Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble beim Festakt zur Eröffnung des Internationalen Deutschen Turnfests 2009
2009 ist ein Jahr herausragender Jubiläen. Gerade haben in Berlin Hunderttausende den 60. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes gefeiert – und damit die Geburtsstunde unserer Republik. In Frankfurt begingen wir vor kurzem hier, an diesem historischen Ort, den 160. Jahrestag der Paulskirchenverfassung – ein Datum, das wichtiger ist für unsere heutige Demokratie als vielen Menschen bewusst ist. Viele herausragende Persönlichkeiten in dieser ersten deutschen Nationalversammlung waren Mitbegründer der Turnbewegung: Friedrich Ludwig Jahn, uns allen bekannt als „Turnvater Jahn“, auch Johann Christoph Friedrich GutsMuths, der die Sportpädagogik begründet hat.
Schon damals hatten Politik und Sport viel miteinander zu tun. Die Turnbewegung verstand sich gerade nicht nur als Ort, wie es damals hieß, der „Leibesertüchtigung“. Sie war von Beginn an eine Gemeinschaft, die Gesellschaft und Staat mitgestalten wollte. Das war urdemokratisch, und das ist bis heute prägend für unser Staatsverständnis, in dem das Engagement der Bürger in gesellschaftlichen Gruppen – von den Sportvereinen über Kirchengemeinden, Jugend-, Sozial- und vielen anderen Verbänden bis zu Gewerkschaften und Parteien – unverzichtbar ist. Die Selbstorganisation der Bürger in demokratischen Organisationen ist das Fundament unserer Demokratie. Es macht Demokratie überhaupt erst möglich, weil es Selbstbestimmung nur dort geben kann, wo sich Menschen dieser Herausforderung stellen und Verantwortung übernehmen.
Engagement für die Demokratie alleine – so stark und leidenschaftlich es auch sein mag – würde allerdings auch nicht ausreichen, um ein demokratisches Miteinander zu sichern. Auch das ist eine Lehre aus den Anfängen von Demokratie und Sport in unserem Land. Es braucht belastbare Strukturen, ein die Freiheit sicherndes Recht und stabile Institutionen. Unsere Demokratie wäre nicht lebensfähig, wenn wir nicht diese freiheitliche Ordnung hätten, die den Bürgern Raum gibt für das Engagement und – bei aller Vielfalt und Dynamik – auch ein hinreichendes Maß an Einheit und Verlässlichkeit schafft. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir das Bewusstsein für den Wert der Freiheit und einer die Freiheit schützenden Verfassung wach halten.
Aber selbst die beste Verfassung kann das Engagement der Bürger nicht ersetzen. Der Staat ist auf Voraussetzungen angewiesen, die er selbst nicht schaffen kann. Er stößt in seinen Handlungsmöglichkeiten oft an Grenzen. Das gilt im Großen wie im Kleinen der Politik. Wir konnten – mit viel Glück – die staatliche Einheit unseres Volkes wiedergewinnen. Auch die europäischen Verträge haben Staats- und Regierungschefs unterzeichnet, im Auftrag der Parlamente. Die innere Einheit Deutschlands und Europas lässt sich aber weder verordnen noch durch Verträge herstellen. Sie wächst und gedeiht in dem Maße, wie wir alle uns als Bürger Deutschlands und Europas verstehen und engagieren.
Es kommt also auf Beides an: auf die Ordnung, in der wir leben, und darauf wie wir sie – jeder für sich, vor Ort, in den Ländern, in Deutschland und Europa – mit Leben füllen. Die Werte und Inhalte, mit denen wir das tun, fallen nicht vom Himmel, sondern stammen aus der Gesellschaft selbst. Sie entstehen und werden weitergegeben in den gesellschaftlichen Gruppen. In der Debatte über diese Werte und Inhalte entwickelt sich ein Verständnis, was uns als Einzelne und als Gemeinschaft ausmacht. So entstehen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und auch die Bereitschaft, über sich selbst hinauszuwachsen.
Der Sport, das weiß jeder aus seinem Heimatort, spielt dabei eine herausragende Rolle. Der Sport in den Vereinen stärkt die soziale Kompetenz vor allem von Kindern und Jugendlichen. Er bringt Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten, aus den verschiedensten Berufen und sozialen Gruppen zusammen. Der gemeinsame Sport schlägt tatsächlich Brücken, ganz so wie Sie es mit dem Motto des Internationalen Deutschen Turnfests sagen. Er verbindet über alle Grenzlinien hinweg, sei es das Alter mit seinen unterschiedlichen Erfahrungen, sei es die ethnische Herkunft oder das religiöse Bekenntnis. Auch Politiker verschiedener Parteien verbindet der Sport, zum Beispiel beim Fußball in der Mannschaft des Deutschen Bundestags.
