Rede des Bundesfinanzministers im Rahmen des „Forums Frauenkirche“ unter dem Reihen-Motto „Das Ende der Gewissheiten. Die Zumutung des Wandels“ am 29. Mai 2013 in Dresden.
„Das Ende der Gewissheiten“? Warum soll das gerade heute gelten?
Da hatten die Menschen doch geistig und seelisch mehr zu verarbeiten, die erfuhren, dass die Sonne nicht um die Erde kreist und die Erde keine Scheibe ist.
Alleine dies zeigt: Dauernde Gewissheiten schaffen wir auf Erden genauso wenig wie vollendete Gerechtigkeit. Die kann es nach christlichem Verständnis nur in Gott geben.
Und die „Zumutung des Wandels“ – im zweiten Teil der Überschrift über dieser Veranstaltungsreihe?
Einerseits, ja, tatsächlich: Das Tempo des Wandels hat sich erhöht. Wir erleben einen beschleunigten Wandel durch rasante technologische Entwicklungen, vor allem der Kommunikationstechnologie, und durch die fortschreitende Globalisierung:
Durch die Entstehung dieser Einen Welt, in der alles mit allem zusammenhängt.
Um in dieser Welt beschleunigten Wandels zu bestehen, darum brauchen wir ja übrigens auch ein einiges und starkes Europa. Ein Europa, das sich darauf besinnt, dass es zwei Dinge besonders gut kann – beide mühsam errungen: Die Marktwirtschaft mit politischer Freiheit, Demokratie und Menschenrechten zu verbinden. Und Konflikte friedlich zu lösen.
Ich sage zur vermuteten Zumutung heutigen Wandels „einerseits ja“ – andererseits aber müssen wir auch hier etwas relativieren:
Leben ist immer Wandel – ist es seit jeher. Vor Darwin und der Evolutionstheorie hat es bereits Goethe in Verse gefasst: „Es soll sich regen, schaffend handeln, Erst sich gestalten, dann verwandeln; Nur scheinbar steht’s Momente still. Das Ewige regt sich fort in allen: Denn alles muss in Nichts zerfallen, Wenn es im Sein beharren will.“ (Vierte Strophe von „Eins und Alles“) Und noch früher, vor 2500 Jahren, hielt Heraklit fest: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“ So richtig gemütlich, wie manche im romantisierenden Rückblick meinen, ist es auch in Europa schon länger nicht mehr. Wenn es das überhaupt je war mit Blick auf die europäische Geschichte der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte. Doch gerade diese Ungemütlichkeit hat Europa stark gemacht:
Immer neue Ideen, stetige Veränderung im Wettbewerb, produktive Zweifel, Machtteilung, Verschiedenheit, Wandel statt betonierter Verhältnisse in Politik und Wirtschaft, in Gesellschaft und Wissenschaft, in Technik und Religion. Rationalität hat in Europa schon immer an Traditionen und Gewissheiten gerüttelt.
Und dennoch kennen wir sie gut, die Niedergangszenarien, die Vorstellung, gerade heute seien wir existenziell verunsichert, bedrängt und bedroht. Recht lange nun schon erwarten Intellektuelle den Untergang des Abendlandes, heute des Westens.
Der in Harvard lehrende britische Historiker Niall Ferguson hat die These vom „Niedergang des Westens“ in einem dieser Tage erschienenen Buch gleichen Titels erneuert. Der Westen – Europa und Nordamerika – sei, so Ferguson, aufgrund von sechs Umständen zum die Welt dominierenden Raum geworden: Aufgrund fruchtbaren Wettbewerbs, wissenschaftlicher Revolution, Rechtsstaatlichkeit und privater Eigentumsrechte, moderner Medizin, einer Konsumgesellschaft und schließlich hoher Arbeitsmoral.
In all diesen Bereichen glaubt Ferguson heute einen Abstieg des Westens und den Aufstieg der Anderen oder gar die Überholung des Westens durch die Anderen zu erkennen.
