Wer ist Wolfgang Schäuble?



Jan Hildebrand: Wolfgang Schäuble, aus: Der Bundestagspräsident

„Aller Anfang ist schwer“, kokettierte Wolfgang Schäuble (CDU) in seiner Antrittsrede nach der Wahl zum Bundestagspräsidenten. Das bezog sich allerdings nur auf ein paar Schwierigkeiten mit dem Mikrofon. Ansonsten dürfte es selten einen Bundestagspräsidenten gegeben haben, dem der Start in sein Amt leichter gefallen wäre. Eine Einarbeitung brauchte er jedenfalls nicht. Wer sollte den Parlamentsbetrieb denn besser kennen als er?

Schäuble gehört dem Bundestag seit 1972 an, ist der dienstälteste Abgeordnete. Das bietet einen reichen Fundus an Erfahrungen, um das zweithöchste Amt im Staate erfolgreich auszufüllen. Auch wenn der Bundestag der 19. Wahlperiode ein besonderer und keineswegs immer einfacher ist. Sechs Fraktionen gibt es, so viele wie nie zuvor. Und mit der AfD sitzt eine Partei im Bundestag, die das Parlament auch als Plattform für Provokationen nutzt. Es sind aufgewühlte Zeiten, die Debatten sind wieder deutlich streitiger geworden. Das verlangt auch einem Bundestagspräsidenten mehr ab. Und das ist ein Grund, warum sich viele, nicht nur bei CDU und CSU, nach der Bundestagswahl im September 2017 wünschten, Schäuble möge das Amt übernehmen. Wenn jemand über das nötige Ansehen und die Autorität verfügt, für einen respektvollen Umgang zu sorgen und die Würde des Parlamentes zu verteidigen, dann ist er es.

Mit Schäuble ist am 4. Oktober 2017 ein Politiker des Superlativs zum Bundestagspräsidenten gewählt worden. Er befindet sich in seiner 13. Legislaturperiode, saß 19 Jahre auf der Regierungsbank, war Kanzleramtschef, zwei Mal Bundesinnenminister und zuletzt acht Jahre Finanzminister. Der CDU-Politiker ist der Architekt der Deutschen Einheit, Erfinder der schwarzen Null im Bundeshaushalt und Manager der Euro-Krise. Wer so viel erlebt und gestaltet hat, den bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Seine ganze Erfahrung stellt er nun in den Dienst des Bundestages, den er wertschätzt. „Ich bin Parlamentarier aus Leidenschaft“, sagte der Vater vierer Kinder in seiner Antrittsrede. „Im Parlament schlägt das Herz der Demokratie.“ Der Badener fühlt den Puls des Parlaments nun seit mehr als vier Jahrzehnten, häufig hat er den Rhythmus auch selbst mitbestimmt.

Schäuble wurde am 18. September 1942 in Freiburg geboren, die Nöte der Nachkriegszeit hat er noch hautnah miterlebt. Das hat ihn geprägt, genauso wie sein konservativ-evangelisches Elternhaus. Der Vater war CDU-Politiker, und auch Schäuble hat in der Partei früh seine politische Heimat gefunden. Schon während seines Studiums der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in Freiburg und Hamburg trat Schäuble in die Junge Union ein. Nach dem zweiten juristischen Staatsexamen arbeitete er in der baden-württembergischen Steuerverwaltung, zuletzt im Finanzamt Freiburg. Dann begann mit der Wahl 1972 und dem Einzug in den Bundestag eine lange politische Karriere. Willy Brandt war Bundeskanzler, auch damals waren es unruhige Zeiten, es wurde erbittert gestritten, um die Ostpolitik, um den Nato-Doppelbeschluss. Schäuble verbrachte die ersten Jahre im Bundestag in der Opposition, er, damals ein guter Tennisspieler, kümmerte sich zunächst um die Sportpolitik. Aber natürlich drängte es ihn schnell zu anderen, relevanteren Bereichen, ehrgeizig war er immer. Von 1981 bis 1984 war er Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion, die in Regierungsverantwortung kam. Das eröffnete auch Schäuble neue Optionen. Er wurde Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Kanzleramts unter Helmut Kohl.

Von 1989 bis 1991 war Schäuble dann das erste Mal Bundesinnenminister, eine kurze Zeit, aber lang genug, um eines das historisch bedeutsamste Projekt der jüngeren Geschichte mitzugestalten. Schäuble verhandelte mit dem ehemaligen Staatssekretär der DDR, Günther Krause, den Einigungsvertrag. Der Jurist verließ sich dabei vor allem auf sich selbst, arbeitete sich Tag und Nacht in die Rechtslage ein. Der Einsatz lohnte sich, für ihn, für das Land. Die deutsche Einheit sticht auch aus Schäubles langer und ereignisreicher Laufbahn heraus. Der Einigungsvertrag war politisch sein größter Triumph. Doch er konnte ihn nicht lange auskosten.

