„Solider Haushalt als Basis von Wachstum und Geldwertstabilität“



Interview mit dem Tagesspiegel vom 27. September 2014.

Tagesspiegel: Herr Schäuble, haben Sie Mitleid mit den deutschen Sparern?

Ich habe Verständnis, wenn sich Menschen wegen der niedrigen Zinsen Särgen um ihr Erspartes machen. Diese Sorgen sind aber unberechtigt. Denn das Verhältnis von Sparzinsen und Preissteigerungsrate ist heute nicht wesentlich ungünstiger als in den vergangenen zwanzig Jahren. Da zeigt sich mal wieder: Wirtschaft hat sehr viel mit Wahrnehmung zu tun. Wenn die Sparzinsen drei Prozent betragen und das Geld gleichzeitig mit drei Prozent an Wert verliert, stört das nur wenige. Wenn Zinsen und Inflation aber bei einem Prozent liegen, dann verunsichert das auf einmal die Menschen.

Tagesspiegel: Was sollen die Sparer tun: das Geld ausgeben, Immobilien kaufen oder Aktien?

Der Bundesfinanzminister gibt keine Anlagetipps. Ich rate dazu, einen kühlen Kopf zu bewahren. Wer sichere Anlagen sucht, etwa für die Alterssicherung, hat nie viel mehr als den Ausgleich der Preissteigerung erhalten. Nur mit risikoreicheren Anlageformen können höhere Erträge erzielt werden. Auch das sollten die Menschen wissen. Glaubt man den Wirtschaftsexperten, dann gibt es einen riesigen Investitionsstau in Deutschland.

Tagesspiegel: Warum nehmen Sie bei historisch niedrigen Zinsen nicht mehr Kredite auf um Straßen und Schulen zu bauen oder marode Brücken zu sanieren?

Ich warne davor, so zu tun, als könne man in Deutschland gefahrlos keine Brücke mehr überqueren. Der Bund investiert Milliardenbeträge in die Infrastruktur. Es ist ausreichend Geld da, um baureife Projekte im Bundesfernstraßenbau abzuwickeln. Natürlich haben wir mit Blick auf die Zukunft einen großen Investitionsbedarf. Deshalb beraten wir mit Ländern und Kommunen und mit den europäischen Partnern, wie wir noch mehr tun können. Mehr Schulden zu machen, kommt aber nicht infrage. Denn Grundlage unseres Wachstums und der Geldwertstabilität ist ein nachhaltig finanzierter Staatshaushalt. Es ist und bleibt falsch, dass es uns wirtschaftlich besser gehen würde, wenn wir mehr Schulden machen würden.

Tagesspiegel: Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft nennt das Streben nach einem ausgeglichenen Haushalt einen „Fetisch“. Will sich die Ministerpräsidentin nicht mehr an die Vorgaben des Grundgesetzes halten?

Es waren doch die Bundesländer, die darauf bestanden haben, die Schulden bremse im Grundgesetz zu verankern. Damit ist nun festgeschrieben, dass die Länderhaushalte ab 2020 ohne neue Schulden auszukommen haben. Es ist nicht nachzuvollziehen, wenn ausgerechnet die nordrhein-westfälische Regierungschefin das Streben nach soliden Haushalten als „Fetisch“ bezeichnet.

Schließlich hat der Gesamtstaat mehr als zwei Billionen Euro Schulden, und Nordrhein-Westfalen ist vom Ziel der Senkung Neuverschuldung auf null noch weit entfernt.

Tagesspiegel: In welchem Ausmaß braucht Deutschland mehr private Investitionen in Infrastruktur?

Ich habe immer gesagt, dass wir mehr als die geplanten fünf Milliarden Euro in Infrastruktur investieren werden. Zusätzliche Mittel müssen aber erst erwirtschaftet werden. Der Bundesverkehrsminister arbeitet mit Hochdruck daran, neue Investitionen vorzubereiten. Und wir denken darüber nach, wie man Projekte mit privater finanzieller Beteiligung entwickeln kann. Wir wollen da möglichst bald handlungsfähig sein. Zusätzlich steigen wir in die Nutzerfinanzierung von Infrastruktur ein.