Hier ist allerdings einiges zu erwidern: Wenn die Welt im Sinne europäisch-westlicher Errungenschaften besser wird, ist das zu begrüßen. Die Welt kann insgesamt ein besserer Ort werden: Das ist kein Nullsummenspiel und geht nicht zwangsläufig auf unsere Kosten.
Wo es viel aufzuholen gilt, kann auch mehr wachsen – Materielles wie Immaterielles. Wenn die Wettbewerbsfähigkeit Chinas stärker steigt als unsere, schreckt mich das erst einmal nicht. Und wie lange China wirtschaftliche Erfolge mit der Vorenthaltung politischer Freiheiten und sozialer Rechte verbinden kann, das bleibt überhaupt einmal abzuwarten.
Ferguson meint nun tatsächlich, dass wir im Westen gegenwärtig auch selbst all das vernichten, was uns stark gemacht hat. So würden wir etwa den Wettbewerb durch Regulierung ersticken, den Rechtsstaat durch Unsinns-Vorschriften zu Fall bringen und über all dem in Schulden ertrinken.
Ich halte das für arg übertrieben und undifferenziert. Wo etwas daran ist, haben wir das Problem erkannt und begonnen, es zu beheben: Übrigens gerade durch die gegenwärtige Krise, deren Ursachen zu hohe Staatsschulden und mangelnde wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit sind.
In unserem Land gilt oft der als weise, der die Stirn in besonders eindrucksvolle Sorgenfalten legt. Dagegen rate ich zur Gelassenheit. Und damit hier kein Missverständnis entsteht: Pauschale Intellektuellenschelte liegt mir fern. Aber ich glaube, pragmatische Politik und verantwortungsvolles Handeln, der Versuch, im notwendig Unvollkommenen etwas Gutes zu schaffen – das hat eine ganz eigene Würde. Politiker sollten sich gelegentlich selbstbewusster zu diesem spezifisch politischen Ethos bekennen.
Wir können vorankommen und die Dinge verbessern – solange wir bereit sind zu Anstrengungen und ständigem Lernen. Da bietet unsere Zeit ein weites Feld der Bewährung. Es ist eine Zeit der Krisen. In dieser Zeit hat vor allem Vertrauen gelitten – Vertrauen in die Politik wie in Finanzmärkte und in die Wirtschaftsordnung. Neues Vertrauen kann nur dann entstehen, wenn glaubwürdig und sichtbar Verantwortung übernommen wird.
Auch deshalb engagiert sich die Bundesregierung so stark in Europa: Um einem möglichen Fortschreiten des Vertrauensverlustes in die Politik entgegenzuwirken. Auch der beschleunigte Wandel, den wir erleben und der Natur und Mensch zu überfordern droht, führt uns zur zentralen Frage des Vertrauens: Wie können wir dazu beitragen, dass Menschen das Vertrauen in diesem Wandel behalten – das Vertrauen, dass wir im Wandel nicht untergehen?
Jedenfalls nicht dadurch, dass wir unsere wirtschaftlichen Probleme in Europa zu lösen versuchen, indem wir Geld drucken, nicht dadurch, dass wir konjunkturelle Strohfeuer entfachen mit Geld, das wir in Wahrheit nicht haben. Beides verhindert echte wirtschaftliche Gesundung und nachhaltiges Wachstum – auch das Wachstum neuen Vertrauens. Das einzige, was durch fragwürdige Konjunkturstimulierung langfristig wächst, sind die Schulden und die Zinslast des Staates und das Misstrauen der Anleger, deren Geld man aber zu finanzierbaren Konditionen benötigt. Auch die Instrumente der Geldpolitik können die Probleme nicht lösen, sondern nur Zeit kaufen zur Lösung der Probleme.
Und wir müssen uns vor Fehlanreizen hüten: Wir dürfen in Europa nicht Strukturen schaffen, die dazu einladen, Verantwortung abzuwälzen, Risiken auf Kosten anderer einzugehen, den eigenen Beitrag zur Lösung der Probleme auf die lange Bank zu schieben. Das würde Vertrauen weiter zerstören – anstatt es neu aufzubauen.
