„Täterforschung im globalen Kontext“



Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble zur Eröffnung der Internationalen Konferenz in Berlin

(Es gilt das gesprochene Wort.)

Vor gut zwei Monaten, am 18. November 2008, war der israelische Sicherheitsminister Avi Dichter für ein gemeinsames Arbeitstreffen in Berlin. Bei dieser Gelegenheit haben wir auch das Holocaust-Mahnmal und das Jüdische Museum besucht und über die Vergangenheit unserer Völker gesprochen. Wir waren uns einig, dass der Mord an sechs Millionen Juden in Europa bei allem Wissen, das man erwerben kann, wohl immer etwas Unfassbares behalten wird. Und wir waren uns einig, dass wir nur über das Gedenken an die Opfer Wege in die Zukunft finden können.

In der Normalität unserer westlichen Welt des 21. Jahrhunderts sind wir selten gezwungen, uns letzten, existenziellen Fragen zu stellen. Zu denen gelangt, wer die Realität des Völkermords zu begreifen versucht. Umso wichtiger ist, dass wir Anlässe schaffen, an denen wir uns dieser Wirklichkeit mit allem, was daran so unbegreifbar ist, immer wieder bewusst machen.

Heute, am Jahrestag der Befreiung der wenigen tausend Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, gedenken wir der Opfer des Nationalsozialismus. Sie mahnen uns, unser Leben in Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als bleibende Verantwortung und gemeinsame Aufgabe zu sehen.

Diese Aufgabe erfordert, dass wir uns auch mit den Tätern befassen. Wir sollten aber darauf achten, dass die Aufmerksamkeit für die Täter die Opfer nicht in den Hintergrund drängt. Deswegen ärgere ich mich gelegentlich, wenn die Medien in einer Mischung von Grauen und Faszination einseitig die Täter in den Mittelpunkt stellen. Und deswegen begrüße ich auch die Entscheidung der Veranstalter, diese Konferenz an einem Tag zu eröffnen, der dem Gedenken an die Opfer gewidmet ist.

Inzwischen hat die Wissenschaft ein differenziertes Bild der Täter im Dritten Reich gewonnen: Danach wäre es falsch, einer kleinen, abgrenzbaren Tätergruppe von Sadisten oder Psychopathen die Schuld zu geben, die nichts mit der „normalen“ Gesellschaft zu tun gehabt hätte. Es ist gar nicht so lange her, da kam es noch häufiger zu solchen Abgrenzungsversuchen. Sie dienten wohl auch dazu, Schuld und Verantwortung ein Stück weit abzuwehren.

Es gab zwar, nach allem, was wir wissen, auch Täter mit psychischen Persönlichkeitsstörungen. Das legen Befunde zum Beispiel über Himmler nahe, dem hochgradige Bindungsarmut sowie Affekt- und Emotionsvermeidung zugeschrieben werden. Dennoch: Eine möglicherweise psychisch gestörte Persönlichkeit wie Himmler fand eine Fülle von Strukturen vor, die ihm das Töten ermöglichten und so den psychopathologischen Befund wieder ein Stück weit „normalisieren“. Diese Strukturen waren von Menschen gemacht. Wir kommen auch hier um die Frage persönlicher Verantwortung nicht herum.

Wir müssen davon ausgehen, dass die Täter einen hohen Grad an Normalität hatten. Sie kamen mitten aus der Gesellschaft. Ihre Handlungen geschahen zu einem relativ hohen Maß freiwillig. Trotz Diktatur, Repression und eines zweifellos vorhandenen Gruppendrucks war nicht alles determiniert. Sondern es war möglich, eigene Entscheidungen zu treffen, es gab Handlungsspielräume für Einzelne.

Wir wissen auch, dass Ideologie eine große Rolle spielte, um die Handlungsspielräume zu füllen, sei es als Antwort auf eine Krisensituation, als Heilsversprechen oder als Legitimation für Gewalt und Vernichtung. „Antisemiten waren sie alle“, diese Aussage scheint für nahezu sämtliche nationalsozialistische Täter zu gelten.