Schon im ganz Praktischen hat der Sport eine größere politische Bedeutung als man vielleicht auf den ersten Blick erkennt. Wer miteinander Sport macht, lernt nicht nur sich selbst und andere besser kennen, sondern auch dass es gut ist, Regeln für das gesellschaftliche Miteinander zu haben. Ohne die Bereitschaft der Menschen, sich gemeinsamen Regeln zu unterwerfen, kann eine Gesellschaft nicht freiheitlich sein. Denn dann zerstört die Freiheit des einen die des andern und umgekehrt.
Ich glaube uns allen ist in den letzten Monaten klar geworden, wie wichtig ein verantwortlicher Gebrauch von Freiheit ist. Verantwortung bedeutet für mich die Einsicht in die Notwendigkeit der Beachtung von Spielregeln und die Fairness, sich auch einen Vorteil entgehen zu lassen, wenn man erkennt, dass es nicht richtig wäre. Der Sport stärkt unser natürliches Empfinden dafür – und damit unsere Bereitschaft, anderen mit Fairness zu begegnen und den eigenen Erfolg nur auf faire Weise anzustreben. Auch diese Wirkung des Sports sollten wir in seiner politischen Bedeutung nicht unterschätzen: Sport motiviert zu Leistung, zum disziplinierten und ausdauernden Kämpfen für den Erfolg.
Jede dieser Funktionen des Sports für unsere Gesellschaft wäre allein schon Grund genug, den Sport zu fördern. Zusammen genommen schaffen sie ein Potential, aus dem unsere Gesellschaft schöpft und mit dem sie sich jung und fit hält. Dabei ist der Sport nicht nur etwas für junge Menschen. Der Deutsche Turner-Bund hat mehr Mitglieder, die über 50 Jahre alt sind, als jeder andere Sportverband. 900 000 von Ihnen sind sogar über 60 Jahre alt. Auch sonst braucht der Verband keinen Vergleich zu scheuen. Mit 5 Millionen Mitgliedern in 20 000 Vereinen ist der Deutsche Turner-Bund der zweitgrößte Spitzenverband unter den Mitgliedsverbänden des Deutschen Olympischen SportBundes. Um den Nachwuchs müssen Sie sich kümmern, aber nicht sorgen: 1,6 Millionen Aktive sind Kinder und Jugendliche unter 14 Jahren.
Das sind Zahlen, mit denen Sie sich sehen lassen können. Sie belegen die Attraktivität des Turnens als Disziplin, aber auch der vielen Vereine – und das in einem sportlichen Umfeld, in dem es an Angeboten nicht mangelt und die Konkurrenz durch immer neue Sportarten stetig wächst. Dieser Erfolg darf und soll Sie motivieren, sich weiter zu engagieren – für Ihren Verein, den Verband und für den Sport in unserem Land.
Sehen lassen können sich auch die Ergebnisse des Deutschen Turnverbands bei internationalen Wettkämpfen. Seit den Olympischen Spielen in Athen 2004 hat das Turn-Team Deutschland zahlreiche Erfolge eingefahren. Mich haben die Leistungen bei der wunderbaren Weltmeisterschaft 2007 in Stuttgart beeindruckt – der dritte Platz für die Mannschaft genauso wie der Weltmeister-Titel für Fabian Hambüchen. Und dann die Olympischen Spiele in Peking 2008: Fabian Hambüchen und Oksana Tschusovitina holten Medaillen, das Team Platz 4 in der Mannschaftswertung. Bei der Europameisterschaft vor wenigen Wochen in Mailand haben wir dann noch einmal eine Steigerung erlebt. Wieder war Fabian Hambüchen der herausragende deutsche Turner: als erster deutscher Athlet holte er die Goldmedaille im Mehrkampf. Zusammen mit Matthias Fahrig gelang ihm dann auch noch der Doppelsieg am Boden. Auch Philipp Boy möchte ich erwähnen, der im Mehrkampf den 4. Platz erzielte. Komplettiert wurde dieses gute Ergebnis durch die Turnerinnen Anja Brinker und Kim Bui, die mit einer Bronzemedaille und einem 5. Platz überzeugten.
Der deutsche Turnsport ist also auch in der Spitze auf einem guten Weg. Ich hoffe, dass wir 2011 in Berlin bei der Europameisterschaft im Gerätturnen ebenso gute Leistungen sehen werden. Das wäre eine gute Vorbereitung für Olympia 2012 in London – und es wäre ein Ansporn für alle Turnerinnen und Turner.
Spitzen- und Breitensport hängen eng miteinander zusammen. Der DTB weiß das und lebt es auch. Von Erfolgen in der Spitze gehen immer auch Signale für die Basis aus. Es motiviert uns alle, wenn unsere Mannschaft Spitzenleistungen zeigt. Herausragende Sportler-Persön-lichkeiten regen zur Nachahmung an. Sie sind Identifikationsfiguren, die als Vorbilder für Leistung, Fairness und Sportsgeist stehen.
