Interview mit dem SPIEGEL vom 17. Januar 2015 über komplizierte Politik in Zeiten des Euro, wachsende Fremdenfeindlichkeit und die Zuversicht des Demokraten.
SPIEGEL: Herr Minister, mit einem Bundeshaushalt ohne neue Schulden, der sogenannten schwarzen Null, haben Sie Ihr politisches Lebenswerk eigentlich vollendet.
Wolfgang Schäuble: Dann brauchen wir das Gespräch ja nicht mehr zu führen, oder?
DER SPIEGEL: Doch, wir fragen uns nämlich, warum Sie das nicht ausgiebig feiern. Es ist immerhin das erste Mal seit 1969, dass so etwas einem Bundesfinanzminister gelungen ist. Freuen Sie sich gar nicht?
Schäuble: Ich freue mich sehr wohl, aber ich triumphiere nicht. Wir haben gehalten, was wir nicht zuletzt im Wahlkampf versprochen haben. Gute Politik und günstige Umstände sind zusammengekommen, und jetzt haben wir die schwarze Null schon 2014 geschafft, ein Jahr früher als geplant. Das muss der Anfang sein für viele weitere Jahre ohne neue Schulden. Das ist Pflicht.
DER SPIEGEL: Manche europäischen Partner verstehen so einen Satz eher als Drohung.
Schäuble: Wieso denn das? Wir halten uns an die Regeln, die dem Euro Halt geben. Zu diesen Regeln gehört, dass der Schuldenstand 60 Prozent der Wirtschaftsleistung nicht übersteigen soll. Wenn wir so weitermachen, werden wir Ende 2017 erst unter 70 Prozent liegen.
DER SPIEGEL: Feiern Sie auch deshalb nicht, weil Deutschland nicht noch mehr als Musterschüler in Europa dastehen soll?
Schäuble: Gerade wenn es einem gut geht, sollte man zurückhaltend sein. Deutschland ist nicht der Musterschüler, wir halten uns nur an die Regeln…
DER SPIEGEL: …was viele andere Eurostaaten derzeit nicht schaffen.
Schäuble: Denen rate ich, es auch zu tun, weil es gut wäre für diese Länder – und damit auch gut für uns alle in Europa.
DER SPIEGEL: Insbesondere in Griechenland gelten deutsche Ratschläge vor allem als Schläge.
Schäuble: Auch die Politiker in Griechenland müssen darauf achten, dass sie nicht vor der Wahl mehr versprechen, als sie hinterher halten können.
DER SPIEGEL: Syriza, die Partei, die gute Chancen auf den Wahlsieg hat, fordert in ihrem Programm einen Schuldenschnitt, also einen Verzicht vor allem staatlicher Gläubiger auf Rückzahlung der gewährten Kredite. Ist das so ein uneinlösbares Wahlkampfversprechen?
Schäuble: Diese Frage stellt sich nicht. Das Land hat große Fortschritte gemacht, die griechische Wirtschaft wächst schneller als die in vielen anderen Eurostaaten. Griechenland hat mit seinen Schulden derzeit kein Problem, weil die Zinsen für unsere Kredite bis 2020, im Fall der EFSF-Kredite sogar bis 2023 gestundet werden. Die Perspektiven sind wahrlich nicht schlecht. Das inzwischen wieder angesprungene Wachstum in Griechenland in Verbindung mit einer soliden Haushaltslage kann die Schuldenquote rasch sinken lassen. Der IWF sieht Griechenland bis Ende des Jahrzehnts bei einem Schuldenstand von 112 Prozent der Wirtschaftsleistung. Die nächste Regierung muss auf diesem eingeschlagenen Weg weitergehen und sich an die Vereinbarungen halten. All das ist schließlich im Interesse der Griechen. Sie tun es ja nicht für uns, sondern für sich selbst.
DER SPIEGEL: Wenn Syriza das nicht will, kann sie sich auf den Ausgang einer freien, demokratischen Wahl berufen. Zählt das nicht?
Schäuble: Ich bin nicht Teil des griechischen Wahlkampfs.
DER SPIEGEL: Das sind Sie sehr wohl.
Schäuble: Ich bin deutscher Politiker…
DER SPIEGEL: …und europäischer.
Schäuble: Die Griechen führen ihren Wahlkampf, wir respektieren das Ergebnis.
DER SPIEGEL: Was zählt mehr, der demokratische Mehrheitswille oder die Regeln und vertraglichen Absprachen, auf die sich alle Eurostaaten verpflichtet haben?
Schäuble: Europa beruht auf dem Prinzip der Freiheit, auch der Freiheit, Mitglied zu werden, zu sein und zu bleiben. Es beruht auf dem Respekt vor den anderen, aber auch auf dem Respekt vor Regeln und getroffenen Absprachen, die wir alle einhalten sollten.
DER SPIEGEL: Haben die Griechen unter diesen Umständen am 25. Januar überhaupt eine freie Wahl?