Letzten Endes wurde die Zivilgesellschaft umgeformt, oder präziser: sie hat sich umgeformt, in Teilen bereitwillig transformiert in eine Volks- und Rassengemeinschaft. Die Bereitschaft, mittels Ausgrenzung Anderer dazugehören zu wollen, war verbreitet. Und bei der bloßen Ausgrenzung, gespeist von einem aggressiv aufgeladenen Wir-Gefühl, blieb es nicht.

Das Töten selbst stand am Ende eines schleichenden, sich selbst immer mehr perfektionierenden und dynamisierenden Prozesses. Das eigentliche Morden war oft so unspektakulär, dass Harald Welzer von „Tötungsarbeit“ spricht – mit Routinen, geregelten Arbeitszeiten und Kaffeepausen zwischendurch. Das Morden wurde zu einer Arbeit, die erledigt wurde, wie andere Arbeit auch.

All das wissen wir heute besser dank der unermüdlichen Arbeit mehrerer Forschergenerationen – auch wenn man es eigentlich gar nicht wirklich begreifen kann. Trotzdem bleibt es notwendig, eine Schlüsselfrage immer wieder neu zu stellen: Warum handeln Täter so, wie sie handeln und bringen unermessliches Leid über andere?

Die Antworten darauf helfen, Formen extremer Gewalt besser zu verstehen und dagegen vorzugehen. Sie können uns helfen, bedenkliche Entwicklungen frühzeitig zu erkennen. Vor nicht langer Zeit kam es in Abu Ghraib zu unvorstellbaren Misshandlungen. Alles schien erlaubt und in dieser Situation gab es für die Ausführenden offensichtlich keine moralischen Schranken mehr. Wir müssen auch hieraus lernen und Wege finden, Strukturen zu schaffen oder zu bewahren, die die völlige Enthemmung verhindern, und Menschen zu befähigen, sich selbst und andere wertzuschätzen und sich zugehörig zu fühlen zu einer Gesellschaft, deren Werte nicht Ausgrenzung, sondern Respekt, Offenheit und Toleranz sind.

Wenn wir die Risikofaktoren für Gewaltkarrieren besser kennen, können wir im Sinne eines vorbeugenden Ansatzes auch gezielt dagegen vorgehen. Dazu gehört, dass wir Menschen das Rüstzeug an die Hand geben, damit sie sich von Ideologien nicht verführen lassen und mit der Offenheit unserer Gesellschaft zurechtkommen. Das ist Verantwortung und Gestaltungsaufgabe zugleich.

Anders als Diktaturen sind unsere heutigen westlichen Demokratien bestimmt von der Herrschaft des Rechts, dem Schutz von Minderheiten und einem System der Checks and Balances. Machtbegrenzung statt Machtkonzentration lautet die Devise. Der freiheitlich verfasste, demokratische Staat ist bewusst ein Staat mit unvollkommener Machtfülle. Er lebt davon, dass Individuen eigenverantwortlich handeln – im Bewusstsein eigener Fehlbarkeit und in der Achtung institutioneller Schranken, die errichtet wurden, um ein Ausleben der eigenen Freiheit auf Kosten anderer zu verhindern.

Von Karl Popper können wir lernen, dass es in der offenen Gesellschaft nichts endgültig Richtiges gibt. Das ist notwendige Voraussetzung dafür, dass sich Freiheit im Prozess von trial and error, Versuch und Irrtum entfalten kann. Das vielleicht beste Mittel gegen ideologische Verblendung und Machtmissbrauch ist am Ende die Einsicht, dass wir Menschen unvollkommene Wesen sind und dass die menschliche Natur im Guten wie im Bösen vieles leisten kann. Deswegen brauchen wir Vorkehrungen und Regeln, die uns helfen, Maß zu halten.

