„Wir sind normal. Das ist auch nicht recht“



undesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit „Die Zeit“

Die ZEIT: Herr Schäuble, wie hart werden die Deutschen künftig in Europa auftreten? Nach den Auseinandersetzungen über den Rettungsplan für Griechenland haben manche unserer Nachbarn den Eindruck, sie erlebten eine Zäsur.

WOLFGANG SCHÄUBLE: In den neunziger Jahren, nach der Wiedervereinigung, haben alle Europäer gesagt, die Deutschen sollten endlich ein normales Land werden, auch was etwa das außenpolitische Auftreten betrifft. Heute ist Deutschland ein normales Land, und nun ist es auch nicht recht. Jetzt spricht man von Zäsur. Nein, wir nehmen unsere Verantwortung wahr. Wir wissen, dass wir Europa zusammenfuhren müssen.

ZEIT: Wie sehr muss Europa noch zusammengeführt werden?

Schäuble: Unsere gemeinsame Währung müssen wir schon noch weiterentwickeln. Europa sollte als Wirtschafts- und Währungseinheit in der Welt präsent sein. Und wenn wir mit Global Governance weiterkommen wollen, müssen wir mit einer Stimme sprechen.

ZEIT: Und deswegen müssen die Mitgliedstaaten auch künftig ihre nationalen Interessen im Sinne weiterer Integration zurückstellen?

SCHÄUBLE: Nein, das ist eben kein Widerspruch. Die weitere Integration liegt ja gerade in unserem nationalen Interesse. Wir sind in einem Prozess des Übergangs. Schrittweise übertragen wir Teile staatlicher Souveränität auf Europa. In der Außen- und Sicherheitspolitik ist das leichter als in der Wirtschafts- und Währungspolitik. Eine europäische Armee ist in der Bevölkerung populär — nicht nur in Deutschland. Das war vor 20 Jahren noch unvorstellbar. Europa ist der Versuch, Dinge zu vergemeinschaften, ohne die nationale Zuständigkeit aufzugeben.

ZEIT: Aber die öffentliche Unterstützung für diese Sicht nimmt ab.

SCHÄUBLE: Man muss es der Bevölkerung gegenüber begründen und wieder und wieder erklären.

ZEIT: Warum ist es notwendig, dass sich Europa permanent weiterentwickelt?

SCHÄUBLE: Weil die Nationalstaaten alleine Probleme wie den Klimawandel oder die Bevölkerungsentwicklung nicht lösen können. Die Wirtschafts- und Währungsunion haben wir, jetzt kommt die Gemeinsame Außenpolitik, und dann werden wir die Rechtsgemeinschaft vertiefen. Aber wie im Bundesstaat auch sollten wir künftig dort der dezentralen Regelung stärker vertrauen, wo die Dinge sinnvollerweise besser nicht zentral geregelt werden. Denn lange Zeit haben wir die Vereinheitlichung auf die Spitze getrieben. Diese Entwicklung ist an ihr Ende gekommen, weil sie zu einem Übermaß an Regulierung und an Bürokratie geführt hat.

ZEIT: Sie haben einmal gesagt: „Ich engagiere mich für ein starkes Europa, über den Kurs meiner Partei und meiner Regierung hinaus.“ Wo denken Sie weiter als Ihre Partei oder die Bundesregierung?

SCHÄUBLE: Manchmal habe ich schon den Eindruck, dass andere mehr Engagement darin zeigen könnten, zu erklären, wo denn die Vorzüge europäischer Gemeinsamkeit liegen. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die volle Integration der neuen Mitgliedstaaten in unserem Interesse ist. Wie wollen Sie denn die ostdeutschen Länder wirtschaftlich auf die Beine kriegen, wenn nicht durch das Aufwachsen einer neuen Zentralität? Die Tatsache, dass es in Polen so aufwärtsgeht, ist doch für Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen ein Hoffnungszeichen und nicht eine Bedrohung. In der Mitte einer zusammenwachsenden Ordnung geht es diesen Regionen besser als in der Randlage. Ich bin Kind einer Randlage. Baden ist in der Nachbarschaft zum Elsass. Es geht uns viel besser, seit sich das Elsass mit den offenen Grenzen entwickelt hat. Wir wachsen in die Zentralität hinein, und das verbessert die Chancen für uns in Deutschland. Das muss man sich ständig bewusst machen.

