Stabilität und Wachstum. Finanzpolitik in Zeiten der Krisen



Rede beim 7. Deutschen Maschinenbau-Gipfel 2014 des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e.V. am 21. Oktober 2014 in Berlin

„In der Politik ist ja in den letzten Jahren öfters mal mit dem Bild „die einen sind auf dem Sonnendeck, die anderen im Maschinenraum“ gearbeitet worden. Mein Politikverständnis ist, dass wir die meiste Zeit im Maschinenraum sind. Und deswegen bin ich gerne bei Ihnen, beim Deutschen Maschinenbau-Gipfel. Das ist etwas Handfestes, etwas Reales. Wobei natürlich der Begriff Realwirtschaft auch schon wieder daran erinnert, und damit sind wir schon fast ganz aktuell: Die Realität ist nicht das Einzige in der Wirtschaft.

Schon Ludwig Erhard hat ja gesagt, dass Wirtschaft zu mindestens 50 Prozent Psychologie sei. Und im Moment erleben wir gerade wieder in einer Phase von Konflikten, Kriegen, Seuchen, geopolitischen Risiken, wie wir das in der Sprache der globalen Finanzpolitiker nennen, in einer solchen Phase erleben wir wieder, dass Volatilität und Nervosität ungeheuer schnell zunehmen – natürlich vor allen Dingen auch in diesen globalisierten Märkten. Und da werden dann ganz schnell große Krisen oder auch Rezessionen herbeigeredet, obwohl sich die fundamentalen Daten gar nicht sehr verändert haben. Und das Herdenverhalten der Finanzmärkte, das wir in den letzten Jahren ja zur Genüge genossen oder besser erlitten haben, verschärft das Ganze dann noch ganz entscheidend.

Im Augenblick haben wir, das kann man nicht bestreiten, eine Eintrübung der Konjunktur, was sich auch bei Ihnen im Maschinenbau widerspiegelt. Aber es wäre falsch, von Krise oder Rezession zu sprechen. Im Drei-Monats-Vergleich, Juni bis August, haben sich Ihre Auftragseingänge gegenüber den Vorjahren um 3 Prozent verbessert. 2015 wird ein Anstieg der Produktion um 2 Prozent erwartet. Und Sie sprechen selbst von einer hoffnungsvollen Seitwärtsentwicklung. Das ist auch ein schöner Begriff, und wenn es nicht so ganz gut geht, muss man wenigstens schöne Begriffe haben.

Wir haben in Deutschland nach der amtlichen Vorhersage eine Wachstumsrate von 1,2/1,3 Prozent. Herr Gabriel wird Ihnen nachher sagen, dass das ja höher ist als in den letzten beiden Jahren. Also, es ist weniger als erwartet und vorhergesagt, aber wir sollten uns auch davor hüten, die Dinge zu übertreiben. Es gibt Unsicherheit, was die weitere konjunkturelle Entwicklung angeht, aber immerhin, Sie wissen es, die Lieferungen in die wichtigen Exportmärkte, USA und China, sind auf Wachstumskurs, und dazu hilft dann auch der inzwischen wieder etwas niedrigere Eurokurs.

Es gibt in dieser aktuellen Debatte im Grunde zwei Denkschulen. Die einen, und leider ist das eine unter Ökonomen so sehr wie unter Politikern weit verbreitete Denkschule, glauben, dass letzten Endes das Entscheidende die Gesamtnachfrage ist. Und wenn die zurückgeht, haben wir auch eine Wachstumsschwäche, und das ist dann die Hauptursache. Und dann sollte ein Mangel der Gesamtnachfrage, wenn sonst nichts hilft, durch expansive Geld- und Fiskalpolitik überwunden werden.

Die andere Denkschule, die genauso unter Ökonomen vertreten wird, für die steht vor allem auch die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, also die Notenbank der Notenbanken. Die sieht in der Überschuldung der privaten und öffentlichen Haushalte, auch in zu hohen Kredithebeln der Banken die Ursachen für das schwache Wachstum – vor allen Dingen in Europa. Und das kennen wir ja bereits aus der wirtschaftspolitischen Debatte in Japan in den letzten zwei Jahrzehnten.

