Corona und Klimawandel sollten uns lehren, „ein bisschen langsamer zu machen“, mahnt Wolfgang Schäuble. Der Bundestagspräsident beklagt Ausbeutung im Namen des freien Welthandels. Und er nimmt Abschied von einem seiner zentralen politischen Projekte
VON CLAUDIA KADE UND DAGMAR ROSENFELD
Riesig ist der Tisch, an dem Wolfgang Schäuble zum Interview sitzt, die Abstandsregeln sind problemlos einzuhalten. Der 78-jährige Nestor der CDU möchte, dass Deutschland tiefgreifende Lehren aus der Pandemie zieht. Der Bundestagspräsident und frühere Finanz- und auch Innenminister hat eine eigene Vorstellung von Wohlstand in der Post-Corona-Zeit.
WELT: Die romantisch Veranlagten sehen in der Corona-Krise eine Chance zur Besinnung. Auch Sie, Herr Schäuble, scheinen die bisherigen Prioritäten zu hinterfragen, wenn Sie sagen, wir hätten es mit dem Kapitalismus übertrieben. Was haben wir denn übertrieben?
WOLFGANG SCHÄUBLE: Das Coronavirus zeigt uns die Schattenseiten der Globalisierung. Pandemien hat es in der Geschichte der Menschheit immer gegeben, die Spanische Grippe zum Beispiel hat mehr Menschenleben gekostet als der Erste Weltkrieg auf den Schlachtfeldern. Aber wohl noch nie hat sich eine Pandemie weltweit so rasant ausgebreitet wie Corona. Weil in der Globalisierung alles mit allem zusammenhängt, Reisen, Handelsketten, Warenaustausch. Selbst das Ungeziefer ist global geworden, ich habe mich schon vor zwei Jahren in unserer Wohnung über asiatische Stinkwanzen geärgert.
Und jetzt ist es das Virus, das um die Welt reist …
Wir müssen den Schock der Pandemie nutzen, damit das unglaubliche Schwungrad des Kapitalismus und der Finanzmärkte nicht weiter überdreht. Alles, was Sie übertreiben, ist gefährlich. Wenn wir Regulierungen übertreiben, landen wir in der Diktatur. Wenn wir es mit den Freiheiten übertreiben, dann zerstört die Freiheit sich selber. Auch wenn wir irgendwann einen Impfstoff haben: Es wird nicht so weitergehen können, wie es vor Corona war. Und deswegen müssen wir schon jetzt an Veränderungen arbeiten.
Welche Veränderungen meinen Sie?
Das Virus hat uns gelehrt, dass wir mehr Resilienz brauchen. Der freie Welthandel und Lieferketten haben ihre Vorzüge. Aber es kann nicht sein, dass sie uns in Abhängigkeiten bringen, die dazu führen, dass in Deutschland die Grundstoffe für Antibiotika fehlen. Wir haben im Globalisierungsrausch verlernt, Vorsorge zu treffen. Nehmen Sie zum Beispiel den Bevölkerungsschutz: Nach dem Ende des Kalten Krieges hat er kaum noch eine Rolle gespielt. Wir haben geglaubt, die Zeit der großen Katastrophen sei vorbei. Und jetzt zeigen uns Corona und auch der Klimawandel, dass dem nicht so ist. Beide lehren uns, dass wir ein bisschen langsamer machen sollten.
Was heißt das konkret für eine Post-Corona-Welt?
Die Rolle der Finanzmärkte ist schon vor Corona eine fragwürdige gewesen. Es ist doch absurd, dass für Investitionen nicht mehr entscheidend ist, ob sie Fortschritt bringen, sondern ob sie den kurzfristigen Gewinn mehren. Um eines ganz klar zu sagen: Der freie Zahlung- und Devisenverkehr kann nicht länger eine Rechtfertigung für Steueroasen sein, die in Wahrheit Regulierungsoasen sind. Sie stehen exemplarisch für den Übergang von einem überzogenen Finanzmarkt zu schwerer Kriminalität – und wir lassen das zu. Das geht so nicht weiter.
Ist es das, was Sie mit Übertreibungen des Kapitalismus meinen?
