„Wir können nicht allen Menschen helfen“ Interview in der Berliner Morgenpost, 12.07.2018



Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble über die Krise der Union, die Kanzlerin, Horst Seehofer und US-Präsident Donald Trump

KERSTIN MÜNSTERMANN UND JÖRG QUOOS

BERLIN – Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hat bereits eine lange politische Karriere hinter sich. Doch der erbitterte Streit zwischen CDU und CSU über die Migration hat auch ihn tief bewegt. In der Woche danach ist er vor allem erleichtert, dass es vorbei ist. Seine Vermittlung trug entscheidend dazu bei.

Berliner Morgenpost: Die Vorsitzenden von CDU und CSU haben fast die Union und die Regierung gesprengt, weil sie sich nicht über Kontrollen und Rückweisungen an drei von 90 deutsch-österreichischen Grenzübergängen einigen konnten. Was ist bitte mit der Union los?

Wolfgang Schäuble: In der Tat scheint der Anlass, um den sich der Streit scheinbar drehte, die möglichen Folgen nicht zu rechtfertigen. Aber dahinter verbirgt sich ein grundlegenderer Interessenkonflikt als der zwischen CDU und CSU oder zwischen zwei Personen. Joachim Gauck hatte ihn benannt: „Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt.“ Wir müssen im Rahmen unserer Möglichkeiten jedem helfen, der hilfebedürftig ist. Aber wir können nicht allen Menschen helfen. Diesen Widerspruch in einer Zeit aufzulösen, in der die Migration eines der größten Stabilitätsrisiken für Länder beispielsweise in Afrika darstellt, ist das Problem. Und manchmal macht sich der Streit an einem Punkt fest, den man hinterher nicht mehr genau erkennen kann. Es ist gut, dass er beigelegt ist.

Sie haben im CDU-Präsidium vor einem Auseinanderbrechen der Fraktionsgemeinschaft gewarnt, sprachen von einem „Blick in den Abgrund“ und erinnerten öffentlich an die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin …

Der Konflikt war dramatisch, wir haben alle in den Abgrund geschaut. Daher habe ich an die Richtlinienkompetenz erinnert. Wenn in einer solch heftigen Kontroverse ein Mitglied der Bundesregierung exakt das Gegenteil von dem tut, was die Bundeskanzlerin vertritt, dann kann sie aus der Würde des Amtes heraus nicht anders handeln, als das Kabinettsmitglied zu entlassen.

Haben Sie mit dieser Bemerkung nicht Angela Merkels Handlungsspielraum eingeschränkt?

Die Würde des Amtes ist die Würde des Amtes, und wir müssen damit – auch die Inhaberin des Amtes – behutsam umgehen. Ein solch offener Konflikt gegen die Meinung der Kanzlerin, die gegen einseitige Zurückweisungen und für eine europäische Lösung argumentiert hat, war eine Frage der Richtlinie. Die Fraktionsgemeinschaft war in Gefahr. Deswegen habe ich an den historischen Streit von Kreuth 1976 erinnert. Wenn CDU und CSU sich trennen würden, hätte das schwerwiegende Folgen, nicht nur für die Union, sondern für die Stabilität dieser Republik.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass Sie am Ende zwischen Kanzlerin und Innenminister erfolgreich vermittelt haben. Wie haben Sie das geschafft?

In der gemeinsamen Fraktionssitzung gab es eine einmütige Position der Abgeordneten von CDU und CSU: Eine Trennung kommt überhaupt nicht infrage. Daraufhin habe ich gesagt: Wenn ich helfen kann, helfe ich gerne. Die beiden Handelnden hatten sich unter vier Augen zuvor getroffen und waren in der vertrackten Situation offenbar nicht weitergekommen. Wenn sich ein Streit so zuspitzt, muss man eine Lösung finden, bei der jeder sein Gesicht wahren kann. Daher mein Angebot, ob ein Gespräch nicht leichter wäre, wenn noch ein Älterer dabei ist. Und ich bin nun mal der Dienst- und Lebensälteste in der Union…

In der Krise wurde – wie schon so oft – Ihr Name als möglicher Kanzler ins Spiel gebracht. Nervt Sie das oder schmeichelt es?

Die Eitelkeit ist ja eine menschliche Eigenschaft, die man immer auch als Versuchung sehen muss. Das will ich nicht bestreiten. Aber ich habe nicht verlauten lassen, dass sich drei Menschen getroffen haben. Ich habe hinterher gehört, dass es den Knoten gelöst hat. Meine Rolle als Parlamentspräsident ist die eines Vermittlers, aber ich dränge mich nicht auf…

… dann hat sich die SPD eingeschaltet, mit dem Ergebnis, dass Union und SPD „Transitzentren“ jetzt „Transitverfahren“ nennen. Mit Verlaub, Herr Präsident: Für wie blöd hält die Politik mittlerweile den Wähler?

