Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit dem Handelsblatt
Handelsblatt: Herr Minister, sind Sie stolz auf den Koalitionsvertrag?
Wolfgang Schäuble: Stolz ist nicht der treffende Begriff für die 180 Seiten Papier. Ich finde, der Koalitionsvertrag ist eine gute Grundlage für die Arbeit der Großen Koalition in den kommenden vier Jahren. Nicht mehr und nicht weniger.
Handelsblatt: Sie haben mal gesagt, Große Koalitionen seien in einer Demokratie „systemisch falsch“. Sehen Sie das heute anders?
Schäuble: Nein. Die Regel sollte sein: stabile Regierung, starke Opposition. Große Koalitionen müssen die Ausnahme sein. Im Übrigen: Wir haben die Große Koalition nicht angestrebt. Aufgrund des Wahlergebnisses ging es nicht anders, zumal die Grünen nicht die Kraft hatten, sich zu einer Koalition mit uns durchzuringen.
Handelsblatt: Bedauern Sie das?
Schäuble: Es ist ein Fakt, den ich nicht ändern kann. Wir haben intensive Gespräche mit den Grünen geführt. Am Ende haben Angela Merkel und Horst Seehofer gesagt, dass wir uns das vorstellen können. Aber die Grünen haben sich auf Bundesebene die Entscheidung nicht zugetraut. Wir hätten es wohl gemacht. Die Sozialdemokraten glauben ja, alle ihre Probleme seien durch die letzte Große Koalition verursacht. Das kann man anders sehen. Aber ich bin sicherlich nicht der Richtige, die Probleme der SPD zu analysieren.
Handelsblatt: Fürchten Sie nicht, dass die Große Koalition noch am SPD-Mitgliedervotum scheitern könnte?
Schäuble: Nein. Dass sich die Parteiführung angesichts der Skepsis unter den Mitgliedern die Rückendeckung zusichern lassen will, kann ich verstehen. Als Regel für künftige Koalitionen würde ich es nicht unbedingt empfehlen. Die SPD hat auch mal ihren Kanzlerkandidaten von den Mitgliedern bestimmen lassen…
Handelsblatt: Rudolf Scharping.
Schäuble: Richtig.
Handelsblatt: Immerhin hat der Mitgliederentscheid geholfen, dass die SPD viele ihrer Forderungen aus dem Wahlkampf durchgesetzt hat Der CDU-Wirtschaftsflügel beklagt deshalb, dass man die Handschrift der Union kaum noch erkenne.
Schäuble: Wen zählen Sie zum Wirtschaftsflügel? Gehöre ich nicht dazu? Als Finanzminister habe ich auch mit Wirtschaftsfragen zu tun.
Handelsblatt: Wir dachten eher an Kurt Lauk vom CDU-Wirtschaftsrat Carsten Linnemann von der Mittelstandsvereinigung und Christian von Stetten vom Parlamentskreis Mittelstand.
Schäuble: Die drei kenne ich gut und schätze sie. Sie bringen ihre Positionen ein. Andere vertreten die Arbeitnehmer, manche engagieren sich besonders für die junge Generation, wieder andere für die ältere. Eine Volkspartei muss alle Gruppen berücksichtigen. Wir ringen um die Lösungen – und nicht um Flügel.
Handelsblatt: Das ist eine elegante Form, die Kritik des Wirtschaftsflügels zu ignorieren.
Schäuble: Ich kann die Kritik nicht nachvollziehen. Wir haben den Menschen im Wahlkampf gesagt: Wir haben in den vergangenen vier Jahren erfolgreiche Politik gemacht, und unser Land ist gut vorangekommen, und wir möchten diesen Weg weitergehen.Wir wollten die Welt nicht neu erfinden. Die SPD wollte vieles anders machen. Aber wir und die Mehrheit der Wähler haben gesagt: Stopp, das ist die falsche Richtung. Die CDU ist die ruhige und starke Kraft in Deutschland.
Handelsblatt: Mit anderen Worten: Wer im Wahlkampf keine Reformen versprochen hat, muss in den Koalitionsvertrag auch keine reinschreiben?
