaufsicht. Und der Fiskalpakt wurde von 25 Mitgliedern unterschrieben. Wir wollen nicht spalten, sondern vorankommen.

ZEIT: Die Briten entfernen sich aber derweil von Europa.

Schäuble: Großbritannien hat eine europafreundliche Regierung, deren innenpolitischer Spielraum jedoch immer kleiner wird. Aber irgendwann werden sich die Briten die Sache genau ansehen und dann feststellen, dass es doch in ihrem Interesse ist. Da muss man gelassen bleiben.

ZEIT: Je enger die EU zusammenrückt, desto schwieriger wird es, sie für neue Mitglieder wie etwa die Türkei zu öffnen. Dadurch setzt sie ihren globalen Einfluss aufs Spiel.

Schäuble: Ich glaube das nicht. Natürlich besteht irgendwann die Gefahr, Europa als politische Einheit, die auch einen Teil der Funktionen des Nationalstaats übernehmen soll, zu überdehnen, gerade durch die Aufnahme weiterer großer Länder. Aber Europa und auch die Euro-Zone sind und bleiben attraktiv.

ZEIT: Im Sommer konnte es einigen Mitgliedern Ihrer Koalition mit einem Austritt Griechenlands nicht schnell genug gehen. Jetzt wollen alle die Griechen retten, sogar Horst Seehofer von der CSU. Was ist da passiert?

Schäuble: Das zeigt doch, dass man sich trotz aller Streitereien auf die Politik verlassen kann. Vielleicht hat sich der eine oder andere einmal überlegt, was passieren würde, wenn der Ernstfall einträte, oder welche Folgen für die Weltwirtschaft damals der Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers hatte.

ZEIT: Also bleiben die Griechen im Euro-Raum?

Schäuble: Wir werden den Bericht der Troika abwarten und dann entscheiden.

ZEIT: Es fällt uns schwer, zu glauben, dass die Beamten der Troika das Schicksal der Währungsunion bestimmen.

Schäuble: Das werden sie auch nicht. Aber sie werden uns eine realistische Einschätzung liefern, und dann müssen wir alle in der Euro-Gruppe unsere Schlussfolgerungen ziehen. Es geht vor allem darum, dass Griechenland das tut, was Griechenland tun kann und tun muss. Und das ist für die Regierung in Athen nicht leicht.

ZEIT: Dann muss sich der Bundestag möglicherweise schon bald wieder mit Griechenland beschäftigen und neues Geld bewilligen. Steht Ihre Mehrheit?

Schäuble: Ich spekuliere hier nicht vor dem Bericht der Troika. Aber im Zweifelsfalle brauchen wir jedenfalls keine Angst zu haben. Für die Opposition wäre das doch auch eine Chance, zu zeigen, ob sie ihrer Verantwortung gerecht werden will.

ZEIT: Sie schlagen sich jetzt seit fast drei Jahren mit dieser Krise herum. Das haben Sie auch Helmut Kohl zu verdanken, der eine gemeinsame Währung einführte, ohne die politischen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen.

Schäuble: Für eine politische Union gab es damals keine Mehrheit. Deutschland und die anderen europäischen Staaten standen vor der Wahl, jetzt mit der gemeinsamen Währung anzufangen oder überhaupt nicht anzufangen. Kohl hat angefangen, und das war richtig. Wir hätten sonst heute den Euro nicht.

ZEIT: Darüber wären in Deutschland viele wahrscheinlich ganz froh.

Schäuble: Ich nicht, weil ich glaube, dass Europa und gerade auch Deutschland sehr von der Währungsunion profitieren.

ZEIT: Helmut Kohl hat sich kürzlich darüber beklagt, dass den heutigen Regierenden die Größe fehle.

Schäuble: Er ist nicht der einzige Helmut, der das so sieht. Die Älteren machen sich immer Sorgen, dass die Nachfolger nicht so groß sind wie sie selber. Das war in der Geschichte oft so und ist noch öfter widerlegt worden.

Die Fragen stellten Jörg Lau und Mark Schieritz.

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