Es gibt durchaus Grund zur Besorgnis angesichts von Spannungen in Europa zwischen Helfenden und Hilfeempfangenden, angesichts von Empörung in manchen Ländern, angesichts von Vorgängen, die wie Anzeichen eines Auseinanderdriftens in Europa wirken.
Die Bereitschaft und der Wille, Europa voranzutreiben, könnten dadurch sehr schnell verloren gehen. Deshalb dürfen wir nicht nachlassen, die europäische Politik zur Lösung der gegenwärtigen Krise zu erläutern, mäßigend zu argumentieren und für Geduld angesichts der Größe der Probleme mancherorts zu werben.
Und deshalb müssen wir wieder und wieder darüber nachdenken und miteinander besprechen, was wir wollen in und mit Europa. Die Antwort kann nur sein: Wir müssen bereit sein zu weiteren institutionellen Veränderungen, und dafür auch zu Änderungen der europäischen Verträge. Wir müssen die Integration Europas weiter vertiefen.
Goethe hat uns gelehrt: „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.“ Wenn wir Europa enger vereinen, erwerben wir unsere eben auch nur ererbte europäische Gemeinschaft. Das Prinzip unserer Politik zur Gesundung des Euroraums ist:
Hilfe gibt es nur zur Selbsthilfe, Solidarität nur gegen Solidität – man könnte auch sagen: gegen Verantwortung. Darauf hat vor allem die Bundesregierung immer gedrungen. Die Ursachen der Krisen werden angegangen. Haushalte werden konsolidiert und die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens verbessert. Damit das in geordneten Bahnen geschehen kann, geben die Euro-Partner solidarische Überbrückungshilfe. Kredithilfen, nationale Reformen und europäische institutionelle Verbesserungen seit drei Jahren waren Schritte auf dem Weg zur Rückgewinnung von Vertrauen.
Es ist dabei eine ganz abwegige Vorstellung, die Deutschen wollten eine deutsche Sonderrolle in Europa spielen. Nein, wir wollen kein deutsches Europa. Wir verlangen nicht von anderen, „so zu leben wie wir“ – dieser Vorwurf ergibt keinen Sinn. Der Zwang, maßvoller zu haushalten und vernünftiger zu wirtschaften, kommt in erster Linie von den Märkten, von den Anlegern, und weniger von denen, die helfen, die Krise durch die Wende zu Maß und Vernunft zu überwinden. Es gäbe nur einen Weg, von den Erwartungen und Vorstellungen der Anleger ganz unabhängig zu sein: Ihr Geld nicht mehr zu benötigen, weil man nicht mehr ausgibt, als man eingenommen hat.
Doch ein „deutsches Europa“ – das könnten am wenigsten die Deutschen selbst ertragen! Vielmehr wollen wir Deutschland in den Dienst der wirtschaftlichen Gesundung der europäischen Gemeinschaft stellen – ohne darüber selbst schwach zu werden. Damit wäre niemandem in Europa gedient.
Wir wollen ein starkes, ein wettbewerbsfähiges Europa. Ein Europa, in dem wir vernünftig wirtschaften, in dem wir nicht mehr ausgeben als wir erwirtschaften, in dem wir nicht Schulden auf Schulden türmen. Es geht um gute Rahmenbedingungen des Wirtschaftens im globalen Wettbewerb und angesichts einer für ganz Europa herausfordernden demographischen Entwicklung. Schützenswerte Vielfalt in Europa meint nicht Volkswirtschaften, die den Bürgern keine Zukunftsperspektive bieten. Das sind keine „deutschen Ideen“, sondern Gebote der Klugheit, Gebote einer zukunftssichernden Politik.
Man muss gelegentlich daran erinnern: Wachstumsfreundliche Konsolidierung und Reformpolitik sind europäischer Konsens. Sie beruhen auf einstimmigen Beschlüssen der Mitgliedsstaaten.
Daran hat kürzlich auch die bewundernswerte litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite erinnert, die in diesem Jahr, vor wenigen Wochen, den Karlspreis zu Aachen erhalten hat – eine mutige Reformpolitikerin, die sich nicht hinter anderen versteckt.