Zeit: In Ihrem Büro hängt ein großes Bild von Jörg Immendorff mit dem Titel Verwegenheit stiften. Stiftet die Politik genug Verwegenheit?

SCHÄUBLE: Man darf den Leuten nicht nur nach dem Mund reden. Am Ende hat die Demokratie nur so viel Legitimation, wie man die Chance wahrnimmt, die Menschen von der Richtigkeit der Politik zu überzeugen. Ich bin kein Anhänger von Plebisziten, ich bin kein Anhänger davon, Entscheidungen an die Demoskopie abzutreten — das nämlich ist immer eine rückwärtsgewandte, eine Status-quo-Betrachtung. Deshalb bin ich ein großer Befürworter politischer Führung. Dazu gehört allerdings die Demut, zu sagen: Man sollte das lassen, wovon man die Bevölkerung mittelfristig nicht überzeugen kann. So dürfte man heute beispielsweise nicht die Abschaffung der Nationalstaaten fordern, denn die Bevölkerung will das nicht.

ZEIT: Brauchen wir ein bundesstaatliches Europa?

Schäuble: Ja. Europa wird aber nicht zu einem Bundesstaat werden, wie es derzeit die Bundesrepublik Deutschland ist. Dieses Modell geht ja noch von der nationalstaatlichen Souveränität aus. Die bundesstaatliche Ordnung in Europa wird ein Stück weit ein Aliud sein. Ich glaube, dass in der europäischen Einigung im Kern die Überzeugung steckt, dass der Nationalstaat allein nicht den am besten geeigneten Rahmen für unser Zusammenleben bildet. Und ich bin davon überzeugt, dass es der Politik gelingen wird, ein bundesstaatliches Europa zu vermitteln.

Zeit: Wenn Europa in Wirtschaftsfragen künftig mit einer Stimme sprechen soll: Was schwebt Ihnen vor?

Schäuble: Wir haben auf dem EU-Gipfel in Brüssel in der vergangenen Woche eine Vertragsänderung gefordert, die mehr Europa bedeutet. Wir brauchen bessere Instrumente, um den Stabilitätspakt durchzusetzen. Und wir brauchen mehr Koordinierung im Sinne einer Wirtschaftsregierung — auch wenn wir den Begriff nicht so sehr lieben. Das alles fuhrt nicht zu weniger, sondern zu mehr Europa.

ZEIT: Ist Deutschland vielleicht zu groß für Europa — zumal wenn es ökonomisch erfolgreich ist und dann in Brüssel auch noch recht entschieden auftritt?

SCHÄUBLE: Wir sind im europäischen Maßstab relativ groß, das ist wahr. Deswegen müssen wir rücksichtsvoll gegenüber den kleineren Ländern sein. Frankreich ist bevölkerungsmäßig etwas kleiner, flächenmäßig genauso groß, politisch aber in mancher Beziehung größer. Polen wird schneller groß, als man glaubt.

Zeit: Was heißt mehr Rücksicht auf die Kleineren?

Schäuble: Das gilt schon für den Ton. Es ist kompliziert, Entscheidungen in Europa zustande zu bekommen. Deswegen muss man miteinander reden und sich in die Interessenlage anderer hineindenken.

Zeit: Die Bild-Zeitung hat die Griechen aufgefordert, ihre Inseln zu verkaufen, die Welt schrieb, Deutschland sei lange genug „Europas Melkkuh“ gewesen, die FAZ kritisierte Sie, weil Sie „offen zum Rechtsbruch“ aufgerufen hätten. Wie erklären Sie sich diese Aversionen gegenüber Hilfen für Griechenland?

Schäuble: Das sind Überzeichnungen. Das sogenannte bürgerliche Lager — ich halte nichts von diesem Begriff- hat ein hohes Interesse an Stabilität und Solidität. Griechenland hat die Regeln verletzt. Daraus ergibt sich eine gewisse Kritik.

ZEIT: Hinter der sich eine tief sitzende Europaskepsis verbirgt.

Schäuble: Diese Skepsis gibt es, aber sicher nicht nur im bürgerlichen Lager. Schauen Sie mal, was in den Niederlanden los ist. Wahr ist, dass wir eine gewisse Ermüdung haben. Denn erstens glauben die Menschen nicht, dass wir mehr Europa brauchen — das zu erklären ist aber die Aufgabe der politischen Führung. Zweitens gibt es unbestreitbar Mängel.