Wir – unsere Gesellschaft, der Sport – brauchen solche Vorbilder. In einer Zeit, in der immer mehr Kinder und Jugendliche gesundheitliche Probleme bekommen, weil sie zu wenig Bewegung haben, sind sie noch einmal besonders wichtig. Sie machen außerdem deutlich, dass in unserer Gesellschaft jeder seinen Platz finden kann, wenn er auf die Suche nach seinen Talenten geht und sie trainiert. Ob nun Breitensport oder beginnender Leistungssport: die Nachwuchsarbeit der Turnvereine bringt großen Nutzen und hat einen hohen Stellenwert. Was als Bewegungserziehung beginnt, wirkt zugleich positiv auf die Persönlichkeitsentwicklung. Und es gibt uns die Möglichkeit, Spitzentalente so früh wie möglich zu entdecken.
Wie gut uns das gelingt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Maßgeblich ist, wie gut die Zusammenarbeit zwischen Sportlehrern, Übungsleitern und Trainern funktioniert. Sie sind die Bindeglieder zwischen den Schulen und Sportvereinen. Erfolgreich bei der Nachwuchssuche können Sie aber natürlich nur sein, wenn möglichst viele Kinder und Jugendliche für den Sport begeistert werden und mitmachen. Das ist heute vielleicht schwieriger als früher, als es weniger Medien und andere konkurrierende Freizeitangebote gab. Umso wichtiger sind Wettbewerbe, bei denen Kinder und Jugendliche die Freude und all die anderen Gefühle erleben, die mit dem sportlichen Wettkampf einhergehen. Die Bundesjugendspiele, „Jugend trainiert für Olympia“, aber auch Veranstaltungen wie die Kinderturn-Kampagne, die der Deutsche Turner-Bund anlässlich der Turn-Weltmeisterschaft 2007 ins Leben gerufen hat, sind wichtige Erlebnisformen für die Leistungs- und Nachwuchsförderung. Dort verbindet sich das Erleben von Gemeinschaft mit dem Streben nach Spitzenleistung und sportlichem Erfolg.
Diese Mischung ist es, die den Breiten- und Leistungssport verbindet, und damit auch Sportler mit verschiedenen sportlichen Zielen und in verschiedenen Leistungskategorien. Wo das gelingt, haben wir mehr als nur ein Event, das schon bald wieder in Vergessenheit gerät.
Das Turnfest, das wir heute eröffnen, fügt dem noch eine weitere Dimension hinzu: Das Internationale Deutsche Turnfest ist ein Fest der Vereine vor Ort ebenso wie der internationalen Begegnung. Hier treffen sich Menschen, die in ihren Städten und Gemeinden aktiv sind und das Leben dort entscheidend mitprägen. Zugleich begrüßen Sie und wir heute über 500 Gäste aus 36 Nationen. Und im internationalen Jugendlager des Turnfests campieren 250 junge Sportler aus Deutschland mit 250 Jugendlichen aus 15 Gastnationen. Auch mit den älteren Teilnehmern kommen die Jugendlichen in Kontakt – spätestens beim Wettbewerb um Kraft und Geschicklichkeit im Mehrkampf.
Und noch etwas ist besonders an diesem Internationalen Deutschen Turnfest: Mit der Turnfest-Akademie führen Sie den größten Sport- und PraxiskongressEuropas durch. In mehr als 600 Workshops und Seminaren werden sich Übungsleiter, Trainer, Sportlehrer, Erzieher, Studenten, Führungskräfte und andere Interessierte miteinander austauschen und fortbilden. Das wird dem Sport Impulse geben weit über das eigentliche Wettkampfgeschehen hinaus. Ich wünsche mir, dass auch diese wichtige Facette dieses Turnfestes die Aufmerksamkeit der Medien gewinnt, damit auch deutlich wird, was alles in den Vereinen und Verbänden des Turnsports und des Sports in Deutschland insgesamt geleistet wird.
Denn möglich ist diese Veranstaltung überhaupt nur dank einer gelungenen Verbindung von Professionalität bei Veranstaltern und teilnehmenden Vereinen und dem Engagement einer hohen Zahl freiwilliger Helfer. Damit bin ich eigentlich wieder bei dem, was ich am Anfang über unsere Verfassung und eine freiheitliche Ordnung gesagt habe, nach der schon die Parlamentarier in der Paulskirche 1848 strebten: Ohne verlässliche Strukturen geht es nicht, ohne engagierte Menschen, die sie mit Leben füllen, aber auch nicht. Wenn im Sport Professionalität und Engagement, Vernunft und Leidenschaft für die gemeinsame Sache ineinander greifen, dann ist alles möglich.
Das wünsche ich Ihnen allen – den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, den Besuchern, den Organisatoren und den vielen ehrenamtlichen Helfern – für die kommenden Tage. Ich wünsche Ihnen ein Internationales Deutsches Turnfest hier in Frankfurt am Main, an das wir uns alle noch gerne und lange erinnern werden. Und dass die Brücken, die Sie in den nächsten Tagen zueinander schlagen, lange bestehen und dauerhaft Menschen untereinander in Verbindung bringen.