Der 18. März steht für die deutsche Revolution 1848/49 – und er erinnert an einen europaweiten Aufbruch zur
Freiheit. Damals träumten Victor Hugo und andere bereits von den „Vereinigten Staaten von Europa“. Daraus wurde
nichts.
Im Gegenteil: Europäische Solidarität ging im nationalen Überschwang unter – mit nachhaltigen Folgen. Als vor 100
Jahren der Weltkrieg endete, in den ein übersteigerter Nationalismus den Kontinent manövriert -hatte, formierten
sich jene Kräfte, die in der Einigung Europas die notwendige Abkehr vom nationalstaatlichen Ordnungsprinzip
erkannten. „Träumer“ hat sie Adolf Muschg genannt. Der Schweizer Schriftsteller meinte das keinesfalls
geringschätzig. Der bekennende Pro-Europäer Muschg ist vielmehr überzeugt: „Das Projekt Europa ist nur als
Gemeinschaftswerk von Realisten und Träumern lebensfähig.“ Europa bedarf des Pragmatischen ebenso wie der
visionären Kraft. Ohne die Träumer hätten die Realisten wohl niemals mit dem vereinten Europa angefangen. Aber
ohne die Realisten wäre ein vereintes Europa ein Traum geblieben.
Bei aller Begeisterung für die europäische Idee: Die EU – das Wirklichkeit gewordene vereinte Europa verführt nicht
zum Träumen, sie stellt heute kaum jemanden zufrieden. Europa ist in den vergangenen Jahren fast schon ein
anderes Wort für „Krise“ geworden. Tatsächlich gehört auch der Krisenmodus zu Europa. Die fortschreitende
Integration ist immer eine Reaktion auf vorangegangene Nöte und Bedrängnisse gewesen. Diese sind auch
Chancen, denn die Erfahrung lehrt, dass Reformen in Krisenzeiten eher gelingen als unter normalen Umständen.
Und Reformen braucht es.
Unübersehbar ist, dass die vielfach als dramatisch empfundene Zuspitzung auch etwas Gutes hat, indem sie viele
nachdenklich macht. Mehr Menschen glauben wieder daran, dass es gut ist, wenn die Europäer
zusammenarbeiten, bei allen Unzulänglichkeiten der EU. Sie sehen die Vorteile eher als die Nachteile. Man kann
sogar Wahlen damit gewinnen. Bürgerinnen und Bürger gehen in zahlreichen Städten auf die Straße, um sich
sichtbar und vernehmbar zur europäischen Idee zu bekennen – zu Europa nicht bloß als Elitenprojekt, sondern als
Bürgerprojekt.
Während für die einen Brüssel zum bürokratischen Albtraum geworden ist, sehen andere in der Krise Europas die
Chance, einen großen Schritt nach vorne zu tun. Von den „Vereinigten Staaten von Europa“ war zuletzt wieder die
Rede. Intellektuelle wie Navid Kermani sprechen sich mit Leidenschaft für eine „Neugründung“ samt
Verfassungsgebung und anschließender Volksabstimmung aus.
Auch ich bin davon überzeugt, dass unsere Zukunft Europa heißt. Wir brauchen angesichts der Herausforderungen
der Globalisierung ein starkes, handlungsfähiges Europa. Das ist die Realität. Für eine Änderung der institutioneilen
Grundlagen, für einen neuen großen Wurf, ist die aktuelle Krise aber vermutlich nicht katastrophal genug – Gott sei
Dank. Es ist paradox: Die Erwartungen an die EU sind mindestens so hoch wie die Enttäuschung. Während die
meisten Bürger Umfragen zufolge unzufrieden sind mit dem Istzustand der Europäischen Union, spricht sich die
große Mehrheit gleichzeitig für mehr europäische Zusammenarbeit aus: in der Außen-, Sicherheits- und
Verteidigungspolitik, im Kampf gegen den Terrorismus, in der Einwanderungspolitik. Geht es dann konkret darum,
Souveränitätsrechte auf die europäische Ebene zu verlagern, findet das sehr viel weniger Zustimmung.
Die Geschichte der europäischen Integration zeigt, dass die Nationalstaaten keinesfalls ausgedient haben, wie
frühe europäische Föderalisten annahmen und sich manche heute erträumen. Wer versucht, die europäische
Einigung gegen das Bedürfnis der Menschen nach nationaler Identität auszuspielen, der wird Europa im Ergebnis
nicht stärken, sondern schwächen. Deshalb muss, wer Europa will, entweder die Verschiedenheit akzeptieren,
nationale Eigenarten ertragen und Besonderheiten wenn schon nicht schätzen so wenigstens respektieren. Oder
aber beim Wunsch nach weiter fortschreitender europäischer Vereinheitlichung dazu bereit sein, Kompromisse zu
machen und die eigenen Vorstellungen nicht zum Maß aller Dinge zu erklären. Nur so werden wir ein Mehr an
Gemeinsamkeit schaffen, das die Handlungsfähigkeit der EU gerade in den Problemfeldern verbessert, in denen
auch in den Augen von Europaskeptikern keine allein nationalstaatlichen Lösungen mehr möglich sind.
In Zeiten beschleunigten Wandels wollen viele Menschen festhalten am Vertrauten, Gewohnten. Globalisierung und
Digitalisierung führen zu Verunsicherung und zu Ängsten. Dagegen hilft – bei aller Sympathie keine Neubegründung.
Wenn wir wieder mehr Menschen von Europa überzeugen wollen, muss die EU vor allem leistungsfähiger werden.
Sie muss beweisen, dass sie ihre Bürger schützen, dass sie ihnen Freiheit und Wohlstand in der globalisierten Welt
sichern kann. Dass sie sich an die eigenen Regeln hält und ihre Werte zu wahren und zu verteidigen weiß, nach
innen und nach außen.