Der grundlegende Fehler von Ideologien ist, dass sie sich mit der Unvollkommenheit menschlichen Daseins nicht abfinden können. An Stelle des Offenen, Vorläufigen postulieren sie unhinterfragbare Wahrheiten. Von dort ist es ein nicht allzu großer Schritt bis zur Ausgrenzung und Gewalt im Namen dieser Wahrheiten. Dagegen müssen wir die Offenheit und Toleranz einer freiheitlich verfassten Ordnung setzen, in der niemand Anderen seine Überzeugung aufzwingen darf.

Wir wissen heute, dass bei gewalttätigem Handeln in der Regel eine Kombination von Risikofaktoren im Hintergrund steht, die sich gegenseitig verstärken. Dieser Befund gilt unabhängig von Herkunft, Ethnie oder Religion. Darin liegt aber auch eine Chance: Einzelne, die Gewaltneigung verstärkende Einflüsse können offensichtlich durch andere, positive Einflussfaktoren kompensiert werden.

Ich denke, und alle eint die Annahme, dass bei extremen Formen der Gewalt monokausale Ursachenbeschreibungen nicht viel erklären können. Extreme Gewalt ist bedingt durch Persönlichkeit und individuellen Werdegang, aber auch durch eine Vielzahl situationsbezogener, sozialer, historischer, politischer und kultureller Zusammenhänge. Sie ist keineswegs ein Produkt oder gar vorübergehendes Überbleibsel der Vormoderne – die Ursachen für Gewalt sind alt und neu zugleich. Deswegen sind Staat und Gesellschaft immer wieder von neuem gefordert, Gewaltprävention ernst zu nehmen und besonders wachsam zu sein, wo sich Gruppen formieren, die Gewalt zum Mittel ihres Handelns machen.

Jüngere Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften weisen darauf hin, dass ein Faktor unter vielen anderen, die die Anfälligkeit für Gewalthandeln fördern, in neurophysiologischen Veränderungen besteht, die meist schon in der Kindheit und Jugend entstanden sind. In Kombination mit verunsichernden Erfahrungen in der Kindheit wie beispielsweise nicht verlässlichen Bindungen, Gewalt oder Misshandlungen können diese Faktoren zu gewalttätigem Verhalten beitragen – sie können, müssen aber nicht.

So beobachten wir zum Beispiel bei den heutigen jungen rechtsextremistischen Gewalttätern, dass sie so gut wie immer eigene Gewalterfahrungen in der Familie gemacht haben und dass ihnen positive Erfahrungen mit verlässlichen Familienstrukturen, Geborgenheit und Wertschätzung fehlen. Auch vernünftige Rollenvorbilder kennen sie kaum und empfinden es daher oft als geradezu befreiend, wenn sie sich das erste Mal mit Gewalt, zum Beispiel gegen den prügelnden Vater oder Stiefvater, zur Wehr setzen. Solche jungen Männer sind anfällig für antisemitische und fremdenfeindliche Ideologien, auch zur Legitimation ihrer eigenen Gewaltausbrüche.

Zur Vorbeugung von Extremismus und Gewalt ist es unabdingbar, dass das Wissen über Täter noch stärker Eingang in die gesellschaftliche Praxis findet. Dazu brauchen wir einen Paradigmenwechsel in unserer Präventionspolitik: Weg von einer kurzfristigen, an einzelnen Anti-Gewalt-Projekten orientierten Politik, hin zu einer vorgelagerten ganzheitlichen Förderung. Ein solcher Ansatz bringt nach meiner Überzeugung zum Beispiel im Kampf gegen den Rechtsextremismus mehr als die immer wieder geforderten Parteiverbote, deren Chancen man im Einzelfall gut prüfen sollte, die aber das Übel nicht an der Wurzel packen.

Ziel dieses neuen Präventionsansatzes sollte sein, ein Gefühl der Zugehörigkeit der Menschen zur Gesellschaft zu stärken und die Entwicklung grundlegender sozialer Fähigkeiten zu unterstützen, die für ein friedliches Zusammenleben unverzichtbar sind. Internationale Studien legen uns nahe, damit so früh wie möglich zu beginnen, um Kinder auf eine komplexe und offene Gesellschaft vorzubereiten.