Im Übrigen gibt es neben diesen beiden Hauptstreitlinien eine weitere Ursache, von der ich sogar glaube, dass sie die entscheidende für das geringe und derzeit nicht nachhaltige Wachstum in Europa ist. Nämlich die Tatsache, dass wir in Europa aus einer Reihe von Gründen in einer Reihe von Ländern zu wenig strukturelle Anpassungen der Realwirtschaft in den letzten Jahren, insbesondere in den Arbeitsmärkten, gehabt haben. Und das können wir uns bei unserer demografischen Entwicklung in Deutschland im Besonderen und in Europa im Allgemeinen und bei der im Vergleich zu anderen Wirtschaftsregionen in der Welt viel höheren Sozialleistungsquote in Europa nicht leisten. Solche verzögerten Anpassungen können wir uns bei einer Sozialleistungsquote, die im europäischen Durchschnitt im Verhältnis zur volkswirtschaftlichen Leistungskraft doppelt so hoch ist wie in anderen industrialisierten Regionen der Welt wie Nordamerika oder Australien, nicht leisten, wenn wir unsere Wettbewerbsfähigkeit insgesamt erhalten und verbessern wollen. Und das ist nach meiner Überzeugung das Entscheidende, das entscheidende Problem in Europa.

Und deswegen muss man leider in Europa den anderen gelegentlich ein bisschen auf die Nerven fallen, damit man die Probleme der Fehlanreize möglichst klein hält. Wir haben es ja erlebt. Natürlich ist dieser Zusammenhang in den ersten Jahren der gemeinsamen europäischen Währung durch niedrige Zinsen, die viele unserer Partner so gar nicht gewohnt waren, überdeckt worden. Und in der Eurokrise, also in dieser Vertrauenskrise, die ja eine Folge der Finanz- und Bankenkrise war, ist das dann aufgebrochen. Und dann haben die Programmländer umso härtere Strukturreformen durchführen müssen. Aber die fünf Länder – Irland, Portugal, Spanien, Griechenland und Zypern –, die unter Programme gehen mussten, weil sie sich an den Finanzmärkten allein nicht mehr refinanzieren konnten, die also zu Strukturreformen auf dem Wege der Konditionalität angehalten wurden, um es freundlich zu sagen – deren Erfolge zeigen, dass dieser Weg der Reformen richtig ist.

Wenn man sich nur das spanische Beispiel anschaut, aus der tiefen Krise, aus der sie kommen, wie sie ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessert haben, dann ist das eklatant. Das gilt für alle Programmländer. Ihre Wettbewerbsfähigkeit hat sich verbessert. Die Lohnstückkosten sind gesunken. Die Leistungsdefizite sind zurückgegangen. Und das ist der Weg, den alle mehr oder minder in Europa gehen müssen. Übrigens wir selbst auch immer wieder. Wir dürfen uns auch nicht auf dem erreichten Stand ausruhen. Und natürlich müssen die Arbeitsmärkte in Europa überall hinreichend flexibel sein, wenn wir insbesondere das Problem der Jugendarbeitslosigkeit schnell lösen wollen. Und das müssen wir schnell lösen, wenn wir nicht eine ganze Generation in Europa für die europäische Einigung verlieren wollen.

Und dazu gehört dann auch die Sanierung der Haushalte. Weil die Sanierung der Haushalte zunächst einmal den bequemen Ausweg, der aber die Probleme nicht löst, ein bisschen vermeidet. Deswegen ist er nicht angenehm. Aber dafür hat man Finanzminister. Und darüber hinaus schafft eine nachhaltige Finanzpolitik Vertrauen in die Nachhaltigkeit der Reformen, weil sie für Solidität und Verlässlichkeit steht und weil sie so für die Bereitschaft von Investoren und Anlegern, von Unternehmern wie Verbrauchern sorgt, langfristig zu investieren. Und nur so entsteht nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung. Und das gilt in einem Umfeld geopolitischer Risiken, also weltpolitischer Instabilitäten, umso mehr.