Ich glaube nicht, dass die Politik die Bürger für blöd hält, die Frage weise ich zurück. Die SPD war in keiner einfachen Situation, sie hat den Streit nicht verursacht, aber sie war betroffen. Dass man dann eine gemeinsame Formulierung findet, ist in Ordnung. Jeder der Beteiligten weiß aber auch: Dieser Streit hat das Ansehen von Politik nicht vermehrt.

Auf der einen Seite die Kanzlerin, die die Partei immer weiter zur Mitte führt – und auf der anderen Seite die Söder-CSU, die mit der AfD um Wähler konkurriert. Ist die Union überdehnt?

Globalisierung und Digitalisierung haben nicht nur in Deutschland die Bindekraft und die Integrationsfähigkeit der Volksparteien geschwächt. Der Satz von Franz Josef Strauß, dass es rechts neben der Union keine demokratisch legitimierte Kraft geben darf, gilt noch. Viele kleinere rivalisierende Parteien bilden nur noch einen Bruchteil von Interessen ab. Ich hoffe, dass sich die Union wieder auf ihre Integrationskraft besinnt und die Vielfalt von Interessen berücksichtigt. Wir sollten den Menschen nicht weismachen, es gebe in einer globalisierten Gesellschaft einfache Antworten. Das überlassen wir den Demagogen, die Dinge versprechen, von denen sie wissen, dass sie sie gar nicht erfüllen können.

Können Angela Merkel und Horst Seehofer überhaupt noch eine ganze Legislaturperiode vertrauensvoll zusammenarbeiten?

Letztlich ringen beide um dieselben Fragen. Wenn man das weiß und sich auf eine gemeinsame Grundlage verständigt, dann kann man auch zu Lösungen kommen. Aber die Lasten, die man in persönlichen Verhältnissen mit sich trägt, sind manchmal nicht ganz leicht …

… davon können Sie ein Lied singen …

… ja, das kann ich, wie viele andere auch. Es wird derzeit häufiger das Bild gezeigt, wie die CDU-Vorsitzende auf dem Parteitag der CSU 2015 auf der Bühne steht und Seehofers Rede zuhören muss. Das war eine grenzwertige Situation. Auch da ging es um die Frage, was die Würde des Amtes verträgt und was nicht. Ich glaube, dass Horst Seehofer begriffen hat, dass das schwierig war. Aber so sind wir Menschen. Ich selbst habe inzwischen gelernt, dass einem so etwas passieren kann. Jemandem, der sich so gut kontrollieren kann wie Frau Merkel, passiert das eher selten, aber jemandem, der sich nicht so gut kontrollieren kann, häufiger.

Wie konnte es so weit kommen, dass der Streit auch Europa zerlegt?

Europa bewegt sich nur unter Druck, und Frau Merkel hat ja die letzten Wochen klug genutzt, um mehr Druck zu erzeugen. Wir sind nicht am Ziel, aber auf einem guten Weg. Klar ist, dass Europa ohne offene Grenzen seine Kernbotschaft verliert. Daher ist der Außengrenzschutz wichtig. Es gibt kaum mehr Streit darüber, dass nicht alle Menschen nach Europa kommen können. Das heißt aber auch, dass wir stärker mit den Herkunftsländern kooperieren müssen und die Türkei, aber auch Malta, Griechenland und Spanien unterstützen müssen.

Und Italien?

Ich habe Verständnis für die Forderung der Italiener nach mehr Solidarität. Doch die ist keine Einbahnstraße.

Wie verhält es sich mit osteuropäischen EU-Partnern, die sich einer gemeinsamen Lösung verweigern?

Mit diesen Ländern muss man die Frage der Migration diskutieren, aber immer mit gegenseitigem Respekt. Ich finde wirklich, dass wir Westeuropäer keinen Grund haben, den Polen zu erklären, was Demokratie ist.

Gehört zum Respekt nicht auch, dass man die Regeln der Gemeinschaft akzeptiert?

Ja, aber was die Regeln bedeuten, darüber muss man reden. Lassen Sie uns nicht den Fehler machen, in die Gefahr zu geraten, dass die Überwindung des Eisernen Vorhangs rückabgewickelt wird. Ich rate dazu, Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn sehr ernst zu nehmen und sie – gemeinsam mit Frankreich – näher an uns zu binden.