Sie sprach über die verbreitete Neigung, andere und bevorzugt „Brüssel“ verantwortlich zu machen, und sagte dann, ich zitiere: „Es gibt kein ‚Brüssel‘.
Was es gibt, ist ein Europäischer Rat, dessen Beschlüsse alle gemeinsam getroffen haben. Niemand zwingt jemandem etwas auf. Die Mitgliedstaaten entscheiden selbst, und das Problem ist, dass sie sich danach nicht an das Beschlossene halten.“
Nach aktuellen Umfragen sprechen sich übrigens auch die Bevölkerungen nicht nur im Norden, sondern auch im Süden Europas mit deutlichen Mehrheiten für eine Reduzierung der Staatsausgaben und Schulden aus, um die Krise zu überwinden.
Hegel scheint einmal mehr Recht zu behalten: Vernunft setzt sich durch.
Dabei trifft es nicht zu, dass wir in Europa in diesen Fragen starr und verbohrt wären. Wir betten die Haushaltsdisziplin ins jeweilige konjunkturelle Umfeld ein und nutzen dabei die Flexibilität, die uns die europäischen Verträge erlauben.
Und auch steht außer Frage: Europa ist mehr als eine Währung und mehr als Wirtschaft. Selbstverständlich ist Europa Kultur, Geschichte, Wissenschaft, und das in unvergleichlicher Vielfalt. Die Neugier hat die Menschen vorangebracht und war die Grundlage für Fortschritt. Aber Fortschritt bleibt nur menschlich, wenn er in Kultur und Geschichte eingebunden ist. Entscheidend ist, dass der Mensch seine örtliche Vertrautheit behält, sich persönlich angesprochen fühlt. Nur dann wird in Europa die Kunst gelingen, Vielfalt und Einheit zu kombinieren. Wenn das gelingt, haben wir in Europa auch eine stabile Grundlage für Solidarität.
Im vierten Jahr der Krise im Euroraum bin ich bei allen Sorgen zuversichtlich. Mein Eindruck in diesen Jahren und auf zahlreichen Gipfeln ist: In der Krise wächst Verantwortung. Im immer intensiveren europäischen Gespräch über die Lage jedes Landes wächst das Bewusstsein für Versäumnisse und Fehlentwicklungen. Und das Konzept unserer gemeinsamen Politik zur Gesundung des Euroraums beginnt zu wirken. Vertrauen kehrt zurück.
Das durchschnittliche Haushaltsdefizit in der Eurozone ist gegenüber 2009 fast halbiert. Reformen der Arbeitsmärkte und der Sozialsysteme werden angegangen. Wettbewerbsfähigkeit steigt. Wirtschaftliche Ungleichgewichte gehen zurück. Die Finanzmärkte fassen wieder Vertrauen in die Staaten der Eurozone. Risikoaufschläge für Staatsanleihen gehen zurück.
Die Wende zum Besseren ist geschafft. Das werden wir auch bei der Beschäftigung erleben. Zugleich ist wahr: Die Bürger Griechenlands, Spaniens, Irlands und Portugals, auch Zyperns, erleben eine sehr harte Zeit. Vor allem die hohe Jugendarbeitslosigkeit in einigen Ländern Europas ist eine Katastrophe, die wir gemeinsam bekämpfen. Aber eine wirklich bessere Zukunft für das eigene Land ist anders als durch tiefgreifende Reformen nicht zu erringen.
Wir haben in Europa auch auf institutioneller Ebene große Fortschritte gemacht. Eine solide Finanz- und Wirtschaftspolitik ist verbindlicher geworden. Wir haben heute nationale Schuldenbremsen und mit dem ESM einen permanenten Krisenbe-wältigungsmechanismus, der Zeit für Reformen verschafft und Ansteckungseffekte auf andere Länder im Keim erstickt. Als nächstes schaffen wir nun zügig, aber gründlich eine Bankenunion, die die Risiken für den Sektor selbst wie für die Steuerzahler weiter reduzieren wird.