Vertrauen ist der Schlüssel. Eine immer höhere Verschuldung führt zum Gegenteil. Sie kann deshalb kein Ausweg sein. Und um jedes Missverständnis zu vermeiden: Niemand weist darauf eindringlicher wieder und wieder hin, als die Europäische Zentralbank. Die sagt immer wieder: Es liegt an euch, Regierungen und Parlamenten, die notwendigen Strukturreformen durchzusetzen, eine dauerhaft expansive Geld- und Fiskalpolitik würde das Vertrauen in die langfristigen Wachstumsperspektiven zerstören. Also müssen wir, wenn es darum geht, Investitionen zu stärken, darauf achten, dass wir Vertrauen nicht verspielen. Und das heißt, bessere Rahmenbedingungen für private Investitionen zu schaffen, nicht zuletzt in die Infrastruktur. Und es heißt vor allem, mehr Investitionen staatlicherseits in Innovationen, in Bildung, Forschung und Entwicklung. Und wenn Sie sich die Zahlen des Bundeshaushalts und der mittelfristigen Finanzplanung anschauen, dann sehen Sie, dass genau dies die Prioritäten unserer Finanzpolitik auch für diese Legislaturperiode sind.

Das gilt für Deutschland, es gilt für Frankreich, es gilt für Europa, und Sigmar Gabriel und ich haben das gestern auch mit unseren französischen Amtskollegen besprochen und vereinbart. Wir müssen uns ja fragen: Es ist ja eigentlich in Europa Liquidität eher im Übermaß vorhanden. Und dennoch gibt es in Teilen Europas kleine und mittlere Unternehmen, die schlechte Finanzierungsmöglichkeiten haben. Und die schlechte Konjunktur in anderen europäischen Ländern beeinträchtigt natürlich auch uns, weil über 60 Prozent unserer Exporte in andere europäische Länder gehen. Warum gelingt es nicht, die reichlich vorhandene Liquidität stärker in unternehmerische Investitionen zu leiten? Deswegen glaube ich nicht, dass wir alleine durch eine nachfrageorientierte Politik die Probleme lösen können. Das muss man wieder und wieder begründen. Offenbar entstehen nachhaltiges Wachstum und neue Arbeitsplätze nicht durch immer mehr Liquidität und immer höhere Schulden. Sonst dürften wir eigentlich denknotwendig kein Problem haben.

Man muss sich ja mal wieder klarmachen: Die aktuelle Verschuldung der Industrieländer insgesamt, öffentliche und private, ist im Vergleich zur wirtschaftlichen Leistungskraft so hoch wie am Ende des Zweiten Weltkriegs. Und wir haben zurzeit auch eher weltweit eine Liquiditätsschwemme. Die Bilanzsumme der Notenbanken hat sich seit 2007 mehr als verdoppelt. Durch eine weitere Steigerung von Verschuldung und Liquidität würden wir nur neue Blasen, Unsicherheiten, Volatilität generieren und keine nachhaltige Lösung der Probleme erreichen. Deswegen helfen nur Strukturreformen, Vorrang für private Investitionen, Innovationen. Die europäischen Märkte sind ein Stück weit gesättigt in vielerlei Hinsicht. Deswegen ist es entscheidend wichtig, dass wir durch Innovationen auch neue Entwicklungsmöglich¬keiten entschließen. Und wir brauchen eben vor allem wieder Vertrauen in die Nachhaltigkeit der Politik, einer Wirtschaftspolitik, die verlässliche Rahmenbedingungen schafft.

Ich glaube auch, dass die Mobilisierung privater Investitionen volkswirtschaftlich wirkungsvoller ist, als jedes staatliche Ausgabenprogramm. Das gilt nicht nur für die Verkehrsinfrastruktur, es gilt genauso oder vielleicht noch mehr für Informations- und Kommunikationstechnologien und für die Energienetze. Und es gilt natürlich für Investitionen in Maschinen und Ausrüstungen in den Unternehmen selbst und für Investitionen in die Beschäftigten.

Investitionen in die Beschäftigten bringt mich zu der Bemerkung: Unsere älter werdende Gesellschaft wird mehr denn je auch Ältere brauchen, ihr Wissen, ihre Arbeitskraft, ihre Einsatzbereitschaft. Und deswegen müssen wir darauf achten, dass es nicht zu stärkeren finanziellen Fehlanreizen kommt, durch die Menschen früher aus dem Berufsleben aussteigen, während die finanziellen Lasten bei der Allgemeinheit verbleiben. Und deshalb auch unsere Forderung nach einem selbst bestimmten Renteneintritt bei mehr finanzieller Eigenverantwortung. Und auch dem Weiterarbeiten nach dem Beginn des regulären Renteneintrittsalters dürfen keine Hindernisse, auch nicht im Kündigungsschutz, im Wege stehen. Da sind Politik wie Tarifpartner gefordert.