Schäuble: Ach, diese Reformhuberei! Je mehr man ändert, desto besser – das ist doch Unsinn. Wir haben vieles angepackt, in beharrlichen, kleinen Schritten. Seit Jahren steigern wir die Ausgaben für Bildung und Forschung. Das ist einer der Gründe für die gute Wettbewerbsposition der deutschen Wirtschaft. Oder nehmen Sie die Integrationspolitik: Da haben wir enorme Fortschritte gemacht, da bin ich ein Stück stolz darauf. Die Islam-Konferenz war für mich ein wichtiges Projekt. Unsere Gesellschaft verändert sich rasant. Gerade in einer konservativen Partei gibt es Beharrungskräfte. Wir sind manchmal etwas spät dran, aber dafür vermeiden wir auch die großen Fehler. Politik soll gesellschaftliche Veränderungen nicht vorwegnehmen, sonst ist sie nicht freiheitlich. Sie soll sie nachvollziehen. Deshalb ist eine zurückhaltende Beweglichkeit für eine Volkspartei wie die CDU gar nicht schlecht. Kaum jemand weiß das besser als Angela Merkel.
Handelsblatt: Dieser Führungsstil bringt es mit sich, dass die CDU nun sogar einen flächendeckenden Mindestlohn einführt, der im Wahlkampf noch bekämpft wurde. Diese spontane Neuausrichtung ist für viele erklärungsbedürftig.
Schäuble: Nun mal langsam. Die Vereinbarung im Koalitionsvertrag entspricht mehr den Vorstellungen von CDU und CSU als denen der SPD. Wir haben gesagt, die Tarifautonomie darf nicht geschwächt werden. Unsere Vereinbarung stärkt sie. Das hätten wir schon vor Jahren machen sollen, aber das war mit der FDP schwierig.
Handelsblatt: Vielleicht beschweren sich die Wirtschaftsvertreter deshalb so laut weil sie seit Jahren eine schleichende Sozialdemokratisierung der CDU sehen. Wie viel Ludwig Erhard steckt noch in Ihrer Partei?
Schäuble: Ich habe den Vorteil, dass ich noch mit Ludwig Erhard zusammen im Bundestag saß. Und ich glaube, er würde heute vieles so ähnlich machen wie wir. Ich bin mir sicher, dass er mich als Finanzminister ganz entschieden bei der Regulierung der Finanzwelt unterstützen würde. Er war auch für sozialen Zusammenhalt, weil er wusste, dass gerade eine freiheitliche Ordnung auf Dauer nur stabil ist, wenn sie niemanden ausschließt. „Wohlstand für alle“ war nicht nur ein genialer Wahlkampfslogan, es war ein Versprechen.
Handelsblatt: Erhard trat aber auch für einen Staat ein, der sich zurücknimmt und der nicht alles regeln will. Solche ordnungspolitischen Überzeugungen spielen in der Union kaum mehr eine Rolle.
Schäuble: Mir ist die Freiburger Schule vertraut, ich habe Friedrich August von Hayek im Studium noch erlebt. Ich bin sehr für Ordnungspolitik. Aber sie darf nicht als Vorwand missbraucht werden: Wer unter diesem Deckmantel nur mehr Profit und weniger sozialen Ausgleich will, hat sicherlich nichts gemein mit Ludwig Erhard. Natürlich müssen wir darauf achten, dass wir die Antriebskräfte in der Wirtschaft nicht abwürgen. Man darf die Menschen nicht überfördern, aber man muss allen eine Chance zur Teilhabe ermöglichen.
Handelsblatt: Die Wirtschaft hat sich immer wieder für eine Steuerreform stark gemacht. Warum findet sich dazu nichts im Koalitionsvertrag?
Schäuble: Wenn man mich früher gefragt hätte: „Stell dir vor, du bist Finanzminister, was willst du machen?“ Ich hätte sofort gerufen: „Oh, toll, unbedingt eine Steuerreform!“ Aber man muss die jeweiligen Realitäten akzeptieren. In der vergangenen Legislaturperiode musste man aus dem Koalitionsvertrag ableiten, dass es bei Einhaltung derSchuldenbremse keinen Spielraum für große Steuersenkungen gibt. Jetzt mussten wir der SPD den Zahn Steuererhöhung ziehen. Dass wir mit der SPD nun eine Steuersenkung hinbekommen, das konnte man nicht erwarten.
Handelsblatt: Und die CSU hat festgelegt, dass auch der Abbau von Steuerprivilegien eine Steuererhöhung ist.
Schäuble: Damit haben Sie einen Spielraum von null.
Handelsblatt: Sind Sie damit glücklich?
Schäuble: Was heißt schon glücklich? Allerdings ist die Frage berechtigt, was zu den Steuerprivilegien zählt. Zu späterer Nacht in den Verhandlungen habe ich den Sozialdemokraten gesagt: Bereuen habe ich schon das Gefühl, dass alles unter 100 Prozent Besteuerung als Subvention angesehen wird. Nun ist die Lage, wie sie ist. Ich halte das für hinnehmbar, da unser Steuersystem nicht so schlecht ist. Die Belastung der Unternehmen ist insgesamt so, dass Deutschland wettbewerbsfähig ist. Begrenzte Korrekturen wird man während der Legislaturperiode machen können.