Wir sind mit der Finanzmarktregulierung einem Zustand wieder näher gekommen, in dem die Haftung für Verluste erneut bei denen liegt, die zuvor auch die risikoreichen Anlageentscheidungen getroffen haben. Ich kann mir an institutionellen Weiterentwicklungen in Europa noch einige mehr vorstellen – einschließlich der nötigen Änderungen der Verträge: Etwa einen europäischen Haushaltskommissar, der nationale Haushalte zurückweisen kann, wenn sie den gemeinsam vereinbarten Regeln nicht entsprechen.
Wir brauchen klarer verteilte Zuständigkeiten zwischen den europäischen Nationalstaaten und der europäischen Ebene. Dabei kann ich mir vorstellen, dass die EU sich auf die Zuständigkeit für Handel, Finanzmarkt und Währung, Klima und Umwelt, Migration sowie Außen- und Sicherheitspolitik konzentriert.
Dafür brauchen wir dann aber auch eine bessere Legitimation der europäischen Institutionen und eine rechtsstaatliche Kontrolle aller dort getroffenen Entscheidungen. Deshalb habe ich mit anderen die Direktwahl des Kommissionspräsidenten immer wieder ins Gespräch gebracht.
Die Entwicklung geht langsam in diese Richtung. Zur Europawahl im nächsten Jahr werden die großen europäischen Parteienfamilien mit gemeinsamen Spitzenkandidaten antreten. Sie sind zugleich Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten.
Mittelfristig sollte der Kandidat mit der größten Unterstützung im Europäischen Parlament von den Staats- und Regierungschefs als Kommissionspräsident akzeptiert werden.
Für mich lautet das Ziel: eine echte – das heißt von den Bürgerinnen und Bürgern Europas eindeutig legitimierte – Legislative, Exekutive und Judikative auf europäischer Ebene.
Die Zeit drängt, die Dinge in Europa zum Guten weiterzuentwickeln. Es gibt politischen Druck – auch Druck von den Märkten. Aber Europa kann nicht immer so schnell sein, wie wir uns das manchmal wünschen. Die Kompliziertheit der europäischen Entscheidungsstrukturen muss ich meinen Kollegen außerhalb Europas immer wieder aufs Neue erklären.
Das liegt natürlich auch daran, dass unsere europäische Wirklichkeit nach wie vor stark von den einzelnen Nationen bestimmt wird. Deshalb werden wir uns dem Ziel einer tieferen Integration Europas nur Schritt für Schritt, und auch nicht immer mit allen EU-Mitgliedsländern zugleich, und nicht immer in institutioneller Rechtsetzung, sondern auch in intergouvernementaler Zusammenarbeit, pragmatisch, geduldig, aber beharrlich nähern können.
Und dieser Weg hat sein Gutes:
So lassen sich Fehler, die bei der Zusammenarbeit von Menschen immer vorkommen, besser korrigieren. Und auf diesem zwar mühsamen, aber dem vielfältigen Europa gemäßen Weg werden viele Gesichtspunkte zur Geltung gebracht: Da übersieht man nicht leicht etwas Wichtiges. Da sind am Ende die Dinge gründlich reflektiert und von allen Seiten beleuchtet. Dadurch bleibt Politik auch maßvoll, vermeidet Übertreibungen. Doch bei allem Pragmatismus – über das Ziel sollten wir uns einig sein:
Wir brauchen ein starkes Europa, damit die Europäer in dieser Welt sich verschiebender globaler Gewichte bestehen und die internationalen Fragen und Herausforderungen mitbeantworten können.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Europa zum Friedensprojekt. Europa ist zugleich ein Freiheitsprojekt geworden. Es war nicht zuletzt die Anziehungskraft des freien Europas, die nach 1989 das Zusammenbrechen der Unrechtsregime in Mittel- und Osteuropa beförderte und dazu führte, dass es dort zu demokratischen Reformen kam.
Im 21. Jahrhundert ist Europa nun auch ein Globalisierungsprojekt. Nur ein wirklich vereintes Europa wird in der heutigen und vor allem in der künftigen Welt die uns wichtigen und uns prägenden Werte wirksam einbringen können.
Die Überlegenheit marktwirtschaftlicher Ordnungen ist heute weltweit unbestritten. Aber die Frage ist, ob sie mit Demokratie, Menschenrechten, der rule of law und sozialer wie ökologischer Nachhaltigkeit verbunden ist – und das ist Europa, das ist das westliche Modell.
