Rede des Bundesministers der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble, anlässlich der Auftaktveranstaltung zur Vorbereitung des Internationalen Turnfests 2017 und zur Eröffnung des Deutschen Turntages 2015 am 21.11.2015 in Berlin
Solidarität, Gemeinschaft und Verantwortung sind die prägenden Werte der Turnbewegung – seit mittlerweile über 200 Jahren. Sie sind auch Bausteine unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Und sie nehmen uns gerade auch dann in die Pflicht, wenn diese freiheitliche Ordnung zur Zielscheibe von Terroristen wird, wie in Paris am Freitag vor einer Woche.
Es ist eine deprimierende Wiederkehr des Gleichen, die wir immer wieder erleben; auch nicht erst seit dem 11. September 2001; aber seither auch in Europa immer wieder.
Die Probleme dieser Welt rücken uns näher. Sie werden durch die globale Vernetzung, durch die Digitalisierung, rasch und unmittelbar auch zu Problemen Europas.
Das war lange Theorie. Wir haben das lange eher in Reden gehört und in Büchern gelesen. Zum Beispiel dass die Migration eine der großen Herausforderungen für die Welt des 21. Jahrhunderts werden würde. Jetzt stecken wir mittendrin in dieser Herausforderung.
Stärker als in früheren Zeiten treffen uns die Auswirkungen von Kriegen und Konflikten, die weit entfernt scheinen, nun direkt in unseren Lebenszusammenhängen. Dass wir in einer Welt leben, wird seit einiger Zeit immer fühlbarer.
Die vielen sehr verschiedenen Lebensverhältnisse und Entwicklungen in dieser Welt werden von immer mehr Menschen gleichzeitig wahrgenommen:
Das ist die heute oft verstörende Gleichzeitigkeit des Erlebens von Zuständen, die ganz verschiedenen Jahrhunderten anzugehören scheinen: Hier globalisierte Eliten und höchster Lebensstandard, dort mittelalterlich anmutende Kämpfer für neue Kalifate – Kämpfer, die allerdings selbst in dieser Welt der Digitalisierung zu Hause sind, die eine ununterbrochene und allgegenwärtige Bilder- und Informationsflut erst ermöglicht.
Und dadurch beschleunigt diese Digitalisierung die weltweiten Wirkungen und Wechselwirkungen all dessen, was irgendwo geschieht und was jemand irgendwo auf der Welt sieht und liest. Sie werden es selbst spüren bei jedem Ihrer Blicke auf Ihr Smartphone.
Ein Ausdruck dieser vernetzten, in vielerlei Hinsicht zusammengerückten Welt, ist diese Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus mit seiner asymmetrischen Gewalt.
Die Anschläge von Paris müssen – und sie werden – das Bemühen der zivilisierten Staatengemeinschaft um noch bessere Sicherheitszusammenarbeit stärken, und auch das Bemühen um die Beilegung der Konflikte, die dem Terrorismus immer neue Nahrung geben.
Die in Paris gemordet haben, sind Terroristen. Terrorismus erfolgreich zu bekämpfen, kann nur gelingen, wenn es auf allen Ebenen geschieht: durch unser gesamtes Spektrum an Sicherheitskräften, durch die Justiz, aber auch, um dem Terrorismus seine Grundlagen zu entziehen, in unseren Gesellschaften, ob inner- oder außerhalb Europas.
Im Fall des Islamischen Staats gehören dazu auch militärische Antworten auf die terroristische Herausforderung.
Und: Wer glaubt, wir könnten uns gegen solche Terroranschläge wie in Paris ohne Nachrichtendienste – und ihre nicht-öffentliche Arbeit – schützen, dem möchte ich meine Sicherheit lieber nicht anvertrauen. Menschen dürfen das Vertrauen nicht verlieren,
dass ihre Sicherheit gewährleistet ist, wenn auch nie hundertprozentig.
Wir müssen auch noch einmal darüber nachdenken, ob wir in extremen Situationen, bei mehreren zeitgleichen Anschlägen wie in Paris, wenn die Polizei allein zahlenmäßig an ihre Grenzen kommt und ihre Kräfte sich erschöpfen, nicht auch den Einsatz der Bundeswehr im Innern ermöglichen wollen, um die Gesamtzahl der einsatzfähigen Kräfte zu erhöhen.
Das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit muss immer wieder ausbalanciert werden. Das Pendel schwingt mal zu weit in die eine Richtung, dann wieder zu weit in die andere Richtung. Es geht hier wie so oft in der Politik und wie auch im eigenen Leben um das richtige Maß.