Nun mag man mit Blick auf die Nazizeit einwenden, Zugehörigkeitsgefühl habe es damals wahrlich im Übermaß gegeben und es sei besser, die Emotionen aus dem Spiel zu lassen. Es ist unbestritten: Diese Form von Gemeinschaftlichkeit, die es in der Nazizeit gegeben hat, ist in der Tat in keiner Weise akzeptabel.

Aber ganz ohne Gefühle, zum Beispiel mit einem reinen Verfassungspatriotismus, wird es uns umgekehrt auch nicht gelingen, die Menschen gesellschaftlich einzubinden, so dass sie Halt finden und bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Wer sich nicht zugehörig und aufgehoben fühlt – sei es in der Familie, im Verein oder in seinem Glauben –, wird es schwerer haben, den Punkt zu erreichen, an dem er sich engagiert. Deswegen ist unsere freiheitliche Gesellschaft auch auf Identifikation angewiesen, auf Vorbilder, positive Emotion, gemeinsame Wertschätzungen und Erinnerungen, innere Bindung der Menschen an ein freiheitliches Miteinander. Eine Zugehörigkeit, die darauf fußt, setzt in der offenen Gesellschaft gleichzeitig ein Bekenntnis zu Vielfalt, Toleranz und Respekt gegenüber Unterschieden voraus, seien sie kulturell, weltanschaulich oder religiöser Art. Wir sehen gegenwärtig in Amerika, wie sich ein solches Wir-Gefühl wieder zu entwickeln scheint und ich denke, dass es den Amerikanern mehr als vieles andere helfen wird, die sich anbahnende Wirtschaftskrise gut zu überstehen.

Natürlich dürfen wir uns diesen Gefühlen nicht naiv hingeben. Bei Ihrer Konferenzen erfolgt zu Recht eine kritische Geschichtsaufarbeitung. Wir brauchen diese stete Mahnung, wir brauchen diese Auseinandersetzung. Darin steckt immer auch eine Herausforderung, es selbst besser zu machen und sich einzusetzen, wo Offenheit und Freiheit bedroht sind.

Daneben können wir Deutsche auch Positives lernen aus unserer Geschichte: Es hat lange gedauert, bis die Taten der Widerstandskämpfer und der Geist, aus dem heraus sie handelten, der Geist des Kreisauer Kreises etwa, als ethische Grundlagen der freiheitlich-demokratischen Neuordnung Deutschlands akzeptiert wurden. Die Neuordnung ist besser gelungen, als man sich das Ende der 40er Jahre hatte vorstellen können, und sie wäre nicht gelungen, wenn wir nicht eine rechtsstaatlich-freiheitliche Tradition besäßen, die unseren heutigen Institutionen zugrunde liegt.

Moltke, Stauffenberg, Pater Delp, Bonhoeffer und viele andere zogen die Motivation für ihr Tun aus einer moralischen Selbstverpflichtung, nicht nur im Sinne des eigenen Vorteils zu handeln, sondern Verantwortung zu übernehmen für andere, für den Nächsten, für die Mitmenschen, für die Allgemeinheit. Diese Verantwortung ist Vorbild für uns, auch wenn heute zum Glück niemand mehr in den Widerstand gehen muss, um in Deutschland in Freiheit zu leben. Wer heute vom Widerstand spricht, wer heute – solche Stimmen gibt es – das Widerstandsrecht in unserer Verfassung in Anspruch nehmen möchte, stellt die Verhältnisse auf den Kopf.

Unsere Demokratie erscheint uns Deutschen heute als Selbstverständlichkeit. Fast sechzig Jahre nach dem demokratischen Neubeginn dürfen wir dankbar und auch ein wenig stolz auf das Erreichte sein. Aber wir erleben derzeit in unserer Gesellschaft auch Entwicklungen, die sich gegen den Grundkonsens unserer freiheitlichen Ordnung richten.