Ich meine, dass der Kapitalismus, wie wir ihn derzeit betreiben, auf Kosten der ohnehin Schwachen geht. Unter dem Stichwort „freier Welthandel“ beuten wir Arbeitskräfte in Ländern wie Bangladesch in einer menschenunwürdigen Weise aus. Auch wenn die Welthandelsorganisation WTO nun versucht, Standards für bessere Arbeitsbedingungen einzuziehen – Fakt ist, dass wir, also der Westen, diese Menschen zu inakzeptablen Löhnen für uns arbeiten lassen. Natürlich können wir nicht das Ideal zugrunde legen, dass alle Menschen auf der Welt in gleichen Lebensverhältnissen leben werden. Aber die langfristige Frage wird sein, wie wir Globalisierung so gestalten, dass gewalttätige Entwicklungen nicht zunehmen.
Unseren Wohlstandsbegriff haben wir bisher über Wachstum definiert höher, schneller, weiter. Was macht denn aus Ihrer Sicht Wohlstand aus?
Wohlstand ist ein komplizierter Begriff. Man kann ihn natürlich als „Wohlstand für alle“ im Sinne Ludwig Erhards definieren, dann ist das wunderbar und einfach. Mir allerdings klingt Wohlstand immer ein bisschen zu sehr nach Bruttoinlandsprodukt. Und das ist nicht der pfiffigste Indikator für das, was das Wohlbefinden einer Gesellschaft ausmacht. Auch Dennis Snower, der frühere Chef des Weltwirtschaftsinstituts in Kiel, kritisiert, dass unser Bruttoinlandsprodukt falsch ermittelt wird. Nur die Summe von Gütern und Dienstleistungen zusammenzurechnen, ist doch sehr schlicht. Schließlich steigert jeder Autounfall das Bruttosozialprodukt, denn hinterher hat entweder die Reparaturwerkstatt etwas zu tun oder die Autohersteller, weil ein neuer Wagen gekauft wird.
Im Moment jedenfalls versucht sich die Bundesregierung als Wahrerin des wirtschaftlichen und gesundheitlichen Wohlstands. Forciert das nicht eine Anspruchshaltung an den Staat, die er gar nicht erfüllen kann?
Das sind auch Übertreibungen.
Wer übertreibt, der Staat oder die Bürger?
Ich habe schon im April gesagt, dass der Staat zwar für alle die bestmögliche gesundheitliche Versorgung zu gewährleisten hat, dass man aber den Glauben, der Staat könne Leben garantieren, nicht überziehen dürfe. Denn es gibt nur eine einzige Garantie, nicht sterben zu müssen, und die ist: Sie dürfen nicht geboren werden. Die Erwartungen der Menschen an den Staat sind doch auch eine Reaktion darauf, wie sowohl von politischer als auch medialer Seite öffentlich kommuniziert wird. Die große Mehrheit will doch nicht, dass die Dinge wie in China geregelt werden. Es wirkt, als seien die Chinesen in der Pandemiebekämpfung besser als wir, aber der Preis dafür ist die totale Kontrolle. Corona nimmt uns Deutsche, uns Europäer einmal mehr in die Pflicht, in diesem 21. Jahrhundert zu zeigen, dass eine freiheitlich-rechtsstaatliche Ordnung das bessere Modell ist. Der Wettbewerb ist da alles andere als entschieden.
Apropos Demokratie: Haben Sie das Gefühl, dass Ihr Appell fruchtbar gewesen ist, wonach das Parlament sich wieder mehr einbringen sollte in der Corona-Politik?
Ja, das glaube ich. Und ich bin sicher, dass die Beteiligungsrechte, die wir jetzt in der ersten Lesung des Infektionsschutzgesetzes hatten, im parlamentarischen Verfahren noch weiter gefestigt werden. Damit bekommen wir wieder das, was das Parlament leisten muss: streitige und offene Debatten. Dann sehen auch die Menschen, die Verschwörungsideologien anhängen: Es wird alles im Parlament vertreten – und am Ende natürlich durch Mehrheit entschieden. Das ist das Grundprinzip der Demokratie, das man akzeptieren muss.
Die milliardenschweren Hilfsprogramme, die täglich neu hinzukommenden Rettungspakete für einzelne Branchen – weckt das nicht eine Vollkaskoanspruchshaltung gegenüber dem Staat?
Mich ärgert diese Politik-Sprache schon, wenn es heißt, da müssen wir Geld in die Hand nehmen. Entschuldigung, aber es ist die Gesellschaft, die den Staat finanziert. Und der Staat steht in der Verantwortung, die Balance zu wahren. Damit das klar ist: Ich kritisiere nicht die einzelnen Maßnahmen, ich warne nur vor Übertreibung. Wer die Illusion schürt, Geld sei unbegrenzt, der nimmt der Gesellschaft die Eigenverantwortung. Wenn ich mir vorstelle, wir wären im Schlaraffenland, wo einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen, bin ich mir sicher, dass ich schon bei der zweiten, spätestens bei der dritten gebratenen Taube einen Brechreiz bekommen würde.