Es gab eine Phase, da haben wir in der Welt, auch in Deutschland, der Höhepunkt war übrigens unter der rot-grünen Bundesregierung, die Finanzmärkte zu sehr dereguliert.
Seit 2008, seit dem Zusammenbruch der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers, versuchen wir wieder mehr und besser zu regulieren – dürfen es aber jetzt auch nicht übertreiben, damit es nicht wiederum zu unnötigen Schäden in der Wirtschaft kommt.
So ist es auch mit dem Verhältnis von Freiheit und Sicherheit. Ein Leben in Freiheit, aber ohne Sicherheit, würde uns sicherlich nicht gut tun. Allerdings auch umgekehrt nicht eines mit totaler Sicherheit, die wiederum unsere Freiheit zerstören würde. Aber davon sind wir ja auch noch ziemlich weit entfernt.
Wir müssen allerdings darüber nachdenken, wie wir unsere Freiheit noch besser schützen können. Ich finde es bemerkenswert, dass in diesen Tagen selbst im Feuilleton, im Kulturteil, also in dem Teil der Zeitungen, in dem die Bedeutung der Sicherheit für die Freiheit oft weniger gesehen wird, in diese Richtung gedacht wird.
Damit die Freiheit unsere Freiheit bleiben kann, dafür braucht man die richtigen Rahmenbedingungen, Regeln und Grenzen, innerhalb derer sich das freie Leben des Einzelnen und der Gesellschaft entfalten kann.
Ähnlich wie beim Turnen übrigens. Ziemlich strenge Regeln: angefangen mit der Choreographie der Begrüßung. Innerhalb dieser Regeln kann sich dann der Sport entfalten.
Also: Die Sicherheitsdebatte müssen wir führen. Aber es liegt schon auch eine Wahrheit darin, dass wir terroristischen Angriffen auf unsere Lebensweise nur dann werden erfolgreich begegnen können, wenn wir an unserer freien und offenen Lebensweise festhalten.
Zu dieser Lebensweise gehört der Sport, der ja ganz offenkundig mit seinen Großveranstaltungen auch im Visier der Terroristen ist, wie uns Paris, und Hannover, erneut gezeigt haben. Deswegen ist es gut, dass Sie heute hier in Berlin auf dem Deutschen Turntag mit den Vorbereitungen des Internationalen Turnfests 2017 beginnen.
Zu unserer Lebensweise leistet die Turnbewegung auch mit ihren Werten und ihren gewachsenen demokratischen Vereinsstrukturen einen wichtigen Beitrag.
Die Turnbewegung hat sich nie allein als Ort der „Leibesertüchtigung“ verstanden.Sie war von Beginn an eine Gemeinschaft, die Gesellschaft und Staat mitgestalten wollte – seit Juni 1811, als Friedrich Ludwig Jahn in der Berliner Hasenheide den ersten öffentlichen Turnplatz errichtete.
Die Prinzipien des Anfangs prägen Turnen und Sport in Deutschland bis heute: freiwilliges, selbstorganisiertes und selbstfinanziertes Sporttreiben ohne soziale Schranken. Das war urdemokratisch, und das ist die wichtige Bedeutung der Turnbewegung auch für unsere Demokratie bis heute. Die Turnbewegung und ihre Vereine waren wesentlicher Teil der Freiheitsbewegung von 1848 und der demokratischen Entwicklung Deutschlands.
Selbstorganisation macht Demokratie erst möglich, weil es Selbstbestimmung nur dort geben kann, wo Menschen für die eigenen Lebensumstände und Lebenszusammenhänge vor Ort Verantwortung übernehmen.
Verantwortung übernehmen die Turn- und Sportvereine gerade heute wieder in einer Weise, die einfach großartig ist. Die Aufnahme der Flüchtlinge würde ohne Sie weit weniger gut gelingen.
Es ist ganz einfach so: Wer sich ehrenamtlich im Turn- und Sportverein engagiert, dem fällt es leichter, Verantwortung auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu übernehmen.
In dieser Lage müssen heute viele Vereine ihre Angebote und Trainingszeiten in Turnhallen anpassen oder gar ausfallen lassen. Damit riskieren sie auch den ein oder anderen Vereinsaustritt. Dass die Vereine diese Veränderungen trotzdem ohne Zögern mitgetragen haben, ist ihnen hoch anzurechnen.
Flüchtlinge zu Lasten der örtlichen Turn- und Sportvereine und auch zu Lasten des schulischen Sportunterrichts in Turnhallen unterzubringen, kann allerdings nur eine Übergangs- und keine Dauerlösung sein.