Am 3. Oktober wurden die zwei deutschen Staaten wieder eins. Und neun Tage später schoss ein psychisch kranker Mann den Bundesinnenminister bei einem Wahlkampfauftritt in einer Gaststätte in Oppenau nieder. Zwei Schüsse feuerte der Attentäter, eine Kugel traf den Kiefer, die andere das Rückenmark. Seitdem ist er vom dritten Brustwirbel abwärts gelähmt und sitzt im Rollstuhl. Im Krankenhaus haderte Schäuble, rang mit sich selbst, soll er aufhören, aussteigen aus der Politik? Seine Familie, auf deren Worte er zählt, drängte ihn dazu. Doch er entschied sich fürs Weitermachen.

Der Theologe Dietrich Bonhoeffer, über den Schäuble sagt, dass seine Gedichte und Texte ihn positiv beeinflusst hätten, hat in seinem Glaubensbekenntnis geschrieben: Der Mensch bekomme in jeder Notlage so viel Kraft, wie er brauche, aber erst dann, wenn er sie brauche. Es wundert nicht, dass Schäuble diese Aussage besonders treffend findet. Bei ihm selbst schien das auch so, nach dem Attentat 1990. Oder im Frühjahr 2010, da war er gerade Bundesfinanzminister geworden, als eine Wunde nicht abheilen wollte. Wochenlang lag er im Krankenhaus. Hundselend ging es ihm, körperlich, aber auch psychisch. Er wurde dringend gebraucht im neuen Amt. Sein Vorgänger hatte ihm einen Haushaltsentwurf mit einem geplanten Defizit von 80 Milliarden Euro vererbt, die Finanzkrise loderte, Griechenland war auf dem Weg unter den Euro-Rettungsschirm. Schäuble wollte all das anpacken, aber der Körper ließ ihn im Stich. Auch da dachte er ans Aufhören – und hielt doch durch.

Daran hat auch Angela Merkel ihren Anteil. Die Kanzlerin rief Schäubles Ehefrau Ingeborg an, sie möge doch bitte ihrem Mann ausrichten, er solle sich die Auszeit nehmen, die er zur Genesung benötige, sie wolle auf jeden Fall an ihrem Finanzminister festhalten. Schäuble hat ihr das hoch angerechnet, bis heute. Die Beziehung der beiden ist eine besondere, nicht einfach, aber auch nicht schlecht. Nach der Wahlniederlage 1998 übernahm Schäuble das Amt des CDU-Vorsitzenden. Merkel war seine Generalsekretärin. Dann erschütterte die Spendenaffäre die Partei. Schäuble musste zugegeben, vom Waffenhändler Karlheinz Schreiber eine Bar-Spende entgegengenommen zu haben. Er trat im Februar 2000 als Vorsitzender der Unionsfraktion und Parteichef zurück. Es war wohl sein politischer Tiefpunkt. Gleichzeitig begann Merkels Aufstieg.

Später bat Schäuble öffentlich um Entschuldigung. Ab 2002 übernahm er als stellvertretender Fraktionsvorsitzender die Bereiche Außen-, Sicherheits- und Europapolitik, bevor ihn Merkel dann in ihrem ersten Kabinett erneut zum Innenminister machte. Die zunehmenden terroristischen Gefahren forderten ihn, und er setzte sich für mehr Befugnisse für die Sicherheitsbehörden ein. Gleichzeitig zeigte er sich auch als Innovator, gründete die Islamkonferenz. Als erster Regierungspolitiker sagte er, dass der Islam Teil Deutschlands sei. Schäuble wurde immer dem konservativen Flügel seiner Partei zugerechnet. Dabei hat er sich aber immer seine Offenheit bewahrt. Veränderungen gehören nicht bekämpft, sondern gestaltet, diese Überzeugung leitet Schäuble.

2009 schließlich machte die Kanzlerin Schäuble zum Finanzminister. Der warnte sie noch, er sei nicht bequem, aber loyal. Beide Zusagen, das sollte sich in den folgenden acht Jahren zeigen, hielt Schäuble ein. Er kritisierte so manche Entscheidung in der Euro-Krise, warb gegen Merkels Willen für ein Ausscheiden Griechenlands aus der Währungsunion. In der Flüchtlingskrise ließ er ebenfalls Kritik durchblicken. Aber auch wenn ihn Konservative aus der Union bedrängten, für einen Sturz Merkels stand er nicht zur Verfügung. Dazu ist er zu verantwortungsbewusst.
Manch kleine Stichelei oder Provokation bereitet ihm mitunter diebische Freude, jedoch ist Politik für ihn kein Spiel. Im Zweifel geht das Land vor, auch vor den eigenen Ambitionen. Das war so bei Merkel. Und so war es auch vorher schon bei Helmut Kohl, als der ihn entgegen seiner Zusagen nicht zum Kanzlerkandidaten machte. So ist Schäuble nicht Kanzler geworden und auch nicht Bundespräsident. Aber sich treu geblieben ist er, seiner Loyalität, seinem Verantwortungsbewusstsein.