Die EU, das sind nicht die europäischen Institutionen, sondern das meint die Mitgliedstaaten, also deren
Regierungen und Parlamente, zusammen mit Europäischer Kommission, Europäischem Parlament und
Europäischem Rat. Auf kurze Sicht heißt das pragmatisch und flexibel sein bei der Suche nach Lösungen für
konkrete Probleme. Die vorhandenen Instrumente, die die Verträge bereithalten, nutzen. Und wenn nicht alle
mitmachen wollen oder können, dann erst mal nur die, die bereit dazu sind. Besser den Spatz in der Hand als die
Taube auf dem Dach. Aber auf mittlere und längere Sicht müssen wir uns selbstverständlich auch um die Taube
kümmern – Träumer und Realisten.
Von all den Krisen, die wir zuletzt mit der EU verbunden haben, dauert eine länger als andere: die
„Beziehungskrise“ zwischen der EU und ihren Bürgerinnen und Bürgern – trotz zuletzt gestiegener
Zustimmungswerte. Der dringendste Wunsch, den die Deutschen für die zukünftige Gestaltung Europas haben, ist
„eine transparentere und bürgernähere EU“, hat eine Studie der Körber-Stiftung gezeigt. Angesichts der Komplexität
des europäischen „Staatenverbundes“, die im Zuge wachsender internationaler Verflechtung noch zunehmen wird,
ist das ein fast aussichtsloses Unterfangen und dennoch eine zentrale Aufgabe für die Politik und für die Medien.
Die Krisen der vergangenen Jahre bewirken auch hier beiläufig etwas Gutes: Denn Streit über den Euro, die
Flüchtlingspolitik, den Brexit, über die EU als solche – all diese Themen politisieren, sie sind relevant. Ein
„Auflagenkiller“, wie es noch vor zehn Jahren hieß, ist Europa längst nicht mehr. Und selbst wenn eine echte
europäische Öffentlichkeit allenfalls in den Kinderschuhen steckt, wird wenigstens in der Öffentlichkeit der
Mitgliedstaaten wieder über Europa diskutiert, heftiger als früher – wenn auch leider nicht immer unter Auslassung
nationaler Stereotype und Klischees. Auch damit müssen wir umgehen.
Wenn vom Verhältnis zwischen der EU und den Bürgerinnen und Bürgern die Rede ist, kommt reflexartig die
Forderung, die Brüsseler Institutionen und Verfahren müssten sich ändern. Die EU müsse sich öffnen und auf die
Bürger zugehen. Wie viele EU-Informationskampagnen und Kommunikationsoffensiven sind damit schon begründet
worden. Dabei wäre schon einiges gewonnen, wenn wir die EU näher zu uns holen würden. Sie noch viel stärker als
bisher Teil unserer öffentlichen Debatten werden lassen, innerhalb aber auch außerhalb des Parlaments. Und das
nicht nur, wenn milliardenschwere Entscheidungen anstehen. Das heißt für die Politik auch, mehr Verantwortung zu
übernehmen. Öfter als bisher europäische Gesetzesvorlagen zum Thema im Bundestag zu machen – oder
europäische Initiativen selbst mitanzustoßen.
Es ist nicht so einfach mit der Bürgerbeteiligung. Die Erfahrung zeigt, dass das Bedürfnis, beteiligt zu werden,
stärker ausgeprägt ist als die Bereitschaft, sich zu beteiligen. Mehr als die Hälfte der deutschen Wahlberechtigten
fand es bei den letzten Wahlen zum Europäischen Parlament entbehrlich, ihre Stimme abzugeben. Wer mehr
Beteiligung wünscht, muss sich deshalb entscheidenden Fragen stellen: Wie sollen sich die Ergebnisse solcher
Beteiligungsverfahren im politischen Prozess wiederfinden? Wie lässt sich verhindern, dass die Beteiligung in den
Verdacht einer „Alibi-Veranstaltung“ gerät, die bei denen, die sich eingebracht haben, noch mehr Enttäuschung
produziert? Und wie steht es um Repräsentativität und Legitimität, die am Ende nur durch die Entscheidung
gewählter Vertreter sichergestellt werden können?
Bürgermut wie vor 170 Jahren braucht es heute zum Glück nicht mehr. Aber ohne das Engagement der
Bürgerinnen und Bürger geht es auch jetzt nicht. Wir sind auf Europäerinnen und Europäer angewiesen, die sich für
das Projekt begeistern. Ob Träumer oder Realisten. Am besten beide. Und wenn aus der Begeisterung in dem
einen oder anderen Fall auch mehr politische Beteiligung wird, wäre es noch besser. Denn auf Dauer können auch
noch so engagierte Bürgerinnen und Bürger den politischen Willen nicht ersetzen. Etwas bewegen bedeutet, sich
auf den politischen Prozess einzulassen – in all seiner Komplexität, seiner Langwierigkeit, seiner zähen
Überzeugungsarbeit und Kompromissfindung. Das ist mühsam und in Europa noch mühsamer als in der
überschaubareren bundesdeutschen Demokratie. Es setzt eine gewisse organisatorische Stetigkeit voraus, die
Frustrationen überdauert. Deshalb sind Institutionen erforderlich. Parteien, Regierungen und Parlamente. Und
deshalb ist es gut, wenn unser Land endlich wieder eine voll handlungsfähige Regierung hat, die Gestaltungswillen
zeigt und Führungsverantwortung in Europa übernimmt. Und es wird auf ein Parlament ankommen, das in den
bevorstehenden Reformbemühungen seine gewachsenen Mitwirkungsrechte in europäischen Angelegenheiten
selbstbewusst wahrnimmt.
(erschienen in „Welt am Sonntag, 18. März 2018)