Interview in der Rheinischen Post vom 24.12.2014. Das Gespräch führten Birgit Marschall und Eva Quadbeck
Rheinische Post: Herr Minister, die meisten Menschen freuen sich an Weihnachten auf ihre Familie und lieb gewonnene Traditionen. Gibt es bei Ihnen auch etwas, auf das Sie sich besonders freuen?
Schäuble: Wir sind alle zusammen, das ist das Wichtigste. Kinder und Enkelkinder bestimmen das weihnachtliche Geschehen. Am Heiligabend gehen wir in die Kirche und am ersten Weihnachtstag miteinander essen. Es gibt immer das gleiche Essen. Wir sitzen immer am gleichen Tisch, im gleichen Lokal. Alle wollen das so. Als wir mal gefragt hatten, ob wir etwas anders machen wollen, war die einhellige Antwort: Um Gottes Willen, nein! Bei uns lieben alle das Familienritual zu Weihnachten.
Rheinische Post: Weihnachten ist das Fest der Familie, und viele Familien hoffen, dass ihnen der Finanzminister noch ein kleines Weihnachtsgeschenk unter den Baum legt – und den Kinderfreibetrag und das Kindergeld vielleicht schon 2015 erhöht. Macht er das?
Schäuble: Ich werde Anfang des Jahres mit der Familienministerin einen Vorschlag erarbeiten. Aber unsere finanziellen Spielräume sind begrenzt.
Rheinische Post: Sie sind also bereit, nicht nur den Kinderfreibetrag, sondern auch das Kindergeld anzuheben?
Schäuble: Das haben wir in den letzten Jahrzehnten manchmal so gehalten. Beides steht in einem gewissen Zusammenhang. Auch die Alleinerziehenden nehmen wir in den Blick.
Rheinische Post: Und Sie heben alles schon mit Wirkung 2015 an und warten nicht ab bis 2016, wie bisher geplant?
Schäuble: Wie gesagt, Frau Schwesig und ich werden Anfang des Jahres gemeinsam einen Vorschlag machen.
Rheinische Post: Steht die „schwarze Null“ im Haushalt 2015 für Sie über allem anderen?
Schäuble: Wir haben uns vorgenommen, ab 2015 keine neuen Schulden mehr zu machen. Mit diesem Versprechen hat die Union Wahlen gewonnen und das haben wir im Koalitionsvertrag mit der SPD vereinbart.
Rheinische Post: In Russland spitzt sich die wirtschaftliche Lage aber zu, der Rubel befindet sich im freien Fall. Was kommt da auf Europa zu?
Schäuble: Natürlich machen wir uns wegen der Entwicklung in Russland Sorgen. Wir wollen keine Auseinandersetzung mit militärischen Mitteln. Aber das heißt nicht, dass wir akzeptieren, dass Russland mit militärischen Mitteln seine Interessen durchsetzt. Deswegen können die Annexion der Krim und die permanente Verletzung des Waffenstillstands in der Ukraine durch Russland nicht ohne Gegenreaktion bleiben. Ich hoffe jeden Tag, dass Russland zur Kooperation mit dem Westen zurück findet. Solange halten wir aber an den Sanktionen gegen Russland fest
Rheinische Post: Aber Russland steuert auf eine Staatspleite zu. Sie könnte schlimme Folgen für ganz Europa haben. Was machen wir dann?
Schäuble: Es liegt an Moskau, sie zu verhindern.
Rheinische Post: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat erklärt, dass Sie gegen das von Ihnen vorgeschlagene Modell der Integration des Solidaritätszuschlags in die Einkommensteuer ist, weil das aussähe wie eine Steuererhöhung. Wie kommen Sie an der Stelle weiter?
Schäuble: Alle sind sich einig, dass wir auch nach 2019 das Aufkommen aus dem Solidaritätszuschlagbenötigen. Das hat auch die Kanzlerin schon 2013 gesagt. Jetzt geht es um die Frage, wie man das gestaltet. Da gibt es unterschiedliche Vorstellungen. Aber eins ist auch sicher: Eine Ergänzungsabgabe kann es nur für spezifische Aufgaben des Bundes geben, nicht auch für die Länder. Die Vorstellung, wir könnten den „Soli“ für den Aufbau Ost in einen allgemeinen Bund-Länder-Soli umwidmen, deckt sich nicht mit dem Grundgesetz.