Wenn sich unser Modell in der globalisierten Welt durchsetzen soll, müssen wir seine langfristige Überlegenheit beweisen. Das kann nur ein einiges, handlungsfähiges Europa. Und nur tiefer integriert und in guter institutioneller Verfassung werden wir mit neuen Formen von Governance das nötige Miteinander in dieser Einen Welt inspirieren können.
Die Krise hat Europa schon jetzt stärker zusammengebracht – auch wenn mancher Streit oder Zorn etwas anderes zu zeigen scheint.
Es war schon bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft so: Der Wandel hin zu mehr Integration kam nie von alleine, nie ohne den Druck von Krisen. Europa wird nach der Überwindung der Krise stärker und solider sein als zuvor.
Europa wird zwar nicht die Wachstumslokomotive der Welt sein. Die stärksten Impulse werden weiter aus den aufholenden Volkswirtschaften kommen. Aber Europa wird Stabilität, Nachhaltigkeit und Vertrauen beitragen.
Für Europa wird es darum gehen, mit begrenzten, nachhaltigen Wachstumsraten in Europa für Arbeitsplätze zu sorgen, die demographischen Veränderungen zu gestalten und die Sozialsysteme auf europäischem Niveau zu halten. Wenn das nicht gelingt, wird Europa gesellschaftlich auseinanderbrechen. Dann wäre auch die Demokratie in Gefahr. Es ist unser aller Aufgabe, das zu verhindern. Aber ich bin sicher: Wir werden das schaffen. Damit Europa auf gutem Weg bleibt, muss Deutschland stark bleiben.
Deutschland ist die Wachstumslokomotive Europas und der Stabilitätsanker der Europäischen Währungsunion.
Es ist noch gar nicht lange her, dass dieses Land etwas ganz anderes war. Da galt es, den „kranken Mann Europas“ zu heilen. Das gelang durch schmerzhafte Reformen – durch Reformen, die gegen erhebliche Anfangswiderstände umgesetzt werden mussten.
Reformen, die zu einem guten Teil schon einmal Ende der neunziger Jahre von der christdemokratisch geführten Bundesregierung begonnen worden waren. Die sozialdemokratisch geführte Nachfolgeregierung hatte sie dann erst zurückgedreht, um sie schließlich doch wieder auf den Weg zu bringen.
Es waren Reformen vor allem im Bereich des Arbeitsmarkts: Reformen, die Barrieren beiseite räumten und Türen zu Arbeit und Beschäftigung öffneten. Reformen, die mit dazu beitrugen, dass heute so viele Menschen Arbeit haben wie nie zuvor in Deutschland. So erneuert, sind wir gut durch die Krisenjahre seit 2008 gekommen.
Deutschland steht heute nicht zuletzt durch die nachhaltige Haushaltspolitik der Bundesregierung so gut da. Im Mittelpunkt steht dabei die Einführung der Schuldenbremseals Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise. Damit hat die Bundesregierung schon 2009 eine glaubwürdige Strategie zum Ausstieg aus dem krisenbedingt rapiden Anstieg der Staatsverschuldung vorgelegt. Und innerhalb nur einer einzigen Legislaturperiode haben wir den Weg für einen nachhaltig ausgeglichenen Haushalt geebnet.
Der Schlüssel zum Konsolidierungserfolg liegt in der strikten Ausgabendisziplin dieser Bundesregierung: Wir haben uns über die letzten Jahre nicht in großem Stil immer mehr geleistet, obwohl die Einnahmen stiegen, manche Kostensteigerungen abzufangen waren und auch die Gestaltungswünsche naturgemäß nicht kleiner wurden. Das ist ein echter Paradigmenwechsel in der Haushaltspolitik. Zugleich haben wir gezielt in Wachstum investiert. Die Ausgaben für Bildung und Forschung haben wir in dieser Legislaturperiode um über 13 Milliarden Euro erhöht.