Handelsblatt: Dazu steht kein Wort im Koalitionsvertrag.
Schäuble: Ein Koalitionsvertrag kann nicht alles regeln für vier Jahre Regierungszeit. Ich hätte ihn lieber kürzer…
Handelsblatt: …auf neun Seiten wie zu Zeiten von Konrad Adenauer?
Schäuble: Ja, man legt die Regeln der Zusammenarbeit fest – und gut ist es. Es hat sich aber leider so entwickelt, dass wir jetzt eher umfangreiche Werke vorlegen.
Handelsblatt: Koalitionsverträge haben doch ohnehin eine immer kürzere Halbwertszeit. So schnell, wie Sie in der letzten Legislaturperiode die FDP-Steuerpläne abgeräumt haben.
Schäuble: Das stimmt so nicht. Wir hatten im Koalitionsvertrag vereinbart: Vorrang hat die Einhaltung der Schuldenbremse. Damit es nicht wieder heißt, ich halte mich nicht an die Vereinbarung, habe ich dieses Mal in allen möglichen Gremien gesagt: Mit Ausnahme der als prioritär genannten Maßnahmen, die sich auf 23 Milliarden Euro für die gesamte Legislaturperiode addieren, müssen alle anderen Projekte aus dem jeweiligen Ressort finanziert werden. Mit dieser Regel wird der künftige Finanzminister für eine solide Finanzpolitik sorgen können.
Handelsblatt: In der vergangenen Legislaturperiode war die Bewältigung der Euro-Krise das alles beherrschende Thema. Was ist für die nächsten vier Jahre das zentrale Projekt für den Fmanzminister?
Schäuble: Die Euro-Krise hat an Dramatik verloren, zum Glück. Doch die Vollendung der Bankenunion bleibt eine große Herausforderung. Und wir müssen die Entscheidungsstrukturen in der Euro-Zone verbessern. Vor Langeweile muss sich der Finanzminister nicht fürchten.
Handelsblatt: Zur Europa-Politik finden sich fast nur Allgemeinplätze im Koalitionsvertrag. „Wir werden alles tun, um die europäische Krise zu überwinden.“ Aber wie?
Schäuble: Ich glaube nicht, dass es möglich sein wird, eine große Vertragsänderung in ganz Europa hinzubekommen. Das Protokoll 14 des Lissabon-Vertrages wäre ein denkbarer Ansatzpunkt. Da können Sie Regeln für die Euro-Zone festlegen. Man könnte dem Währungskommissar bei der Überwachung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes dieselbe starke Rolle geben, wie sie heute der Wettbewerbskommissar im Wettbewerbsrecht hat. Der kann Beihilfen untersagen, und dann kann der betroffene Staat nur noch dagegen klagen. Das sollte man für das Budgetrecht auch einführen.
Handelsblatt: Die Haushälter im Bundestag werden sich kaum über den Machtverlust freuen.
Schäuble: Das würde die Souveränität der nationalen Parlamente nicht verletzen. Der Währungskommissar dürfte ja nicht sagen: „Ihr müsst das Ehegattensplitting abschaffen, um eine Finanzlücke zu schließen.“ Aber er könnte sagen: „Das Defizit in eurem Haushaltsplan ist zu groß, korrigiert das!“ In Ansätzen haben wir das schon, aber es ist noch nicht verbindlich genug.
Handelsblatt: Reicht das?
Schäuble: Zusätzlich muss die wirtschaftspolitische Koordinierung verbessert werden. Denn natürlich ist die unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit innerhalb einer Währungsunion ein strukturelles Problem. Deshalb muss man die Wirtschaftspolitik kohärent machen, weil sonst die Geldpolitik überfordert wird.
Handelsblatt: Die EZB ist überfordert?
Schäuble: Die EZB tut, was sie kann. Aber es ändert nichts daran, dass Strukturreformen notwendig sind, worauf ja auch die EZB immer wieder drängt.
Handelsblatt: Kommende Woche gehen die Verhandlungen zum Abwicklungsmechanismus für marode Geldhäuser weiter. Werden Sie sich dann bereits mit Ihren europäischen Kollegen einigen?