Die Probleme reichen von einer steigenden Gewaltbereitschaft insbesondere bei Kindern und Jugendlichen über die Zunahme extremistischer Einstellungen und Straftaten bis hin zu einer wachsenden Politikverdrossenheit und schwindenden Beteiligung am demokratischen Prozess. Im Alltag nehmen Rücksichtslosigkeit und eine Mir-Egal-Haltung zu. Auch bei der Integration von Zuwanderern haben wir Schwierigkeiten. Daraus müssen wir lernen, dass Zusammenhalt in unserer Gesellschaft sich nicht von selbst herstellt, sondern dass wir dafür etwas tun müssen.

Gerade bei extremistischer Gewalt haben wir das Problem, dass Täter, ganz überwiegend junge Männer, sich radikalisieren, weil sie sich in unserer Gesellschaft entwurzelt und nicht anerkannt fühlen. Ein Ermittler sagte mir einmal: „Diese jungen Leute suchen etwas, was ihnen Halt gibt. Es ist nur eine Frage, wer sie zuerst kriegt – die Scientologen, die Neonazis oder die Islamisten.“ Bei islamistisch motivierten Gewalttätern müssen wir übrigens zur Kenntnis nehmen, dass die Radikalisierung inzwischen auch in Deutschland stattfindet und dass Personen Anschläge vorbereiten, die hier geboren und aufgewachsen sind.

Je deutlicher sich die negativen Folgen dieser Entwicklungen zeigen, desto lauter wird der Ruf nach dem allzuständigen Staat. Er soll immer noch mehr intervenieren, regulieren und – möglichst ohne jede Beschränkung individueller Freiheit – sozialen Frieden schaffen. Dieser in sich widersprüchliche Anspruch muss zur Überforderung des Staates und zur Unterforderung der Gesellschaft und ihrer Bürger führen.

Und doch hat vorsorgende Innenpolitik einige Gestaltungsspielräume, wenn es gelingt, ihr Anliegen in die Breite zu tragen. Familien, Vereine, Kirchen, Kindergärten und Schulen sollten gemeinsam darauf hinarbeiten, durch frühkindliche, umfassende Förderung Gewaltkarrieren zu reduzieren, bevor sie sich entwickeln und verfestigen. Ebenso sollten Staat und Zivilgesellschaft die Bereitschaft zum individuellen Engagement stärken. Hier spielt politische Bildung eine wesentliche Rolle. Sie kann durch Aufklärung, Information, Partizipationsangebote, durch neue Zugänge auch zu so genannten politikfernen Bevölkerungsgruppen helfen, dass Menschen ein friedliches Miteinander und gemeinsame Lösungen suchen.

Wir müssen als Gesellschaft die soziale Integration aller Menschen ernsthaft wollen. Aber wir müssen auch klarmachen, zu welchen Bedingungen das geschieht: Toleranz, Respekt, Akzeptanz grundlegender Werte und Regeln sind für das Zusammenleben in Vielfalt unverzichtbar. Wir müssen nicht nur etwas gegen Gewalt unternehmen, sondern auch etwas dafür tun, um das Zugehörigkeitsgefühl zu stärken, um jungen Menschen zu sagen: ihr gehört zu uns, wir brauchen euch, ihr könnt etwas Sinnvolles tun für euch selbst und für die Gesellschaft.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt, eine lebendige Demokratie entstehen überall dort, wo es Bürgerinnen und Bürger gibt, die sich für die Gestaltung unseres Zusammenlebens einsetzen. Diesen Einsatz wollen die Familien- und Jugendministerin, Frau von der Leyen, und ich als Innenminister unterstützen. Dazu starten wir eine gemeinsame Initiative, die vorhandene Probleme offen benennt und exemplarische Lösungen vorstellt.

Kürzlich habe ich im Rahmen dieser Initiative ein Gefängnisprojekt mit extremistischen Gewalttätern besucht. Es wird vom violence prevention network engagiert betrieben und unter anderem von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert. Deren Arbeit mit jungen Männern, die wegen schwerer, extremistisch motivierter Gewalttaten im Gefängnis einsitzen, hat mich beeindruckt: Hier wurde durch kluge Bündelung pädagogischer Ressourcen und von Ansätzen aus der politischen Bildungsarbeit gezeigt, dass auch extremistische Straftäter lernfähig sein können, dass sie ihre Gewalttaten und ihre politisch-ideologischen Begründungen hinterfragen können, dass sie Empathie erlernen können. Hätten wir diesen Männern frühzeitig fördernde Angebote dieser Art machen können, wären wahrscheinlich einige ihrer Gewaltkarrieren anders verlaufen.