Rheinische Post: Sie treten weiter für den Einbau des „Soli“ in die Einkommensteuer ein?
Schäuble: Ich halte das weiterhin für die bestmögliche Lösung. Die Parteivorsitzenden hatten Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz und mich gebeten, gemeinsam ein Konzept für die anstehende Bund-Länder-Finanzreform zu erarbeiten. Gut Ding will Weile haben. Der Bund ist bereit, einen begrenzten zusätzlichen Beitrag aus dem „Soli“-Aufkommen an die Länder abzugeben, wenn wir zu einer besseren Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern kommen. Dieses Angebot steht immer noch.
Rheinische Post: Spätestens bei der Integration des „Soli“ will die Koalition die so genannte kalte Progression im Steuertarif abbauen. Die Union will damit sogar schon 2017 beginnen. Klappt das?
Schäuble: Unser erster Versuch 2012 wurde doch vom Bundesrat blockiert! Aber wir wollen die „kalte Progression“ erneut angehen. Meine Partei will damit schon 2017 beginnen. Ich weise aber darauf hin, dass bei der gegebenen niedrigen Inflationsrate das Problem der „kalten Progression“ ein vergleichbar geringes ist. Ich warne davor, hier völlig falsche Erwartungen bei den Bürgern zu wecken: Der Abbau der „kalten Progression“ wird zu kaum spürbaren Steuererleichterungen führen, wenn die Inflation so niedrig bleibt wie zurzeit.
Rheinische Post: Was denken Sie, wenn Sie in diesen Wochen so viele Menschen auf der Straße sehen, die unter dem Banner „Pegida“ demonstrieren?
Schäuble: Ich sehe, dass viele Menschen das Gefühl haben, dass sie sich in der institutionell verfassten Politik nicht wiederfinden. Das muss man ernst nehmen. Die Politik muss zuhören und argumentieren. Die Erfahrung zeigt: Je geringer der Ausländeranteil in einer Region ist, umso größer sind die Vorbehalte. Diejenigen aber, die als Partei wie die Alternative für Deutschland oder als Organisatoren von „Pegida“ bewusst fremdenfeindliche Ressentiments schüren, die muss man wirklich bekämpfen.
Rheinische Post: Welche tieferen Gründe hat diese neue Protestbewegung?
Schäuble: Eine moderne, freiheitliche Gesellschaft hängt davon ab, dass die Menschen das Gefühl haben, es geht in ihr fair zu. Wenn diese Grundvoraussetzung für sozialen Zusammenhalt verloren geht, wird das Gesamtsystem geschwächt. Die Menschen sorgen sich, dass die Unterschiede zwischen Arm und Reich größer werden. Man muss nicht jede Schlussfolgerung des französischen Ökonomen Piketty, der diese Wirkung des Kapitalismus kritisiert, für richtig halten, aber man sollte ihn lesen und zur Kenntnis nehmen.
Rheinische Post: Mit welchen Argumenten begegnen Sie den „Pegida“-Demonstranten?
Schäuble: Zur Wahrheit gehört auch, dass wir dringend auf Zuwanderung angewiesen sind. Zur Wahrheit gehört, dass die Integration von Ausländern bei uns erhebliche Fortschritte gemacht hat. Wir sind auch deshalb das zweitattraktivste Einwanderungsland nach den USA. Zur Wahrheit gehört, dass die zugewanderten Menschen erhebliche Summen in die Staatskasse zahlen, deutlich mehr als der Staat für sie bezahlt. Weil es uns gut geht, haben wir eine viel größere Verantwortung anderen zu helfen, denen es schlechter geht. Wir werden weiter Flüchtlinge aufnehmen müssen. Was wären wir denn für Leute, wenn wir bei unserem Wohlstand die Flüchtlinge abweisen würden?