Wolfgang Schäuble in einem Interview mit dem Focus vom 28. Oktober 2013 über schwindendes Vertrauen und die Finanzierung der großen Koalition ohne Schulden oder Steuererhöhungen.
Focus: Das Handy der Kanzlerin wurde offenbar von US-Diensten abgehört. Sind Sie auch vom Lauschangriff betroffen, Herr Schäuble?
Wolfgang Schäuble: Unsere Experten sagen, dass die modernen Handys nicht so ohne Weiteres abhörsicher sind. Mein Prinzip lautet: Tue recht und fürchte niemand.
Focus: Aber der Bundesfinanzminister einer der größten Volkswirtschaften der Welt ist bisweilen auch Geheimnisträger – und deshalb mögliche Zielscheibe von Lauschangriffen.
Schäuble: Ich versuche mir beim Telefonieren, auch wenn ich die besonders geschützten Geräte verwende, immer bewusst zu machen, dass ich abgehört werden kann. Das habe ich mir übrigens schon in den 80er- Jahren angewöhnt, als ich Chef des Kanzleramts war. Dieses Misstrauen war richtig, wie sich bei der Auflösung der Stasi herausgestellt hat. Die Technologie war aber noch eine ganz andere. Die heutigen modernen technischen Möglichkeiten sind ungleich größer.
Focus: Wie lässt sich die unkontrollierte Überwachung eindämmen?
Schäuble: Das eigentliche Problem ist doch viel weitgehender: Wie können wir angesichts der heute existierenden und umfassend verfügbaren technischen Möglichkeiten das Recht auf Privatheit gewährleisten? Diese technischen Neuerungen verändern unser Leben vielleicht sehr viel mehr als vieles andere. Wir müssen unsere Grundprinzipien wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat auch in der Welt des Internets verankern und sichern. Die Bedrohung der individuellen Freiheitsrechte haben wir nicht nur, wenn Mobiltelefone abgehört werden. Nein, wenn Kriminelle Ihre Daten klauen und damit die digitale Persönlichkeit von Ihnen übernehmen oder wenn Firmen Ihren Weg im Internet verfolgen und speichern zu den unterschiedlichsten Zwecken, betrifft das auch ganz unmittelbar Ihre Freiheitsrechte. Da ist eindeutiger Handlungsbedarf.
Focus: Taugt Amerika noch als Vorbild für die Freiheitsidee?
Schäuble: Ja, wenn man weiß, dass wir die Freiheitsidee auf den Menschen beziehen. Und der Mensch ist fehlbar. Amerika ist ein wichtiger Partner. Die Amerikaner sind aber nicht über alle Kritik erhaben. Und einige Sachen gehen unter Freunden einfach nicht. Wir sollten aber nicht glauben, dass nur die Amerikaner sich möglicherweise in den Telefon- oder E-Mail- Verkehr einklinken.
Focus: Erschüttert das die Glaubwürdigkeit der USA als große demokratische Führungsmacht?
Schäuble: Das kratzt am Image, klar. Aber damit müssen sich vor allem die Amerikaner beschäftigen. Die Glaubwürdigkeit unserer westlichen Demokratien beruht doch nicht darauf, dass sie fehlerlos sind. Sie beruht darauf, dass sie Kritik ertragen. Freie Gesellschaften müssen in der Lage sein, Fehlentwicklungen zu korrigieren. Eine Demokratie muss aus Irrtümern lernen können. Das können die Amerikaner auch. Denn das unterscheidet sie wie auch uns von totalitären Staaten. Diese Vorkommnisse sind nicht schön. Aber so eine zugespitzte Krise treibt uns auch schneller zu Konsequenzen. Dann bewegt sich was.
Focus: Das erwarten viele auch von den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, CSU und SPD, die in dieser Woche so richtig anlaufen. Sie selbst leiten zusammen mit Hamburgs Erstem Bürgermeister Olaf Scholz von der SPD die wichtige Arbeitsgruppe Finanzen. Im Vergleich zu früheren Regierungsbildungen starten Sie mit vollen Kassen. Wachsen da die Wünsche nicht in den Himmel?
Schäuble: Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode viel erreicht. Aber so gut sind die Finanzen nun auch wieder nicht. Wir haben in Deutschland immer noch eine hohe Schuldenquote. Aber unsere finanzielle Ausgangslage ist heute gegenüber 2009 besser. Das haben wir uns in den vergangenen vier Jahren hart erarbeitet. Aber ausruhen können wir uns darauf nicht.
Focus: Die SPD hat eine große Wunschliste an Staatsausgaben und will dafür die Steuern erhöhen. Aber auch die Unionsparteien versprechen mehr Leistungen ohne Steuererhöhungen. Wo soll das Geld denn herkommen?
Schäuble: Ich habe vor der Wahl großen Wert darauf gelegt, dass unsere Vorschläge solide durchgerechnet sind. Für die versprochenen Investitionen haben wir den Spielraum. Und die Mütterrente finanziert sich aus den Beiträgen zur Rentenversicherung .