Damit solche Gewaltkarrieren möglichst erst gar nicht in Gang kommen, müssen wir mit einer umfassenden Förderung sozialer Fähigkeiten möglichst schon im frühkindlichen Alter anfangen und kontinuierliche Angebote an Kinder, Heranwachsende, Jugendliche, junge Eltern, Familien, aber auch an Erzieher, Lehrer, Ausbilder und Trainer machen.

Der Deutsche Bundestag hat vor wenigen Wochen eine fraktionsübergreifende Entschließung verabschiedet, die die Förderung jüdischen Lebens und den Kampf gegen Antisemitismus bündeln und stärken möchte. Das Bundesministerium des Innern wird sich engagiert an der Umsetzung des Antrags der Bundestagsabgeordneten beteiligen. Wichtiger aber noch ist, dass sich die Bürger für diese Anliegen einsetzen.

Unsere freiheitliche Ordnung gründet darauf, dass sich jeder individuell entfaltet. Dazu brauchen wir im Alltag nicht allzu viel Mut und schon gar keine Todesverachtung. Vielleicht neigen wir deswegen manchmal zu dem Trugschluss, dass unsere Ordnung ganz ohne das Engagement Einzelner auskommen könnte. Selbstverständlich können wir über Möglichkeiten staatlichen Handelns im Einzelnen immer nachdenken und manches kann nur der Staat leisten und niemand sonst. Wenn aber Menschen nicht mehr bereit sind, sich einzusetzen, ihre Meinung zu artikulieren, einem Anderen deutlich zu machen, dass er gewisse Grenzen nicht überschreiten darf, wird es schwierig. In diesem Sinne ist Zivilcourage das, was wir von uns selbst – auch heute – verlangen müssen und wofür wir werben sollten.

Unsere Geschichte macht immer wieder auch deutlich, was Zivilcourage zu leisten vermag. Ich habe den Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur schon genannt. Und ohne die Zivilcourage und die Zuversicht vieler Menschen hätte es im Herbst 1989 die Rufe „Wir sind das Volk“ nicht gegeben und dann auch nicht den Ruf „Wir sind ein Volk“. Ohne Zivilcourage hätte es nicht den Fall der Berliner Mauer und die deutsche Einheit gegeben.

Wer sich engagiert, macht das von einem eigenen Standpunkt aus – einem Standpunkt, der orientiert sein sollte, ohne sich selbst absolut zu setzten. Politische Bildung ist dafür wichtig, weil sie zeigt, dass Demokratie keine Vermittlung von Werten per Deklamation, sondern ein ständiger Lernprozess ist. Zur Herausbildung eines eigenen Standpunkts gehört auch die Kenntnis der eigenen Geschichte. Sie zeigt uns, dass Freiheit aus Verantwortung wächst. Einen eigenen Standpunkt im Kontakt mit der Geschichte zu entwickeln – dazu tragen Geschichtswissenschaft und politische Bildung gemeinsam bei. Dazu ist die Vermittlung von Geschichtskenntnissen unabdingbar, sie dürfen bei aller Konzentration der Schulen auf die Naturwissenschaften, auf moderne Technologien, nicht verloren gehen. Und sie sollten darüber hinaus auch von nicht-schulischen Bildungseinrichtungen verstärkt vermittelt werden. Dafür brauchen wir gut ausgebildete Lehrer, Erzieher, Forscher und informierte, kooperationswillige Eltern.

Motivieren sollte uns nicht die Vorstellung, es werde alles schon irgendwie besser werden. Motivieren sollte uns das Wissen, dass das Handeln Einzelner einen Unterschied machen kann.