Wir arbeiten deswegen mit Hochdruck daran, weitere Unterbringungsmöglichkeiten in Bundesimmobilien zu schaffen.
Die Turn- und Sportvereine werden viel tun können für die Integration der Flüchtlinge, die bei uns bleiben, in unsere Gesellschaft. Und sie tun das schon. Es wird sich übrigens auch für den Sport lohnen. Einer meiner Mitarbeiter hat mir erzählt, sein Sohn habe zu Hause anerkennend berichtet, die neuen Flüchtlingsmitschüler in der Klasse könnten alle besser Fußball spielen als sie selbst.
Die Integrationswirkung des Sports ist bekannt und bewährt. In Turn- und Sportvereinen können Menschen eine Heimat finden, unabhängig von Alter, Nationalität oder sozialer Herkunft. Wer miteinander Sport treibt, lernt andere Menschen und andere Kulturen besser kennen.
Es ist beeindruckend, wie viele Turn- und Sportvereine bereits heute Flüchtlinge kostenlos mittrainieren lassen. Auch deswegen muss es möglich sein, dass gemeinnützige Vereine sich ohne negative steuerliche Konsequenzen bei der Integration der in Deutschland ankommenden Menschen engagieren können. Bund und Länder werden das Problem angehen und haben dabei die berechtigen Anliegen der Turn- und Sportvereine im Blick.
Gerade in Zeiten, in denen sich unsere Welt in atemberaubendem Tempo verändert und in denen nicht wenigen gerade auch im grenzenlosen Internet die Orientierung schwerfällt, leisten Turn- und Sportvereine einen wichtigen Beitrag zum Erhalt sozialer, mitmenschlicher Werte.
Wir können die Auswirkungen, die die zunehmende Digitalisierung unserer Gesellschaft auf unseren sozialen Zusammenhalt haben wird, noch bei weitem nicht absehen. Sie wird jedenfalls die Art und Weise, wie wir zusammenleben, grundlegend verändern, und sie tut das ja schon. Und nicht nur im Guten. Die digitale Welt spiegelt nicht immer die analoge Wirklichkeit. Beides gleichzusetzen, ist gefährlich. Das sollten vor allem Jugendliche bei all dem Twittern, Skypen und Facebooken nicht vergessen.
Turn- und Sportvereine können ein Gegengewicht zu dieser Entwicklung sein. Sie können gerade jungen Menschen Orientierung geben. Weil wir uns beim Sport auch immer selbst ein wenig besser kennenlernen.
Wir machen Sport nicht für andere zu Unterhaltungszwecken – jedenfalls nicht den Breitensport. Wir machen ihn für uns. Weil wir uns selbst etwas Gutes tun wollen. Weil wir fit werden oder fit bleiben wollen.
Aber auch, weil wir herausfinden wollen, wozu wir körperlich fähig sind: wie schnell wir laufen können oder wie gut wir turnen. Wie rhythmisch wir uns bewegen können, oder wie hoch wir springen. Weil wir unsere eigenen – ganz individuellen – körperlichen Grenzen testen und immer auch etwas verschieben wollen.
Der ein oder andere ist von sich selbst ganz überrascht, wenn er nach einiger Zeit sieht, wie leistungsfähig sein Körper durch regelmäßiges Training geworden ist. Da erreichen manche ein Niveau, mit dem sie zu Beginn ihrer sportlichen Aktivitäten niemals gerechnet hätten.
Jeder, der mal längere Zeit Sport getrieben hat, weiß, wie gut sich diese Leistungsfortschritte anfühlen. Egal auf welchem sportlichem Niveau. Die Freude über sich selbst, etwas mehr Selbstvertrauen, fast schon Stolz. Das kann einem kein anderer so geben. Und es stellt sich auch dann ein, wenn man nicht auf dem Podest steht oder Pokale gewinnt.
Das finde ich übrigens so beeindruckend am Turnen: Da reicht es nicht, nur schnell zu sein, nur stark oder nur biegsam. Da braucht man eine wohlbalancierte Mischung aus Kondition, Kraft und Beweglichkeit, um am Barren, am Pferd oder auf dem Boden eine gute Figur zu machen. Dieses umfassende Körpertraining findet man sonst bei kaum einer anderen Sportart.
Diese Turn- und Sportkultur kann uns ein Leben lang begleiten. Sie fängt bei den Kleinsten an – dem beliebten Kinderturnen. Und hört erst bei den Ältesten auf – dem Seniorensport.