Schäuble: Natürlich. Die griechischen Wähler sind frei. Sie und ihre Politiker wissen um die Verantwortung, die sie für ihr Land tragen.
DER SPIEGEL: Herr Schäuble, Sie überblicken vier Jahrzehnte Politik. Früher hätte sich doch niemand in Deutschland oder Frankreich für die griechische Innenpolitik interessiert. Was hat sich verändert?
Schäuble: Die Globalisierung hat die europäischen Staaten viel enger zusammengeführt, als man sich das vor 25 oder 30 Jahren hätte denken können: Kein Land allein könnte dem Wettbewerbs- und Problemdruck allein noch standhalten. Der Euro ist der sichtbarste Ausdruck dafür, wir sind durch die Gemeinschaftswährung viel mehr verflochten als früher.
DER SPIEGEL: Wenn also griechische oder spanische Probleme auch deutsche sind, gibt es dann nicht auch ein Recht auf Einmischung, vielleicht sogar eine Pflicht dazu?
Schäuble: Es gibt die Pflicht, alle Europäer, auch die Deutschen, immer wieder an eines zu erinnern: Wer den Wohlstand und den Sozialstaat in Europa schützen will, der muss permanent an der eigenen Wettbewerbsfähigkeit arbeiten. Nur wenn wir unseren Rang in der Welt halten, können die europäischen Staaten finanzieren, was ihren Bürgern wichtig ist. Das verdrängt, wer in dieser Lage die Stabilitätsregeln für den Euro einfach abschütteln will, weil sie innenpolitisch unangenehm oder umstritten sind.
DER SPIEGEL: Wie verändert das die Möglichkeiten, Politik zu machen? Früher schaute Ihnen nur die Opposition auf die Finger, jetzt auch andere Regierungen in Europa, ganz zu schweigen von den Finanzmärkten.
Schäuble: Das macht die Sache natürlich nicht einfacher. Was ist die Rolle nationaler Regierungen und Parlamente heute? Diese Frage stellt sich. Jeder in Europa ist von den Entscheidungen der anderen direkt betroffen. Deshalb haben zum Beispiel andere Eurostaaten ständig eine Meinung zu dem, was die Bundesregierung tut, und sie äußern sie auch öffentlich. Das ist eine legitime europäische Debatte.
DER SPIEGEL: Ist das europäische Innenpolitik?
Schäuble: Ja, so kann man es nennen.
DER SPIEGEL: Sind Sie in dieser Lage heute weniger frei zu gestalten als früher?
Schäuble: Demokratisches Handeln ist natürlich immer eingegrenzt, und das ist ja auch gut so. Unter den veränderten europäischen Bedingungen wird das allerdings auf neue Art augenfällig. Nehmen Sie den Mindestlohn oder die Steuergesetzgebung. In einem integrierten Europa müssen Sie immer auch mitdenken, wie Ihre nationale Regelung umgangen werden kann. Das bedeutet ganz konkret, dass zum Beispiel das Bankgeheimnis in seiner traditionellen Form keinen Bestand haben konnte. Auf der anderen Seite könnte man auf rein nationaler Ebene sowieso nicht mehr wirksam die Finanzmärkte regulieren. Da ist die europäische Integration ein Segen. Sie macht uns erst handlungsfähig.
DER SPIEGEL: Vielen geht diese Integration zu weit, sie fürchten, dass sich gewohnte Zusammenhänge in einem größeren Ganzen auflösen, das ihnen zu anonym erscheint.
Schäuble: Aber es ist objektiv so, dass die Möglichkeiten, rein national zu handeln, viel beschränkter sind als früher.
DER SPIEGEL: Es stört die Leute trotzdem.
Schäuble: Ich weiß das. Früher lebten die Menschen in meiner Heimat, dem Schwarzwald, in einzelnen Tälern, ohne viel voneinander wissen zu wollen. Das Leben war in vielerlei Hinsicht begrenzt. In diese Zeiten will natürlich niemand zurück. Aber viele Menschen, auch in Deutschland, sehnen sich heute nach lokaler, regionaler oder nationaler Geborgenheit. Das hat seine guten Seiten, wenn die Menschen sich zum Beispiel für die Geschichte und die Kultur ihrer Stadt oder Heimatregion interessieren. Schlecht wird es, wenn diese Gefühle in Ressentiments gegen alles Neue oder vermeintlich Fremde umschlagen.
DER SPIEGEL: Das passiert doch gerade vielfach.
Schäuble: Ich habe großes Vertrauen in die Deutschen, ihre Weltoffenheit und ihre Veränderungsbereitschaft. Seien Sie nicht so verzagt. Die große Mehrheit der Deutschen weiß sehr wohl, wie sehr unser Land von Europa profitiert.
DER SPIEGEL: Eine Partei wie die AfD, die mehr oder minder für das Gegenteil von Weltoffenheit und Veränderungsbereitschaft steht, hat erheblichen Zulauf.