Jedenfalls: Nur nachhaltiges Wachstum sorgt für nachhaltige Gewinne. Deswegen haben wir in Deutschland uns immer wieder auf unsere Stärken besonnen und versucht, unsere Schwächen abzustellen. Und unsere Stärken, das waren und sind vor allen Dingen die vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen, unsere starke industrielle Basis, das, was man neudeutsch auch Clusterbildung nennt, die Spezialisierung auf bestimmte Produkte, Produktgruppen und Dienstleistungen. Wir haben Produktivitätsgewinne durch regelmäßige Verbesserungen und tiefe Produktionsnetzwerke erzielt. Und wir haben im Gegensatz zu den meisten anderen, das ist eine spezifische Stärke Deutschlands, die ganze Breite der industriellen Wertschöpfungskette in Deutschland. Wir müssen alles daran setzen, dass das auch für die Zukunft erhalten bleibt, was insbesondere – aber daran arbeitet auch der Wirtschaftsminister mit Nachdruck – natürlich auch für die Energiepolitik gilt, wo wir darauf achten müssen, dass die Energiepreise es ermöglichen, dass wir auch in Zukunft Stahl- und Grundstofferzeugung in Deutschland haben, weil uns sonst die Fertigungsbreite und Fertigungstiefe verloren gehen würde.

In dieser Vernetzung wird übrigens auch das europäische Geschäftsmodell sichtbar – auch wenn man unsere Situation nicht Eins zu Eins auf die anderen Länder in Europa übertragen kann, in denen die industrielle Basis in der Regel kleiner, die Bedeutung des Mittelstands geringer und vor allen Dingen auch die duale Ausbildung zum Teil erst in den Anfängen ist. Duale Ausbildung ist ja neben der mittelständischen Breitendiversifizierung unserer Wirt-schaftsstruktur einer unserer stärksten Vorteile. Aber insgesamt gesehen sind in keiner Region der Welt Industrien und Dienstleister so eng verknüpft wie in Europa als Ganzem. Diese enge Verbundstruktur ist weltweit einzigartig. Wie gesagt: Es gehen über 60 Prozent unserer Exporte nach Europa. Die Europäisierung der Wertschöpfungskette ist ein spezifischer Vorteil der europäischen Union und insbesondere auch des Euroraums gegenüber anderen Handelsregionen – auch und im Besonderen in Asien.

Ein Beleg dafür ist auch – das ist in den letzten Monaten immer wieder ins Gedächtnis gerufen worden, auch von unseren Freunden und Partnern – die hohe Exportelastizität: Wenn zum Beispiel deutsche Exporte um 10 Prozent steigen, dann legt der Export von Vorleistungsgütern der deutschen EU-Partner um 9 Prozent zu. Und deswegen schwächt Deutschlands Stärke im Export unsere Partner nicht, sondern sie stützt unsere Partner. Die Wirtschaft in unseren Nachbarländern profitiert in hohem Maße von unseren Exporterfolgen. Deswegen ist unsere Stärke nicht etwas, was die Ursache der Probleme der anderen ist, sondern es ist ein Beitrag zu gemeinsamer europäischer Stärke – das muss man immer wieder in Erinnerung rufen.

Und natürlich ist der Euro – die europäische Währung – für viele gerade kleine und mittlere Unternehmen ein Schlüssel zu einer erfolgreichen Teilnahme an der Weltwirtschaft. Sie wissen, dass in den vielen mittelständischen Unternehmen – gerade auch im Bereich von Maschinen- und Anlagenbau – zwei Drittel der Geschäfte mit Partnern außerhalb der Eurozone in Euro getätigt werden. Und auch deshalb war die erfolgreiche Verteidigung des Euros, die Überwindung der Vertrauenskrise – was wir ja geschafft haben in den letzten Jahren, gegen manches Untergangsszenario – natürlich ein entscheidender Erfolg für die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Der Maschinen- und Anlagenbau – Eulen nach Athen getragen, aber ich muss es ja mal sagen, damit Sie wissen, dass ich voller Respekt vor den Gastgebern bin: Mit einer Million Beschäftigten im Inland, mit einer Produktion von gut 200 Milliarden Euro, mit einem Exportanteil von 78 Prozent in 2013 sind Sie der größte industrielle Arbeitgeber in Deutschland, und Sie sind natürlich eine Industrie, die im besonderen Maße von europäischer Bedeutung ist.