Das Gegenstück zur Vollkaskomentalität ist die Risikobereitschaft. Sehen Sie die Gefahr, dass diese Risikobereitschaft, die man fürs Unternehmertum braucht, jetzt unter die Räder kommt?
Risiken einzugehen, auch unternehmerische Risiken, Leistung zu zeigen, das ist in der Tat ein Urdrang des Menschen. Risiko- und Leistungsbereitschaft sollten wir durch die Politik nicht zu sehr zudecken. Leistung zu bringen, zählt doch zu den Dingen, die den Menschen Zufriedenheit verschaffen und die für den subjektiven Wohlstand am Ende wichtig sind. Sie sehen das auch beim Behindertensport: wenn Sie das Glück erleben, das diese Menschen darin empfinden, ihre persönliche Leistung zu bringen. Oder bei geistig Behinderten, wenn sie Theater spielen. Dieses Streben ist dem Menschen immanent, und das müssen wir in der Politik bei allen gesetzgeberischen Entscheidungen immer bedenken. Wird die Finanzierung der immensen Hilfsprogramme und Rettungspakete ohne Steuer- und Abgabenerhöhungen auskommen, oder genügt es, auf ein Anziehen der Konjunktur zu hoffen? Ich bin immer gut damit gefahren, nicht in den Verantwortungsbereich meiner Nachfolger reinzureden. Und so halte ich es auch mit dem jetzigen Bundesfinanzminister.
Wenn Sie dem Finanzminister nicht reinreden wollen, dann vielleicht der SPD. Dort mehren sich die Stimmen, die Schuldenbremse wieder aus dem Grundgesetz zu entfernen.
Dazu kann ich nur sagen, mein Vorgänger im Bundesfinanzministerium, Peer Steinbrück von der SPD, hat sich damals sehr für die Schuldenbremse eingesetzt. Und Olaf Scholz, mein Nachfolger, hat mehrfach erklärt, dass er ganz froh sei, dass wir diese Regelung haben. Die Schuldenbremse widerspricht ja auch nicht den jetzigen Corona-Hilfsmaßnahmen. Aber grundsätzlich ist sie Ausdruck dessen, dass alles begrenzt sein muss, weil wir eine hohe Verantwortung auch für kommende Generationen haben.
Als Bundesfinanzminister sind Sie über die Vorgaben der Schuldenbremse hinausgegangen, Ihre Maßgabe war die schwarze Null. Müssen wir zu dieser Politik, der Null-Neuverschuldung zurückkehren?
Das eigentlich Wichtige ist die Schuldenbremse im Grundgesetz, die schwarze Null war vor allem ein Symbol. Ich erinnere mich noch, wie wir Anfang 2013 im Leitungskreis des Bundesfinanzministeriums angesichts unserer Ausgabendisziplin und der starken Konjunktur darüber diskutiert haben, dass wir eine Nullverschuldung erreichen können. Da stand dann die Frage im Raum, ob wir dieses Ziel überhaupt öffentlich nennen sollen. Wir haben uns dafür entschieden, weil die Wirkung der schwarzen Null kommunikativ wichtig war und die richtige Richtung vorgab. Man sollte sie aber nicht überhöhen.
Die schwarze Null hatte also Ihre Zeit und Sie haben von ihr Abschied genommen?
Sie ist im Augenblick nicht entscheidend. Wenn die Zeiten wieder andere sind, wird man wieder zu einer anderen Haushaltspolitik zurückkehren müssen. Wir im Finanzministerium jedenfalls waren damals stolz auf diesen Erfolg, wie Sie an dem Foto hinter meinem Schreibtisch sehen können …
Das Foto zeigt die Mitarbeiter des Bundesfinanzministeriums, aufgestellt zu einer großen Null …
Damit haben mich die Kollegen zu meinem Abschied überrascht. Das hat mich sehr gerührt, weil es zeigt, dass wir ein Team gewesen sind. Und das wiederum macht ein Stück meines persönlichen Wohlstands aus.
Zur Person
Wolfgang Schäuble sitzt seit 48 Jahren im Deutschen Bundestag, seit 2017 ist der 78-Jährige Parlamentspräsident. Zuvor war der promovierte Jurist Bundesfinanzminister und Bundesinnenminister sowie Unions-Fraktionsvorsitzender und auch CDU-Parteichef.
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