Tagesspiegel: Kommt die Pkw-Maut in dieser Legislaturperiode?

Der Verkehrsminister arbeitet mit Unterstützung der anderen Ressorts an einem Gesetzentwurf.

Tagesspiegel: Warum glaubt CSU-Chef Horst Seehofer, dass Sie die Maut hintertreiben?

Niemand in der Union muss auch nur einen Gedanken darauf verwenden, ob ich loyal zu einer Regierung und den Beschlüssen der Union stehe. Den Beweis dafür‘ habe ich in meinem Leben hinreichend erbracht. Das weiß auch Horst Seehofer.

Tagesspiegel: Herr Schäuble, ist es 25 Jahre nach dem Fall der Mauer nicht Zeit, den Solibeitrag der Steuerzahler zur Finanzierung der deutschen Einheit abzuschaffen?

Es gibt keinen rechtlichen, aber einen gewissen politischen Zusammenhang zwischen dem Auslaufen des Solidarpaktes II im Jahr 2019 und dem Solidaritätszuschlag. Absehbar ist, dass auch nach 2019 noch ein großer Ausgleichsbedarf für die neuen Bundesländer besteht, weil deren Wirtschaftskraft noch immer weit unter dem Durchschnitt im Westen liegt. Bund und Länder führen derzeit intensive Gespräche über die Fortsetzung ihrer Finanzbeziehungen nach 2019. Das sind schwierige Gespräche, weil es vielfältige Interessen gibt. Man kann den Solidaritätsbeitrag abschaffen, man kann ihn auch erhalten. Für letzteren Fall jedoch muss man allerdings eine eindeutige verfassungsrechtliche Begründung haben. Die kalte Progression ist zum Symbol für die Ungerechtigkeit des Steuersystems geworden.

Tagesspiegel: Warum wollen Sie diese heimliche Steuererhöhung bei jeder Lohnanhebung nicht abschaffen?

Ich habe in der letzten Legislaturperiode dazu einen Gesetzentwurf eingebracht. Aber der Bundesrat hat ihn abgelehnt, und bis heute lehnt es die Mehrheit im Bundesrat ab, Gesetze zu billigen, die zu Mindereinnahmen in den Landeshaushalten führen. Forderungen aus den Ländern, ich müsse die kalte Progression abschaffen, kann ich deshalb nicht ernst nehmen.

Tagesspiegel: Also wird die kalte Progression in dieser Legislaturperiode nicht abgeschafft?

Ich habe schon 2010 die Abschaffung der kalten Progression gefordert. Das Copyright dafür liegt also bei mir. Aber zur Wahrheit gehört auch: Die Wirkung der kalten Progression wird mittlerweile völlig überbewertet. Denn der steuererhöhende Effekt ist für die Menschen erst bei einer höheren Inflation wirklich spürbar. Außerdem zahlt ohnehin nur die Hälfte aller Menschen Einkommensteuern, deren Höhe im Vergleich zu früher und zu anderen Ländern obendrein moderat ist.

Tagesspiegel: Der CDU -Wirtschaftsflügel pocht auf einen Beschluss beim CDU-Parteitag im Dezember, wonach die kalte Progression noch in dieser Legislatur abgebaut werden soll. Werden Sie zustimmen?

Ich werde den Sachverhalt so nüchtern und klar beim Parteitag erläutern, wie ich es hier getan habe. Ich wehre mich dagegen, wenn Einzelne in der Union den Eindruck erwecken, es läge an uns, dass die kalte Progression noch nicht abgebaut ist.

Tagesspiegel: Wie groß ist die Gefahr, dass die Finanzplanung zu Makulatur wird, weil die internationalen Krisen die Wirtschaft abwürgen?

