Namensartikel für die Mitgliederzeitschrift der CDU Baden-Württemberg
Der Moment ist unvergesslich! Am 9. November hatte Rudolf Seiters, der damalige Chef des Kanzleramtes, die Fraktionsvorsitzenden im Bundestag und mich als Bundesinnenminister zu einer Besprechung ins Kanzleramt gebeten. Wir berieten darüber, wie die vielen Übersiedler aus der DDR in der Bundesrepublik untergebracht werden können. Plötzlich erschien Eduard Ackermann, der Leiter der Abteilung Kommunikation im Kanzleramt. Er brachte eine Tickermeldung, eine per Fernschreiben eingegangene Agenturmeldung. Darin hieß es, dass die DDR am Abend die Mauer aufmachen würde. Wir konnten es zunächst nicht glauben, aber die Meldungen waren eindeutig.
Im Bundestag wurden die laufenden Haushaltsberatungen unterbrochen. Da Helmut Kohl zu einem offiziellen Besuch in Warschau weilte, gab der Chef des Kanzleramtes Rudolf Seiters im Plenum eine kurze Erklärung ab, danach die Vorsitzenden der drei Fraktionen: Alfred Dregger, Hans-Jochen Vogel und Wolfgang Mischnick. Spontan erhoben sich danach zunächst drei Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion – Hermann Josef Unland aus Nordrhein-Westfalen, Ernst Hinsgen von der CSU und der kürzlich verstorbene Franz Sauter aus Rottweil – und stimmten das Deutschlandlied an. Die meisten Abgeordneten stimmten mit ein, andere auf der linken Seite des Hauses von Grünen und Teilen der SPD verließen unter Protest die Sitzung. Viele Abgeordnete hatten Tränen der Rührung in den Augen.
Den Rest des Abends verbrachten wir vor den Fernsehapparaten, um das Unglaubliche in Berlin zu verfolgen. In allem Jubel war aber auch die Sorge verbreitet, wie es denn weitergehen könnte – ob die Sicherheitsorgane der DDR wirklich stillhalten würden, von der Reaktion der dort stationierten sowjetischen Soldaten ganz zu schweigen. Dass es eine „Friedliche Revolution“ bleiben würde, wusste damals noch niemand.
Im Rückblick fügen sich viele einzelne Entwicklungen zusammen, die schließlich zum Mauerfall führten: Die Wahl des polnischen Papstes 1978, Lech Walesas Triumph mit dem Runden Tisch in Polen, Michail Gorbatschows Reformkurs in der Sowjetunion, die Grenzöffnung in Ungarn und – nicht zuletzt – die erstarkte Opposition im damaligen Ostblock, auch in der DDR. Nach den gefälschten Kommunalwahlen im Frühjahr 1989 hatten sich immer mehr DDR-Bürger getraut, ihren Unmut offen zu zeigen, und Reformen gefordert. Eine wachsende Zahl stellte einen Ausreiseantrag und wollte ihre Heimat Richtung Westen verlassen. Die Abstimmung mit den Füßen brachte die SED-Spitze mindestens ebenso stark in Bedrängnis wie die Rufe nach Veränderung. Ihr Staat war politisch und wirtschaftlich bankrott.
Vernon Walters, der damalige amerikanische Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland, war einer der wenigen, der die Zeichen des Verfalls richtig gedeutet hatte: Bereits im Frühjahr 1989 hatte er prophezeit, in seiner Amtszeit als Botschafter in Bonn käme die Wiedervereinigung – eine gewagte These, die von einer amerikanischen Zeitung auch gleich zum Aufmacher gemacht wurde. Ich hatte ihn zurückgefragt, wie lange er denn in Deutschland auf Posten sein werde? Er sagte: drei Jahre. Wie vielen anderen damals schien auch mir diese Vorhersage kühn. Aber dann ging alles doch viel schneller.
In der Bundesregierung hatten wir die Veränderungen in der DDR natürlich aufmerksam verfolgt. Und wir waren besorgt über die Zuspitzung der Lage. Angesichts der Möglichkeit, dass der SED-Staat die „chinesische Lösung“ versuchen könnte, also eine gewaltsame Niederschlagung der Freiheitsbewegung wie im Juni in Peking, übten wir uns in Zurückhaltung. Die Bundesregierung bemühte sich, die Lage nicht weiter eskalieren zu lassen. Helmut Kohl zeichnete sich in dieser Phase durch Augenmaß und Umsicht aus. Er spürte die moralische Verpflichtung, den Flüchtlingen zu helfen. Als die Zahl der Ausreisewilligen im Sommer 1989 weiter stieg, drängte Kohl auf eine Lösung.
In seinem Urlaub am Wolfgangsee verfasste er einen Brief an Erich Honecker, in dem er offen die Motive der überwiegend jungen Ausreisewilligen aufzählte, die in der DDR für sich keine Perspektive mehr sehen würden. „Dies zu ändern liegt ausschließlich in der Verantwortung der Deutschen Demokratischen Republik“, schrieb Kohl – wohl wissend, dass Honecker diese Bemerkung als „Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR“, also als übergriffig empfinden würde.
Der SED-Generalsekretär hatte stets betont, dass die Bundesregierung nicht für Bürger der DDR zuständig sei, und auf der Souveränität beider deutscher Staaten bestanden. Kohls Versuch, mit Honecker zu telefonieren, war gescheitert, der Staats- und Parteichef war „aus gesundheitlichen Gründen“ nicht zu erreichen.
Unterdessen nahmen immer mehr DDR-Bürger „Urlaubsreisen“ nach Ungarn, die bundesdeutsche Botschaft in Budapest war längst überfüllt – schließlich waren auch die Vertretungen in Warschau und Prag besetzt. Der berühmte Auftritt von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher mit Kanzleramtsminister Rudolf Seiters auf dem Balkon der Prager Botschaft, der Jubel mehrerer tausend Menschen über die Ausreiseerlaubnis, die gespenstische Fahrt der verschlossenen Züge mit Flüchtlingen durch die DDR – auch dies sind Facetten der Erinnerung an das Jahr 1989.
Ein weiteres untrügliches Zeichen des Machtverfalls des Regimes in Ost-Berlin waren die Massenverhaftungen rund um die Feierlichkeiten zum 40. Republikgeburtstag: Während die Partei- und Staatsführung im Beisein des sichtlich irritierten Gorbatschow im Palast der Republik die Wirklichkeit ausblendete und feierte, skandierten DDR-Bürger auf den Straßen in Ost-Berlin Rufe nach Reformen. Die Staatssicherheit hatte den Protestzug abgedrängt und war rabiat gegen friedliche Demonstranten vorgegangen. All das in Rechnung gestellt, war der Mauerfall nur der markante Höhepunkt in einer langen Entwicklung, an der viele mutige Menschen aus der DDR teilhatten.
Historisch betrachtet sind der Mauerfall 1989 und das folgende knappe Jahr bis zur Wiedervereinigung die glücklichste Entwicklung in der jüngeren deutschen Geschichte. Auch für mich persönlich gehören diese Monate zu den außergewöhnlichsten und beglückendsten Erfahrungen meines politischen Lebens.