Focus: Das klingt mehr nach Hoffnungswerten als nach verlässlicher Rechnung.
Schäuble: Aus unserer mittelfristigen Finanzplanung bis 2017 ergibt sich ein gewisser Spielraum. Damit können wir aber nur rechnen, wenn wir unseren wachstumsfreundlichen Kurs fortsetzen. Wir haben sinkende Defizite und steigende Steuereinnahmen nicht durch Steuererhöhungen erreicht, sondern durch Wachstum und eine Zunahme der Beschäftigung. Wer das gefährdet, riskiert, am Ende weniger zu haben.
Focus: Warum hören wir nichts von Schuldentilgung oder Rückzahlung?
Schäuble: Die Verschuldung, also die Schuldenquote, wird automatisch kleiner, wenn wir keine neuen Schulden mehr machen und die Wirtschaft weiter wächst. Keine neuen Schulden mehr zu machen ist für uns als Union der Kern einer stabilen Finanzpolitik. Nach den Regeln der Schuldenbremse dürften wir uns ja bis zu 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts noch als Neuverschuldung leisten. Aber das wollen wir nicht. Wir wollen nächstes Jahr die strukturelle Null und 2015 überhaupt keine neuen Schulden mehr machen und dies dann halten.
Focus: Warum sind Sie nicht ehrgeiziger und bauen die Schulden auch ab?
Schäuble: Wenn mich junge Menschen fragen, wann wir endlich ganz ohne Schulden sind, dann sage ich: hoffentlich nie. Denn Schulden verschwinden nur nach einer Währungsreform. Entscheidend für eine funktionierende Volkswirtschaft ist, wie hoch die Schulden im Vergleich zur wirtschaftlichen Leistungskraft sind.
Focus: Noch aber macht die gesamtstaatliche Verschuldung in Deutschland rund 80 Prozent unserer Wirtschaftsleistung aus. Das ist mehr als ursprünglich im Euro-Stabilitätspakt erlaubt.
Schäuble: Die dort vorgesehenen 60 Prozent wollen wir innerhalb der nächsten zehn Jahre wieder unterschreiten. Wenn unsere Wirtschaft weiter wächst und wir netto keine neuen Schulden mehr machen, ist das ein realistisches Ziel. Die Grundlagen dafür haben wir in dieser Legislaturperiode gelegt.
Focus: Was bedeutet das für die Koalitionsverhandlungen?
Schäuble: Unsere Position haben wir in den Sondierungsgesprächen klargemacht: Wir wollen bei der Neuverschuldung eine Null, so wie es der vorgelegte Haushaltsplan vorsieht. Und wir halten Steuererhöhungen für kontraproduktiv. Auf dieser Basis verhandeln wir.
Focus: Keine Steuererhöhungen – bezieht sich das nur auf die Einkommensteuer oder auch auf andere Steuerarten, etwa Verbrauchssteuern?
Schäuble: Das ist doch klar formuliert: Keine Steuererhöhungen meint keine Erhöhung irgendeiner Steuer.
Focus: Was ist mit dem Abbau von Steuervergünstigungen?
Schäuble: Die Zusage der Union, dass es keine Steuererhöhungen geben soll, gilt auf jeden Fall. Aber Koalitionsverhandlungen führe ich nicht über Interviews.
Focus: Trotz des Spielraums müssen Sie die Wunschlisten von CDU, CSU und SPD zusammenstreichen, wenn Sie keine neuen Schulden machen wollen.
Schäuble: Mit Wunschlisten ist das in der Politik nicht anders als im Privaten: Sie müssen sich an dem messen lassen, was tatsächlich möglich ist. Politik bedeutet immer Gestaltung des Machbaren, aber auch Reduzierung auf das Machbare. Aber was das ist, sehen wir am Ende. Wir fangen doch gerade erst an.
Focus: Sie selbst wollten vor der Wahl die kalte Progression bei der Einkommensteuer mildern. Halten Sie daran fest?
Schäuble: Ja, meine Meinung hat sich da nicht geändert. Ich habe bereits in der Vergangenheit dafür gekämpft und halte das für nötig. Der Bundestag hatte das ja bereits beschlossen. Aber die Länder haben im Bundesrat nicht zugestimmt. Wir werden bei den Verhandlungen sehen, wie weit sich die in den Koalitionsrunden gut vertretenen Ländervertreter in dieser Frage bewegen. Ich möchte die Ländervertreter überzeugen. Aber das wird noch ein bisschen Arbeit.
Focus: Mehr Geld für Bundesstraßen haben CDU und CSU versprochen. Kommt dafür die Maut oder eine Vignette?
Schäuble: Es liegen viele Vorschläge auf dem Tisch. Die werden wir alle unvoreingenommen prüfen.