Schäuble: Das mag sein, aber was heißt das? Ich bekämpfe die AfD politisch. Aber in der Demokratie sind abweichende Meinungen keine Beleidigung für eine Regierung, sondern ganz selbstverständlich. Es ist doch nicht neu, dass sich bestimmte Gruppen öffentlich gegen Zuwanderung stellen. Das war schon so, als nach dem Krieg Millionen Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten kamen. Und es war so, als Oskar Lafontaine, damals SPD-Vize, nach dem Fall der Mauer plötzlich die Reisefreiheit und den Zuzug aus der untergehenden DDR beschränken wollte. Das war der nackte Populismus, und er hatte eine erhebliche Zustimmung in den Umfragen dafür. Aber da hält man einfach Kurs und setzt am Ende das Richtige durch.
DER SPIEGEL: Jetzt geht es um den Zuzug aus fremden Kulturen. Das ist ein Unterschied.
Schäuble: Diese Zuwanderung auch aus anderen Kulturkreisen gehört zu einem weltoffenen, sich stetig wandelnden Deutschland dazu. Natürlich gibt es immer Kräfte, die eine Verweigerung von Gegenwart und Zukunft predigen. Aber das ist doch irrational, wo bleibt denn da die Zuversicht in die Zukunft?
DER SPIEGEL: Verzweifeln Sie jetzt doch an den Deutschen?
Schäuble: Überhaupt nicht. Ich habe als Innenminister die Islamkonferenz gegründet, und am Anfang haben die meisten gesagt: Jetzt spinnt er endgültig. In solchen Runden muss man mit allen Seiten sehr viel reden und sie immer wieder zusammenbringen. Aber das schafft am Ende die Basis, auf der Muslime und Christen in ihrem gemeinsamen Deutschland miteinander friedlich leben können.
DER SPIEGEL: Die Islamkonferenz hat gerade erst wieder getagt, aber das Misstrauen gegen den Islam scheint auch schon vor den Pariser Morden eher gewachsen zu sein.
Schäuble: Der Islam in Europa ist eine Herausforderung, für den Islam selbst und für die europäischen Gesellschaften. Der freiheitliche Staat beruht in Deutschland und Europa auf dem Prinzip der weltanschaulichen Neutralität. Das ist eine abendländische Errungenschaft. Wir müssen dem Islam helfen, sich diese Errungenschaft zu eigen zu machen. Das ist ein Schlüssel für die hier lebenden Muslime, um sich besser einzupassen in die Maßstäbe der hiesigen Gesellschaften.
DER SPIEGEL: Wie erreicht Ihr Appell zur gegenseitigen Anpassung eine Gruppe wie die Dresdner Pegida-Demonstranten, die damit überhaupt nichts mehr zu tun haben wollen, weil sie weder den Politikern noch den Medien trauen?
Schäuble: Ich glaube an die Kraft freiheitlicher Diskussionen und der Selbstvergewisserung der Demokraten, die wir gerade nach den Anschlägen von Paris in Frankreich, aber auch in Deutschland erleben. Wir sehen doch, wie viele Menschen für diese Freiheit und Offenheit auf die Straße gehen. Das ist in Wirklichkeit die so oft zitierte „schweigende Mehrheit“. Die ist nicht für Pegida oder die AfD, sondern dagegen. Und sie zeigt sich jetzt auch öffentlich, weil sie das Gefühl hat, es ist an der Zeit. Die Demokraten stehen immer dann zusammen, wenn sie herausgefordert werden. Das macht mich zuversichtlich.
DER SPIEGEL: Haben Sie nicht dennoch das Gefühl, ein bestimmtes Milieu ist gegenwärtig leichter als früher erreichbar für eine Verweigerung von Gegenwart und Zukunft, wie Sie es nennen?
Schäuble: Deutschland geht es insgesamt so gut wie ganz lange nicht. Aber so ist es eben: Was glückt, wird schnell vergessen oder irgendwie selbstverständlich. Immer wenn es den Menschen gut geht, wollen sie festhalten, was ihnen so gefällt. Und sie sind leichter ansprechbar für Populisten, die ihnen versprechen, alles könnte von nun an so bleiben, wie es ist. Neu scheint mir, dass solche Gruppen viel härter für ihre Interessen kämpfen und sich manchmal dabei auch nicht um demokratische Mehrheitsentscheidungen oder Gerichtsurteile scheren. Da muss die Mehrheit, muss die Politik dann Grenzen setzen.
DER SPIEGEL: Haben Sie eine Erklärung dafür?
Schäuble: Es hat auch mit der Alterung unserer Gesellschaft zu tun, denke ich. Eine wachsende Zahl der Älteren ist heute mehr oder weniger frei von materiellen Sorgen, und darum machen sich manche eben andere Sorgen. So sind die Menschen, so ist die menschliche Existenz. Aber das ist kein Grund, darüber zu verzweifeln.
DER SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.