ZEIT: Ist sich die deutsche Führung denn wirklich einig, dass wir mehr Europa brauchen?

SCHÄUBLE: Nicht immer. Aber das ist in einer Demokratie auch nicht schädlich. Wir wollen ja Pluralismus. Ich vertrete die Auffassung: Wir müssen diesen europäischen Weg klug und entschieden weitergehen. Deswegen muss man erklären, dass der Rückfall in nationalstaatliche Lösungsansätze tendenziell falsch ist. Dass Angela Merkel so massiv für Vertragsänderungen eintritt, heißt ja nicht, dass sie weniger Europa will, sondern nur, dass sie ein effizienteres, ein handlungsfähigeres Europa will.

Zeit: Wie viel müsste Deutschland maximal zahlen, sollte es mit Unterstützung des IWF zu einer Rettungsaktion für Griechenland kommen?

SCHÄUBLE: Das ist eine Frage, die ein Finanzminister klugerweise nicht beantwortet, weil wir davon ausgehen, dass dieser Fall nicht eintritt. Der Beitrag des IWF ist jedenfalls begrenzt.

ZEIT: Wäre der IWF finanziell ganz draußen geblieben — so wie Sie das ursprünglich wollten -, hätten sich die EU-Länder nach unseren Informationen zehn Milliarden Euro teilen müssen. Auf Deutschland wären damit 2,5 Milliarden zusätzlich entfallen. Umgekehrt heißt das: Den IWF einzubeziehen hat Deutschland ein wenig Geld gespart, aber sehr viele Länder gegen uns aufgebracht. War es das wert?

SCHÄUBLE: Eigentlich müsste ein „Wahrungsraum seine Probleme selber lösen. Deshalb sollte der IWF die Ausnahme sein. In der deutschen Bevölkerung — das zu erwähnen ist ja nicht unanständig — ist die Meinung weitverbreitet, dass eine Lösung unter Einbeziehung des IWF eher vertretbar ist als ohne ihn. Der IWF wird wahrgenommen als eine Institution, die bewiesen hat, dass sie auf die Sanierung in einer Krise hinwirken kann. Darin steckt ein vertrauensbildendes Element. Insofern ist das Argument schon gewichtig.

Zeit: Was macht die wochenlange massive Kritik der Medien mit einer Regierung?

SCHÄUBLE: Dieselben Medien haben jetzt die Kanzlerin gefeiert.

Zeit: Weil man womöglich nicht verstanden hat, was da in Brüssel beschlossen wurde?

Schäuble: Das will ich nicht unterstellen. Ich halte nichts von Medienkritik.

ZEIT: Herr Schäuble, die FDP bewegt sich auf einmal beim Thema Steuerreform – sowohl was den Zeitpunkt als auch den Stufentarif betrifft. Wie interpretieren Sie das?

SCHÄUBLE: Gar nicht. Wir haben verabredet, dass wir Entscheidungen ausgehend vom Koalitionsvertrag treffen. Konkret wird sich das im Zusammenhang mit der Aufstellung des Haushaltes 201 1 und der mittelfristigen Finanzplanung im Lichte der dann zeitnahen Daten entscheiden. Wir warten die Steuerschätzung Anfang Mai ab. Daran halte ich mich.

Zeit: Sie betonen die Bedeutung des Etats 2011. Die Haushaltsanmeldungen liegen deutlich über Plan. Wieso haben ausgerechnet die Minister einer bürgerlichen Regierung nicht verstanden, wie sorgsam man künftig mit Geld umgehen muss?

Schäuble: Es ist das Normalste der Welt, dass Ministerien bei ihrer Haushaltsanmeldung zunächst einmal mehr fordern, als hinterher möglich sein wird. Alle sind betroffen, und insofern kann ich generell sagen: Damit werden wir nicht hinkommen.

ZEIT: Wieso akzeptieren Sie normale Verhaltensweisen in außergewöhnlichen Zeiten?

SCHÄUBLE: Ich akzeptiere sie gar nicht, die Verhandlungen fangen erst an. Die Haushaltsspielräume werden von Jahr zu Jahr enger. Wir müssen jedes Jahr zehn Milliarden mehr Defizit abbauen. Ich habe das im Kabinett mit starker Unterstützung der Bundeskanzlerin erläutert. Niemand hat widersprochen.

DAS GESPRÄCH FÜHRTEN MARC BROST UND MATTHIAS GEIS