Ich habe davon gesprochen, dass man bei allen wirtschafts- und finanzpolitischen Überlegungen immer das Problem der Fehlanreize bedenken muss. Nämlich die Fehlanreize, die letzten Endes darin bestehen, dass, wenn man Entscheidungszuständigkeit und Haftung, wenn man Chance und Risiko voneinander trennt – wir haben es exemplarisch in der Finanz- und Bankenkrise in den Jahren 2007, 2008 und 2009 erlebt –, dass dann die Dinge schief gehen müssen. Wenn wir unseren Wirtschaftsstandort wettbewerbsfähig halten wollen, wenn wir also erwirtschaften wollen, was wir verteilen wollen, dann müssen wir in der Haushaltspolitik konsequent Kurs halten. Deswegen ist diese „schwarze Null“ nicht ein Symbol oder ein Fetisch, kein Selbstzweck, sondern sie ist ein Anker unserer verlässlichen Finanzpolitik. Die Überwindung der Krise – wir haben 2009 einen Rückgang unseres Volkseinkommens, unserer wirtschaftlichen Leistung von 5,6 Prozent gehabt – haben wir gerade durch eine wachstumsfreundliche Konsolidierung unseres Haushalts erreicht; und nicht etwa, weil wir noch Schulden gemacht haben, sondern, weil wir die zu hohe Verschuldung auf ein langfristig tragfähiges Maß, berechenbar und verlässlich, zurückgeführt haben. Und das dürfen wir auch jetzt nicht gefährden. Wir brauchen stabile Rahmenbedingungen in Deutschland, in der Eurozone und in der gesamten Europäischen Union. Denn nur wenn die privaten Investoren sich sicher sind, dass Reformen in Europa weitergehen, werden sie hier weiterhin langfristig investieren.

Zu verlässlichen Rahmenbedingungen gehört auch die Verlässlichkeit in der Steuerpolitik. Deswegen halten wir, was wir versprochen haben: Es wird keine Steuererhöhungen geben. Und wenn uns das Verfassungsgericht nicht zwingt, wird es auch bei der Substanzsteuer und der Erbschaftsteuer keine Veränderungen geben. Und nur soweit es das Verfassungsgericht überhaupt erzwingt – haben wir im Koalitionsvertrag geregelt –, müssen wir dem folgen; aber nur soweit, wie es vom Verfassungsgericht dann erzwungen ist. Ich bin der Überzeugung, es besteht überhaupt keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit für irgendwelche Veränderungen – aber das Gericht wird entscheiden.

Wir müssen allerdings auch darauf achten, dass wir unsere Steueransprüche vernünftig durchsetzen. Denn die wachsende Diskrepanz zwischen den Unternehmen, die insbesondere im Internet tätig sind, die weltweit agieren und die damit zum Teil marginale Steuersätze nutzen – unter Ausnutzung aller komparativen Vorteile durch die verschiedenen steuerlichen Jurisdiktionen –, und denjenigen, die das nicht können, ist natürlich zunehmend ein Problem; nicht nur für die Leistungsfähigkeit der Haushalte, sondern für die Wettbewerbsfähigkeit gerade der mittelständischen Unternehmen. Und deswegen bemühen wir uns, diese Entwicklung global einigermaßen in den Griff zu bekommen. Leichter gesagt als getan. Aber wir haben ziemlich Fahrt aufgenommen.