Luxemburgs Außenminister Asselborn sieht keine Zukunft für Mitgliedsländer, die gemeinsame Regeln missachten…

Nun, die Kommission sanktioniert Fehlverhalten ja bereits. Manchmal denke ich, dass auch bei Außenministern das Sprichwort „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ gelten könnte. Jeder sollte zuerst vor seiner Tür kehren.

Sie stehen für einen stolzen, selbstbewussten Parlamentarismus. Sind Nachtsitzungen, in denen sich übermüdete Streithähne gegenseitig über den Tisch ziehen wollen, noch gelebte Demokratie?

Die Regierung muss sich gemeinsame Positionen nicht nur in öffentlichen Diskussionen erarbeiten, sondern darf das auch hinter verschlossenen Türen. Danach muss man aber die Diskussion transparent machen. Das wird nicht immer gewürdigt.

Sie sind in erster Amtszeit Bundestagspräsident. Wie erleben Sie die AfD ? Wird angemessen mit ihr umgegangen?

Im Plenum haben wir einen Umgang gefunden. In Parlamentsdebatten gefällt mir inhaltlich vieles nicht, was AfD-Abgeordnete sagen, aber wir haben alle dieselben Rechte und Pflichten. Wer sich nicht an die Regeln hält, der wird sanktioniert. Dass es immer noch keinen Vizepräsidenten der AfD gibt, liegt auch an der Art und Weise der Kandidatur. Man sollte besser mit den anderen Fraktionen vorher sondieren, wer gewählt werden könnte.

Was ist Ihre rote Linie?

Beleidigungen und Dinge, die gegen das Gesetz verstoßen, etwa Volksverhetzung.

Der amtierende US-Präsident Donald Trump behandelt Deutschland wie einen Lakaien, wirft der Bundesregierung vor, die Sicherheit des Bündnisses zu untergraben, und behauptet öffentlich Dinge, die frei erfunden sind. Wie muss Deutschland mit diesem Präsidenten umgehen?

Mit einer Mischung aus Respekt und Selbstbewusstsein. Der amerikanische Präsident ist vom Volk gewählt, das müssen wir respektieren.

Auch wenn Trump seinen Partnern keinen Respekt zollt?

Wir können doch unser Verhalten nicht davon abhängig machen. Wenn er falsche Dinge sagt, dann muss man sie unmissverständlich richtigstellen. Der US-Präsident hat eine andere Form von Kommunikation, die ist mir fremd, und sie gefällt mir auch nicht. Doch in der Frage der militärischen Verteilungslasten hat er nicht ganz unrecht. In der Tat haben wir uns verpflichtet, die Militärausgaben bis 2024 auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Derzeit ist nicht sicher, ob das erreicht wird. Ich bin kein großer Fan von Trump, aber diese kritische Position kann ich verstehen.

Mesut Özil hofiert Erdogan, Lothar Matthäus biedert sich bei Wladimir Putin an. Was denken Sie, wenn Sie die Bilder sehen?

Ich habe das Bild von Mesut Özil und Ilkay Gündogan bei Präsident Erdogan gesehen und gleich überlegt, ob das eine gute Idee war. Fußball besitzt eine unglaubliche identitätsstiftende Kraft, gleichzeitig trägt der Sport sehr zur Integration bei. Özil ist ein begabter Nationalspieler, ohne Frage. Dass aber auch atmosphärische Dinge wichtig sind, hätten er oder seine Berater besser wissen müssen. Es war nicht geschickt. Aber dass man jetzt daraus so ein Theater macht, ist unnötig. Gäbe es diese Diskussion auch, wenn die deutsche Mannschaft nicht ausgeschieden wäre?

Der Dienstälteste Wolfgang Schäuble Der Freiburger ist seit 1972 im Bundestag und damit der dienstälteste Parlamentarier. Der Vater von vier Kindern war in unterschiedlichen Positionen in der Bundesregierung tätig, unter anderem als Innenminister, Kanzleramtschef und in den vergangenen beiden Legislaturperioden als Finanzminister. 1990 wurde er bei einer politischen Veranstaltung Opfer eines Attentats, ist seitdem auf den Rollstuhl angewiesen. Von 1998 bis 2000 führte er die CDU als Vorsitzender. „Politik ist faszinierend, ich mache sie bis heute mit Freude“, schreibt das CDU-Präsidiumsmitglied auf seiner Homepage. Seit 2017 ist der 75 Jahre alte Politiker Bundestagspräsident.