Diese Turn- und Sportkultur zeigt auch, dass wir – Gott sei Dank – eine noch ziemlich aktive Gesellschaft sind. Aktivität bewahrt uns davor, träge zu werden. Trägheit ist gefährlich. Wir können die großen Herausforderungen unserer Zeit – wie die gegenwärtige Flüchtlingssituation, den demographischen Wandel oder die rasant fortschreitende digitale Entwicklung – nur meistern, wenn wir genügend Kraft besitzen und Ausdauer. Politiker wissen das aus eigener Erfahrung. Schauen Sie sich nur mal das Sportprogramm des Deutschen Bundestages an. Und auch ich profitiere bei manch endloser Sitzung von der Kondition, die ich durch das regelmäßige Hand-biken aufgebaut habe.
Glücklicherweise sind es noch ziemlich viele Menschen, die sich in Sport- und Turnvereinen betätigen und regelmäßig trainieren. Dies legen jedenfalls die konstant hohen Mitgliederzahlen nahe.
Der besorgniserregende Trend, den wir in der Politik beobachten: dass es immer problematischer wird, Kandidaten für kommunale Haupt- und Ehrenämter zu finden, scheint sich im Vereinssport jedenfalls bislang noch nicht so sehr widerzuspiegeln: Ein gutes Zeichen dafür, dass die soziale Gemeinschaft in unserer Gesellschaft doch ganz gut funktioniert.
Auch deswegen darf man den Sport nicht kaputtmachen. Er muss in seiner Liebenswürdigkeit erhalten bleiben. Dopingskandale, wie wir sie derzeit bei der russischen Leichtathletik erleben, aber auch Korruptionsaffären im Fußball, wie wir sie in diesen Wochen mit ungläubigem Staunen erleben, bewirken das Gegenteil.
Auch hier – wie in der Finanzkrise – ist Übermaß und Gier nach Geld eine der Ursachen.
Der Schaden solcher Affären im Sport ist immens. Der damit einhergehende Ansehensverlust wirkt bis in den Breitensport. Dort, wo sich Übungsleiter mühen, um Kinder für Bewegung zu begeistern. Und Familien in ihrer Freizeit logistische Unterstützung leisten, damit Vereinssport überhaupt stattfinden kann. Und all das ehrenamtliche Engagement in den Vereinen, ohne das kaum etwas möglich wäre.
Internationale Turnfeste können einem drohenden Ansehensverlust entgegenwirken. Sie tragen dazu bei, dass der Vereinssport weiterhin in der Gesellschaft präsent und beliebt bleibt.
Das Turnfest als Teilnahme-Ereignis bildet einen wichtigen Gegenpol zu den medienwirksamen und auch finanzstärkeren passiven Konsum- oder Fan-Events des Sports.
Es ist nun mal ein Unterschied, ob ich aktiv am größten Breitensportfestival der Welt mitmache oder ob ich als Zuschauer auf einer Fan-Meile, wenn auch mit ähnlich vielen Menschen, Fußballern auf einer Leinwand zujubele – oder zuproste.
Auch das können sehr bewegende Momente sein. Für den Einzelnen und für ein ganzes Land – vor allem, wenn ein Sommermärchen daraus wird. Und vielleicht ließe sich ja auch die eine oder andere Gymnastik-Übung in die Halbzeitpause einbauen.
Ein „Fan-Fest“ kann jedoch nicht den „Ruf zur Sammlung“ ersetzen: Unter diesem Motto rief man erstmals 1860 in Coburg zu einem Turnfest. Genauso wenig ist das Gemeinschaftserlebnis der Teilnehmer zu ersetzen, auch im Wettkampf; die Erfahrung des „Mitmachens“ und „Mitturnens“; der Zusammenhalt, der gespeist wird von der Gemeinschaftsleistung und von der Kraftanstrengung des Einzelnen.
Die Bilder vom Internationalen Turnfest im Mai 2005 hier in Berlin haben diesen Geist ganz deutlich vermittelt. Die Präsenz der über 100.000 Teilnehmer, Sportler und Helfer, haben das Straßenbild der Stadt auf sehr stimmungsvolle Weise geprägt. Die blauen T-Shirts der Teilnehmer sind einem überall begegnet. Sie waren immer in Bewegung. Sie wirkten ausgelassen und hatten sichtlich Spaß. Sie haben die Stadt in Bewegung versetzt.
Ich bin gespannt, wie das Internationale Turnfest dann wieder 2017 die Straßen Berlins verändern wird.
Ich wünsche Ihnen jetzt für die Vorbereitungen des Internationalen Turnfests und für Ihren Turntag alles Gute und viel Erfolg!