Neben seinem Glauben hat Schäuble seine Heimat geprägt, die Ortenau. Aufgewachsen ist er in dem Städtchen Hornberg, lange lebte Schäuble in der Kleinstadt Gengenbach, 2011 zog er mit seiner Frau Ingeborg in eine Wohnung in einem Mehrgenerationenhaus nach Offenburg. Neben dem FC Bayern schlägt sein Herz für den SC Freiburg. Seinen badischen Akzent hat er bis heute nicht abgelegt. Er hat auch eine Wohnung in Berlin, aber sooft es geht, ist er in seiner Heimat. Wenn enge Vertraute eine Handlung Schäubles erklären, sagen sie gern: „Da ist er halt Protestant.“

Vieles, wofür Schäuble bewundert und gefürchtet wird, rührt aus seinem Protestantismus. Sein Pflichtbewusstsein, sein Fleiß, die Disziplin. So jemand verlangt seinem Umfeld etwas ab. Eine Herausforderung ist Schäuble immer, für manchen vielleicht auch mal eine Zumutung. Wenn jemand seinen blitzschnellen Gedankengängen nicht folgen kann, dann bekommt er das mitunter zu spüren. Das ist nicht angenehm. Auf der anderen Seite kann Schäuble ironisch sein, lustig, charmant. Er schätzt guten Rat, kann auch Widerspruch ertragen, wenn er begründet ist. Er will intellektuell gefordert werden, dann ist er hellwach.

Das Faible für Frankreich, der Glaube an Europa, auch das wurzelt in Schäubles Heimat. Der wichtigste Partner in Europa, für ihn lag er immer schon direkt vor seiner Haustür. „Meine Heimat liegt in der Nachbarschaft von Straßburg“, sagte Schäuble in seiner berühmten Bonn-Berlin-Rede. Als Herzens-Europäer wird er tituliert. Von all den unzähligen Auszeichnungen, die er erhalten hat, ist ihm der Karlspreis für seine Verdienste um die „Wiedervereinigung und Neuordnung Europas“ wohl der teuerste. In den acht Jahren als Bundesfinanzminister von 2009 bis 2017 war Europa sein bestimmendes Thema. Die Finanzkrise gefährdete die Eurozone in ihrer Existenz, Schäuble verbrachte Tage und vor allem Nächte damit, sie zusammenzuhalten.

In Deutschland wurde er durch sein Krisenmanagement zeitweise zum beliebtesten Politiker, in Europa aber wurde er auch angefeindet. So sehr Schäuble im Bundestag immer wieder für finanzielle Hilfen warb, so sehr er für europäische Solidarität eintrat, so sehr ist er überzeugt, dass es Solidität braucht. Auf die Einhaltung der europäischen Schuldenregeln hat er wieder und wieder bestanden. Und in Deutschland ist die schwarze Null sein Vermächtnis als Finanzminister und neben der Einheit sein zweiter historischer Erfolg. Erstmals seit Jahrzehnten gilt ein schuldenfreier Bundeshaushalt wieder als Standard, und nicht als Ausnahme. Finanzpolitische Stabilität, Vertrauen in die Haushaltspolitik, das sind in Schäubles Augen die Voraussetzungen für nachhaltiges Wirtschaftswachstum.

Dieses ökonomische Denken Schäubles lässt sich durch sein Studium erklären. Als er in den 60er-Jahren in Freiburg studierte, war die Universität der Hort der Ordnungspolitik. Und die ist bis heute Schäubles theoretisches Gerüst. Die Schule von Walter Eucken steht dafür, dass der Staat den Markt möglichst gewähren lässt, aber auch Leitplanken für das Wirtschaftsgeschehen setzt, wo es Marktversagen gibt. Stark geprägt wird Schäuble auch von seinem Doktorvater Fritz Rittner. Der setzt auf Regeln, um den Hang von Politikern zu bremsen, im Wettbewerb um Macht Versprechen auf Kosten anderer zu machen. Das Problem der Fehlanreize beschäftigte Schäuble vor allem bei der Euro-Politik. Und es erklärt, warum das Einhalten von Regeln ihm so wichtig ist.

Die acht Jahre als Finanzminister, das war für jeden sichtbar, haben Schäuble Freude bereitet. Aber sie waren auch strapaziös. Schon vor der Bundestagswahl, so sagte es Schäuble, habe er sich entschieden, keine Regierungsverantwortung zu übernehmen. Leicht kann ihm das nicht gefallen sein. Die Entscheidung jedoch hält Schäuble im Rückblick für richtig, was auch daran liegen dürfte, dass er nun Bundestagspräsident ist. Wieder einmal hat der Mann offensichtlich sein Amt gefunden – und umgekehrt.

Jan Hildebrand: Wolfgang Schäuble. Erstveröffentlichung in: Michael F. Feldkamp (Hrsg.): Der Bundestagspräsident. Amt – Funktion – Person. 19. Wahlperiode, Reinbek 2018, S. 159-165.