Focus: Höhere Verkehrsinvestitionen sind also keinesfalls sicher?
Schäuble: Wir sind uns einig, dass wir mehr für Infrastruktur ausgeben. Wir überlegen einen Fonds für Autobahnen, Schienen und Bundeswasserstraßen. Ein solcher Fonds würde natürlich genauso der parlamentarischen Kontrolle unterliegen wie der Bundeshaushalt.
Focus: Deutschland hat im Zuge der Euro-Krise enorme Risiken auch für andere Länder übernommen. Wie stark wird das auf die Kasse durchschlagen?
Schäuble: Das größte Risiko für uns wäre nach wie vor, wenn wir den Euro nicht stabil halten könnten. Denn das würde zu schwer kalkulierbaren wirtschaftlichen Schäden führen. Das blenden viele aus. Schon der Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers mit all ihren Folgen hat uns einen tiefen wirtschaftlichen Einbruch beschert und viel Geld für die Bankenrettung gekostet. Ein Scheitern des Euros wäre sehr, sehr viel teurer. Dagegen ist alles, was wir an Haftungsrisiken übernommen haben, sehr überschaubar.
Focus: Die deutschen Garantien summieren sich auch auf dreistellige Milliardenbeträge und könnten doch fällig werden.
Schäuble: Danach sieht es überhaupt nicht aus. Der Euro ist stabil. Die Zinsaufschläge für Krisenländer wie Spanien und Italien sinken. Selbst Griechenland liegt unter neun Prozent bei den Anleihen. Die Hilfsprogramme für Irland und Spanien laufen demnächst aus. Auch Portugal ist auf gutem Weg. Wenn diese Programme auslaufen, reduziert sich auch unsere Haftung. Es bleiben noch Griechenland und Zypern. Insgesamt zeigt sich aber doch: Unsere Strategie der Unterstützung von Reformen war richtig. Die Hilfsprogramme haben gewirkt.
Focus: Drohen nicht mit der Bankenunion neue Belastungen?
Schäuble: Nein, die Bankenunion soll Europa krisenfester machen zum Schutz des Steuerzahlers. Die europäische Bankenaufsicht bei der EZB ist dazu ein erster wichtiger Baustein. Zu oft haben nationale Aufseher Fehlentwicklungen nicht frühzeitig genug erkannt und andere Länder in Mitleidenschaft gezogen. Die EZB prüft jetzt die Bilanzen der Banken und macht Stresstests. Sollten dabei Kapitallücken entdeckt werden, müssen diese von den Eigentümern und Gläubigern der Bank geschlossen werden. An den weiteren Bausteinen der Bankenunion arbeiten wir mit Hochdruck.
Focus: Müssen deutsche Sparer oder Steuerzahler fürchten, für Pleitebanken im Ausland zu haften?
Schäuble: Ganz im Gegenteil. Den Schutz des Steuerzahlers stellen wir in allen Verhandlungen in Brüssel ganz nach vorne.
Focus: Große Koalition bedeutet auch große Chance. Wäre da nicht eine Reform der verkrusteten Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen überfällig?
Schäuble: Wir müssen uns da in jedem Fall neu aufstellen. Von den drei Ebenen Bund, Länder und Kommunen hat der Bund die schlechteste Finanzstruktur. Wir haben den höchsten Schuldenstand und mit Abstand die höchsten Zinsausgaben. Die Kommunen haben dagegen insgesamt einen Finanzierungsüberschuss. Natürlich geht es einigen auch schlecht. Das aber ist Aufgabe der Länder, da einen Ausgleich zu organisieren.
Focus: Die Länder halten sich selbst für chronisch klamm.
Schäuble: Der Solidarpakt und die Regeln zum Länderfinanzausgleich laufen 2019 aus. Auf das, was danach kommt, wollen wir uns in dieser Legislaturperiode verständigen. Wir sollten schnell und ergebnisorientiert zu Lösungen kommen. Das werden wir wohl nicht schon in den Koalitionsverhandlungen schaffen. Ich würde mir aber wünschen, dass die Ministerpräsidenten und die künftige Bundesregierung möglichst schnell eine Grundverständigung erzielen.
Focus: Sollten die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister aus der gleichen Partei kommen?
Schäuble: Die letzte Legislaturperiode hat gezeigt, dass es durchaus hilfreich ist, wenn Regierungschef und Finanzminister ein gutes und belastbares Vertrauensverhältnis haben. Aber über die Frage der Kabinettsbesetzung reden wir ganz zum Schluss.
Focus: Sie sind doch gern Bundesfinanzminister, oder?
Schäuble: Ja…
Focus: Und wollen es gern bleiben…
Schäuble: Das Amt des Bundesfinanzministers ist eine große Aufgabe und Herausforderung, klar. Aber wie Sie wissen, habe ich mir angewöhnt, auf diese Frage mit einem freundlichen Lächeln zu reagieren, und so will ich das auch dieses Mal halten.