Im Augenblick sehe ich diese Gefahr nicht. Aber die Geschichte lehrt, dass man immer damit rechnen muss, dass externe Effekte zu Änderungen in der Haushaltsplanung führen können. Wir beobachten in der Ukraine eine Entwicklung, mit der niemand rechnen konnte. Europa arbeitet hart daran, den Konflikt einzudämmen. Und auch die Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten hat sich niemand gewünscht. Wir müssen feststellen, dass unsere Hoffnungen, dass die Welt im Jahr 2014, also einhundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, weiter ist, nicht aufgehen. Die Welt bleibt ein gefährlicher Ort, und auch Deutschland wird das spüren.

Tagesspiegel: Werden die deutschen Steuerzahler die Ukraine mit einem Milliardenkredit vor dem Bankrott bewahren müssen?

Zunächst einmal ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass der brüchige Waffenstillstand hält und die Ukraine die Chance zu eigenständiger Entwicklung erhält. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise werden für die Ukraine natürlich gewaltig sein, und das Land wird die Lasten nicht alleine tragen können. Deshalb helfen wir. Und wir werden natürlich im Rahmen des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Union weiter solidarische Hilfe leisten. So, wie uns nach dem Zweiten Weltkrieg auch geholfen wurde.

Tagesspiegel: Der Bundespräsident, der Außenminister und die Verteidigungsministerin haben angekündigt, dass sich Deutschland international mehr engagieren wird. Wann stocken Sie den Etat der Bundeswehr auf?

Die Welt erwartet von uns schon lange ein größeres Engagement. Jeder muss zur globalen Stabilisierung seinen Teil beitragen, und der Anteil von wirtschaftlich so erfolgreichen Ländern wie Deutschland ist natürlich größer. Denn unser Interesse an einer stabilen Welt ist groß. Aus den Erfahrungen der Geschichte ist Deutschland allerdings in militärischen Fragen sehr zurückhaltend. Ein Teil der momentanen Probleme der Bundeswehr liegt ja nicht am fehlendem Geld, sondern darin, dass die Industrie nicht so schnell liefern kann, wie das gewünscht ist. Ursula von der Leyen hat ja zu Recht erst vor kurzem gesagt, dass die Industrie zunächst einmal lieferfähig sein muss.

Tagesspiegel: Sie gehören zu den erfahrensten Unions-Politikern. Wie soll die Union mit der AfD umgehen?

Eine Auswirkung der Moderne ist, dass die Bindekraft von Parteien nachlässt. Politische Gruppierungen wie die AfD, die hemmungslos alles demagogisch missbrauchen, was man missbrauchen kann, haben in diesen Zeiten leichtes Spiel. Gott sei Dank ist deren Erfolg meist temporär. Aber wir müssen uns mit diesen Populisten mit aller Entschiedenheit auseinandersetzen.

Tagesspiegel: Liegt der Erfolg der AfD auch an der Vernachlässigung eines politischen Milieus durch die CDU?

Nein. Es ist doch leicht zu durchschauen, mit welchen Mitteln die AfD zu Werke geht. Zunächst wollte sie den Menschen einreden, ohne Euro ginge es allen besser. Dass ein Professor der Volkswirtschaft so einen Unsinn behauptet, ist schon eine Zumutung. Denn jeder Ökonom weiß, dass unser Lebensstandard ohne europäische Integration weit niedriger wäre. Nun propagieren die gleichen Leute Fremdenfeindlichkeit, instrumentalisieren Ausländerkriminalität und schimpfen auf offene Grenzen. Das ist unfassbar und erinnert mich an die Republikaner, die in den 90er Jahren im Landtag von Baden-Württemberg saßen. Ich verabscheue hemmungslose Demagogie und ich hoffe, dass das keinen Bestand hat.

Tagesspiegel: Was würde es für die Union bedeuten, wenn in Thüringen Rot -Rot -Grün käme?

Die Wähler haben doch ein ganz klares Votum abgegeben: Sie wollen eine Landesregierung, die von Christine Lieberknecht und der CDU geführt wird. Die Bildung einer Koalition, die nicht von Frau Lieberknecht geführt wird, wäre eine Verfälschung des Wählerauftrages.

Das Interview führten Stephan Haselberger und Antje Sirleschtov.