Mit dieser Politik erhöhen wir auch die Gestaltungsspielräume zukünftiger Generationen. Das schafft Vertrauen vor allem bei denen, die in Deutschland investieren und etwas aufbauen wollen. Damit haben wir die Grundlage für Wachstum gelegt. Der Staat muss so ausgestattet sein, dass er seine wohl definierten Aufgaben erfüllen kann. Das ist er. Er ist derzeit wahrlich nicht unterfinanziert. Deshalb verbietet sich eine Erhöhung der Steuerbelastungen und mehr noch: neue Substanzsteuern.
Wer das dennoch tun will, der gefährdet die wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land. Von solchen Steuererhöhungen wären vor allem diejenigen betroffen, die einen großen Anteil an unserem Wirtschaftswachstum und an der guten Arbeitsmarktlage haben: der deutsche Mittelstand. Es träfe nicht die sogenannten Reichen, sondern die breite Mitte der Gesellschaft, die nie auf die Idee käme, sich als reich zu bezeichnen.
Wir haben auch kein Gerechtigkeitsproblem in unserem Steuersystem. Unser System der progressiven Einkommensteuer ist gerecht: Starke Schultern tragen größere Lasten als schwache Schultern. Das ist nicht etwas, das man fordern muss, sondern das ist die Wirklichkeit.
Wogegen die Bundesregierung allerdings beharrlich arbeitet, das ist die internationale Steuervermeidung und Steuerhinterziehung. Beide Probleme lassen sich nur durch internationale Kooperation angehen. Hier kommt die Bundesregierung gut voran – sowohl in den internationalen Gremien als auch auf europäischer Ebene und bilateral.
Reformierte Arbeitsmärkte und Sozialsysteme, gesunde mittelständisch-industrielle Unternehmensstruktur, Sozialpartnerschaft und Soziale Marktwirtschaft, ausgeglichene Staatshaushalte und vernünftige Besteuerung, dazu qualifizierte Arbeitnehmer, eine hervorragende Infrastruktur und effiziente staatliche Institutionen – all dies hat dafür gesorgt, dass die deutsche Volkswirtschaft trotz aller Turbulenzen dieser Jahre wettbewerbsfähig ist und nachhaltig wächst.
Auch der Arbeitsmarkt erweist sich weiterhin als sehr robust. Mit weit über 41 Mio. haben so viele Menschen Arbeit wie nie zuvor in der Bundesrepublik. Und der Vorwurf ist falsch, dass dabei vor allem prekäre Arbeitsverhältnisse entstanden seien: Überproportional angestiegen ist gerade die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Gleichzeitig war die Zahl der Arbeitslosen so niedrig wie seit über 20 Jahren nicht mehr. Auch die Langzeitarbeitslosigkeit ist deutlich zurückgegangen.
Die gute Beschäftigungssituation wirkt sich auch positiv auf die verfügbaren Einkommen aus. Sie sind in den letzten drei Jahren um durchschnittlich drei Prozent pro Jahr gewachsen. Genauer: Die unteren Einkommen sind stärker gestiegen als die mittleren und oberen und steigen weiter. Zusammen mit der Tatsache, dass noch nie so viele Menschen Arbeit hatten wie heute, bedeutet dies: Die Einkommensschere in Deutschland schließt sich.
Ich erzähle Ihnen das alles, weil ich manchmal den Eindruck habe, dass es in Deutschland als anrüchig gilt, ein positives Bild unseres Landes zu malen.
Nur vor einem Wandel warne ich: vor der Veränderung unserer offensichtlich erfolgreichen Politik. In diesem Fall wäre der Wandel tatsächlich eine Zumutung.
Ich blicke mit Zuversicht auf Deutschland und auf Europa. Europa und Deutschland sind auf gutem Weg. Wir sollten unsere Fähigkeit, Probleme zu erkennen und sie zu lösen, nicht kleinreden. In der Krise zeigt Europa genau diese Tugend. Früher war nicht alles besser, und künftig wird nicht alles schlechter. „Wie Institutionen verfallen und Ökonomien sterben“, ist der Untertitel von Niall Fergusons Niedergangs-Buch. Wir werden ihn Lügen strafen!