Ende Oktober werden wir in Berlin eine große Konferenz des sogenannten Globalen Forums haben, bei dem inzwischen rund 50 Länder unterzeichnen werden – für den automatischen Informationsaustausch ab 2017. Das ist ein wichtiger Schritt. Und wir wollen zugleich auch die Bewegung nutzen, um die Möglichkeiten der legalen Steuervermeidung durch die Nutzung von unterschiedlichen Regulierungen in den globalen Steuersystemen auf ein vernünftiges, wirtschaftlich zu rechtfertigendes Maß zu reduzieren: auch mit der sogenannten BEPS-Initiative – BEPS ist die Abkürzung für Base Erosion and Profit Shifting –, mit der wir im Rahmen der G20 gut voran kommen. Wir wollen erreichen, dass zum Beispiel die Patentboxen, die ja zunehmend zu einem Instrument werden, mit dem steuerlich relevante Erträge – notfalls auch mit Briefkastenfirmen – in Länder mit niedrigerer Besteuerung verschoben werden können, auf ein vernünftiges Maß so begrenzt werden, dass nur eigene Forschungs- und Entwicklungsleistungen begünstigt werden dürfen. Auch da sind wir auf einem guten Weg.

Wir werden uns bemühen, eigene Forschungsleistungen auch durch die Verbesserung der Rahmenbedingungen zu fördern, und wir werden daran arbeiten, die Möglichkeiten auch für Wagniskapitalfinanzierungen weiter zu fördern. Wir haben die Steuerfreiheit des Investitionszuschusses auf den Weg gebracht und wir arbeiten jetzt daran, wie wir vor allen Dingen für Start-Up-Unternehmen in der Wachstumsphase den wachsenden Eigenkapitalbedarf besser decken können. Die ganz andere Finanzierungstruktur kontinentaleuropäischer Unternehmen im Vergleich zu den angelsächsischen finanzmarkt- oder kapitalmarktorientierten Finanzierungssystemen ist für die Dynamik der Start-Ups nicht ausreichend. Da suchen wir auch mit Verbriefungen bessere Lösungen, um auch dieses Element wirtschaftlicher Dynamik für unsere Wachstumsentwicklung zu nutzen.

Was den Bereich staatlicher Investitionen betrifft, haben wir ganz bewusst in unserer Finanzpolitik seit 2010 den Schwerpunkt gesetzt: Bildung, Wissenschaft und Forschung. Der Anteil der Ausgaben des Ministeriums für Wissenschaft und Forschung im Bundeshaushalt war niemals so hoch, wie er sich in den Jahren seit 2010 entwickelt hat, und er wird sich auch in dieser Legislaturperiode, so ist es festgelegt, schrittweise weiter erhöhen. Wir haben darüber hinaus mit den Ländern verabredet, dass der Bund die Kosten des BAföGs insgesamt übernimmt und dass dafür die Länder die Mittel, die sie nicht mehr für BAföG ausgeben müssen, in Zukunft für zusätzliche Investitionen wie in Schule und Hochschule nutzen werden. Ich hoffe, dass die Länder das auch so realisieren, wie sie es versprochen haben; sodass wir dann insgesamt auch mit dem Hochschulpakt die finanzielle Ausstattung der deutschen Hochschulen kontinuierlich weiter verbessern werden. Wir sind übrigens mit unseren Forschungsausgaben international in der Spitzengruppe, und mit der starken Forschung und Entwicklung und den hohen Ausrüstungsinvestitionen unserer Industrie stehen wir in den wachstumsrelevanten Investitionen im internationalen Vergleich gar nicht so schlecht da, und das soll auch so bleiben.

Wir denken auch über neue Formen von Aufgabenteilung zwischen Staat und Privaten nach. Wir arbeiten daran, wie wir in den Bereich der Verkehrsinfrastruktur stärker investieren, wie wir dafür das Kapital der großen Kapitalsammelstellen, der Versicherungen, der Pensionskassen gewinnen können. Natürlich weiß ich auch, dass die Debatte über PPP-Projekte immer leicht damit endet, dass man sagt, der Staat hat ja die günstigste Finanzierung, was sogar stimmt, jedenfalls zurzeit. Aber Partnerschaftsprojekte zwischen Staat und privater Wirtschaft sind keines Wegs nur günstigere Finanzierungsmodelle. Sondern sie dienen vor allen Dingen dazu, dass Managementvorteile, die die Wirtschaft hat und die staatliche Verwaltung da und dort offensichtlich nicht so effizient hat – es gibt ja spektakuläre Beispiele, die ich jetzt nicht erwähnen will –, dass wir diese Managementvorteile nutzen und damit Effizienzgewinne für den Haushalt sowie für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und Dynamik erzielen.