Schäuble: Vielleicht braucht es noch Nachtsitzungen, aber wir wollen bis Jahresende eine Einigung haben. Einige Punkte sind noch offen: Wir wollen, dass die Haftungskaskade – also die Regel, dass zuerst die Bankengläubiger und dann erst die betreffenden Nationalstaaten zahlen müssen – klar verankert wird und beim Bankenstresstest im kommenden Jahr Anwendung findet. Da sind die Meinungen in Europa unterschiedlich. Und dann geht es um die Frage, wer künftig über die Abwicklung einer Bank entscheiden soll. Wir sind dafür, dass ein Gremium, in dem die nationalen Vertreter sitzen, das machen soll. Die formale Entscheidung kann dann eine europäische Institution treffen – zum Beispiel der Finanzminister-Rat oder die Kommission. Da werden wir eine Lösung finden.
Handelsblatt: Der Stresstest der EZB sorgt für Nervosität an den Finanzmärkten. Fürchten Sie Probleme bei den deutschen Banken?
Schäuble: Ich höre von verschiedenen Seiten, dass die europäischen Banken insgesamt keinen so großen Kapitalbedarf haben werden.
Handelsblatt: Heile Banken-Welt also?
Schäuble: Wir haben einiges geschafft, um für mehr Stabilität zu sorgen, etwa durch die strengeren Eigenkapitalvorschriften. Aber die Kreativität der Banken, die Regulierung zu umgehen, ist weiterhin groß. Ich weiß ja, dass die Banken meinen, es reiche nun. Aber da sage ich zum Beispiel vor einigen Tagen zu Deutsche-Bank-Chef Jürgen Fitschen: Es waren nicht die Staaten, welche die Krise ausgelöst haben. Das war die Finanzbranche! Deshalb kann es kein Ende der Regulierung geben.
Handelsblatt: Die Banken fürchten unter anderem die Finanztransaktionssteuer, deren Einführung Union und SPD noch mal im Koalitionsvertrag bekräftigt haben.
Schäuble: Wir versuchen, sie mit anderen EU-Staaten gemeinsam einzuführen. Aber wir sehen, dass die Widerstände in vielen Ländern größer werden. Je weniger Länder sich beteiligen, desto schwieriger wird es. Deshalb habe ich in den Koalitionsverhandlungen gesagt: Wir sind mit aller Kraft für die Finanztransaktionssteuer, aber realistischerweise wird sie auf absehbare Zeit nicht die erhoffte Größenordnung erreichen.
Handelsblatt: Sie rechnen also nicht mehr mit einem baldigen Milliardensegen?
Schäuble: Die zwei Milliarden Euro Einnahmen, die ab 2015 in der mittelfristigen Finanzplanung vorgesehen waren, haben wir vorsichtshalber nicht berücksichtigt. Das war für die interne Rechnung bei den Koalitionsverhandlungen wichtig, sonst ist das Geld schneller verplant, als man gucken kann.
Handelsblatt: Ist das Finanzministerium angesichts der vielfältigen Herausforderungen das wichtigste Ressort?
Schäuble: Nein, alle Ministerien sind wichtig. Das Grundgesetz kennt ein formales Vetorecht für den Finanzminister nur, wenn mehr Geld ausgegeben werden soll, als im Haushalt verabschiedet wurde. Wichtiger ist ein gutes Verhältnis zu den tragenden Kräften der Koalition, zum Regierungschef und zu den Koalitionsfraktionen.
Handelsblatt: Ihr Verhältnis zur Bundeskanzlerin gilt zwar nicht als ganz spannungsfrei, aber intakt. Bleiben Sie Finanzminister?
Schäuble: Sie irren, wenn Sie meinen, da wüsste ich mehr als Sie.
Handelsblatt: Das fällt uns schwer zu glauben.
Schäuble: Ich habe dem Wortlaut im Koalitionsvertrag entnommen, dass die drei Parteichefs über die Ressortverteilung und die Minister schon gesprochen haben, es aber 14 Tage lang geheim halten wollen. Glauben Sie, das gelingt, wenn sie’s einem Vierten sagen?
Handelsblatt: Haben Sie der CDU geraten, das Finanzministerium zu übernehmen?
Schäuble: Ja, das ist doch klar.
Handelsblatt: Und wenn Angela Merkel Ihnen diesen Posten erneut anbietet?
Schäuble: Dann würde ich nicht ablehnen. Mir war es wichtig, erst den Koalitionsvertrag abzuwarten und zu schauen, ob er die Basis für eine solide Finanzpolitik ist. Die Bedingung ist aus meiner Sicht erfüllt.
Handelsblatt: Herr Schäuble, wir danken Ihnen für das Interview.
Das Interview führten Sven Afhüppe, Jan Hildebrand und Donata Riedel.