Das gilt übrigens genauso für die europäische Ebene, wo wir jetzt am Beginn einer neuen Legislaturperiode in Parlament und Kommission dabei sind, stärker die Schwerpunkte auf investive Ausgaben zu setzen – ich nenne die Bereiche Energiewende, Energieunion, digitaler Sektor. Bei der dramatisch wachsenden Entwicklung in der Internetwirtschaft werden wir nur in europäischen Größenordnungen einigermaßen schritthalten können mit der Dynamik in anderen großen Wirtschaftsräumen. Deswegen brauchen wir dringend auch Regulierungsschritte, die eine Digitalunion ermöglichen – dass wir etwa nicht 35 unterschiedliche Netze in Europa haben, die mit einem oder zwei amerikanischen Netzen natürlich nicht konkurrieren können. Und darüber hinaus sind Investitionen nötig in Forschung, in Bildung, in Innovationen, in Start-Up-Unternehmen und in eine gute überregionale Verkehrsinfrastruktur. Darauf will sich auch die neue europäische Kommission konzentrieren. Wir unterstützen sie dabei.

Wir unterstützen die Kommission auch dabei, dass wir die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika erfolgreich abschließen. Helfen Sie uns auch dabei, unsere Bevölkerung davon zu überzeugen, dass Freihandel, wenn er richtig ausgestaltet ist, nicht die kulturelle Identität Europas gefährdet, sondern uns allen zu mehr Wachstum, zu mehr Wohlstand, sozialer Sicherheit und zu mehr Arbeitsplätzen verhilft. Ohne einen Abschluss der TTIP-Verhandlungen haben wir weniger Chancen in dieser globalisierten Wirtschaft, zu unseren europäischen Verpflichtungen zu stehen und unsere Ansprüche zu erfüllen. Natürlich muss das Ziel sein, einen vernünftigen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Vorstellungen und Traditionen beider Seiten des Atlantiks zu Stande zu bringen. Aber der entscheidende Vorteil eines gemeinsamen Freihandels darf nicht vor lauter Bedenken aus dem Blick geraten.

Bei allen Krisen, bei allen Sorgen, bei allem, was in Europa noch nicht gut genug ist, brauchen wir uns auch nicht zu verstecken. Wir brauchen ein gewisses europäisches Selbstbewusstsein. Unser Bruttoinlandsprodukt auf der Ebene der EU war im vergangenen Jahr mit über 13.000 Milliarden Euro größer als das der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Wirtschaftsleistung der Europäischen Union hat sich in den Jahren 2000 bis 2012, in Dollar gerechnet, verdoppelt und die Exporte sind um das Zweieinhalbfache gestiegen. Also ganz so schlecht sind wir Europäer gar nicht. Aber wir werden diese Stärke nur behalten können, wenn wir auch weiterhin an uns selber arbeiten – jeder an sich. Die Wirtschafts- und Währungsunion hat ihren Mitgliedern – basierend auf der europäischen Einigung und der transatlantischen Partnerschaft – die längste Wohlstands- und Friedensperiode der jüngeren Geschichte gebracht, und wir sollten alles dafür tun, dass das andauert, gerade wenn die Zahl der Krisen und Kriege um uns herum zunimmt.

Aus Gründen der globalen Wettbewerbsfähigkeit – und auch das muss ich in Europa meinen Kollegen wieder und wieder sagen – ist es entscheidend, dass wir ein starkes Europa haben. Wenn wir in Europa gelegentlich darum kämpfen, dass man nicht bequeme Auswege sucht, sondern dass wir für Strukturreformen eintreten, weil sie notwendig sind, dann geht es uns nicht um Rechthaberei, sondern es geht uns nur darum, dass wir ein starkes Europa brauchen – das nur dann im 21. Jahrhundert seine Ansprüche und Erwartungen erfüllen kann. Wir werden die Herausforderung dieses 21. Jahrhunderts als Europäer nur gemeinsam erfolgreich bewältigen können. Das ist banal, aber es ist richtig, und dafür werden wir weiterhin arbeiten.“