„So haben wir Deutschland vereint“



Günther Krause und Wolfgang Schäuble im Interview mit „Die Welt“

 

Welt am Sonntag:

Herr Krause, Herr Schäuble, am 31. August 1990 haben Sie den Einigungsvertrag unterschrieben. Welche Gefühle verknüpfen Sie mit diesem Tag?

Günther Krause:

Das war ein sehr schönes Gefühl, denn ich handelte im Auftrag der Bürgerinnen und Bürger der DDR. Rund 80 Prozent befürworteten die Vereinigung Deutschlands, dieser Anteil entspricht den heutigen Zustimmungswerten zur deutschen Einheit. Bei alldem war der Sommer 1990 alles andere als einfach. Es gab große Demonstrationen und viel Ärger. Ich erinnere mich noch gut, wie ich nach den Unterschriften auf eine Gruppe von Demonstranten zugegangen bin. Damals habe ich versucht zu argumentieren, warum das ein richtiger Schritt ist. Wolfgang, du hast damals gesagt: „Lass sie doch demonstrieren!“

Wolfgang Schäuble:

Ich war müde!

Krause:

Wir haben an diesem Tag bis morgens um halb drei in Bonn zusammengesessen. Wir waren froh, dass wir mit einem anständigen Ergebnis für beide Seiten den Weg in die deutsche Einheit definieren konnten.

Und wie haben Sie, Herr Schäuble, diesen Tag erlebt?

Schäuble:

Ich zumindest war – Günther ist ja wesentlich jünger als ich – unglaublich erschöpft. Wir hatten intensive und aufregende Wochen hinter uns. Das betraf nicht nur die frei gewählte Regierung der DDR, die derart viele Probleme zu bewältigen hatte, wie man es sich heute nicht mehr vorstellen kann. Das galt auch für uns in Bonn. Dabei mussten wir die Verhandlungen unter dem Eindruck eines Bundestagswahlkampfs führen. Die eigentliche Front der Auseinandersetzungen verlief nämlich eben nicht zwischen der Delegation der DDR und der Bundesrepublik. Die politische Trennlinie in diesem Wahlkampf verlief eher zwischen Bundeskanzler Kohl und SPD-Kanzlerkandidat Lafontaine. Noch am Abend vor der Unterzeichnung mussten wir Günther Krause und seine Mitarbeiter in Bonn Stunden um Stunden, über Mitternacht hinaus, warten lassen. Im Kanzleramt hatten wir nämlich die letzten Kompromissmöglichkeiten mit der Opposition auszuhandeln – mit Herrn Vogel, mit Herrn Lafontaine, mit Herrn Clement, mit Frau Däubler-Gmelin. Wir brauchten ja die Zustimmung des Bundesrates mit Zweidrittelmehrheit! Ich habe mich in jener Nacht im Kanzleramt gewundert, mit welch rein bundesrepublikanischen, internen Problemen wir uns befassen mussten. Etwa mit dem Schutz des ungeborenen Lebens, gewiss ein wichtiges Thema, aber ich dachte mir: An diesem Thema kann doch nicht die Wiedervereinigung scheitern! Als wir diese Probleme alle gelöst hatten, haben wir den Einigungsvertrag morgens um zwei Uhr paraphiert.

Wo war das?

Schäuble:

Im Innenministerium in Bonn. Wir haben mit Sekt angestoßen. Doch zwischen Ratifizierung und Unterzeichnung eines solch komplexen Vertrags waren einige Bedingungen zu erfüllen. Wir mussten das Vertragswerk drucken. Wir mussten die Zustimmung beider Regierungen, er der Regierung de Maizière, ich der Regierung Kohl, erreichen. Wir mussten die Fraktionen einbinden. Das geschah an jenem 31. August innerhalb von elf Stunden – um 13 Uhr unterschrieben wir den Vertrag in Berlin. Günther Krause flog am frühen Morgen nach Berlin, ich trug vormittags in Bonn im Kabinett vor. Mit den Mitarbeitern aus dem Bundesinnenministerium flogen wir nach Berlin-Schönefeld – nach Tegel und Tempelhof durften wir noch nicht fliegen, diese Flughäfen unterlagen dem Viermächtestatus. Um kurz vor 13 Uhr saßen wir zusammen, und wir beide mussten unsere Tränen unterdrücken. Die Unterzeichnung hat mich unglaublich bewegt. Es war schön. Wir hatten das Gefühl: Wir haben es geschafft, wir haben eine Lösung, mit der Deutschland gut wiedervereinigt wird.

Hatten Sie den Eindruck, einen historischen Moment geprägt zu haben? Waren Sie stolz darauf?

Krause:

Mir war damals klar, dass ein solcher Systemwechsel mit friedlichen Mitteln etwas Einmaliges ist. Ich habe darin ein Vorbild für die künftige europäische Entwicklung gesehen. Aber ebenso erinnere ich mich genau an die damaligen Probleme, denken Sie nur an die Sorge um die D-Mark. Mancher Bundesbürger sorgte sich um sein Vermögen, als die Ostzone dazukam. Genau das Gegenteil aber trat ein: Die D-Mark wurde nach der deutschen Einheit hart und härter. So viel haben wir also offenbar nicht falsch gemacht.

Wie haben Sie sich kennengelernt?

Krause:

Ich glaube, das war bei der Feier zum 60. Geburtstag von Helmut Kohl am 3. April 1990 …

Schäuble:

… war es nicht schon ein, zwei Tage nach der Volkskammerwahl vom 18. März 1990? Da saßen wir doch im Kanzlerbungalow zusammen …

Krause:

Nee.

Schäuble:

Du warst bei dem ersten Gespräch nach der Wahl nicht dabei?

Krause:

Nein, definitiv, da war ich nicht dabei.

Schäuble:

War Lothar de Maizière dabei?

Krause:

Da war Lothar de Maizière dabei. Ich habe dich am 3. April 1990 in der Beethovenhalle kennengelernt. Das weiß ich so genau, weil ich an diesem 3. April erstmals in meinem Leben geflogen bin. Vorher hatte ich dazu als normales Kind der DDR, das nicht ausreisen durfte, keine Gelegenheit. Ich durfte nicht einmal in die Sowjetunion reisen. Denn die war für Bürger der sozialistischen Länder nicht frei zugänglich, sondern nur nach Prüfung. Mir wurde in den 70er-Jahren eine Privatreise zu einem litauischen Studienkollegen nach Vilnius abgelehnt. Ich war ja weder Reserveoffizier noch „jugendgeweiht“.

Wie war die Atmosphäre bei Ihren Verhandlungen?

Krause:

Die Vorstellung, wonach wir uns als Verhandlungspartner kämpfend gegenübersaßen, ist völliger Quatsch. Ebenso Quatsch ist es, zu behaupten, dass Wolfgang oder ich Positionen, die wir zu vertreten hatten, einfach aufgegeben haben. Unser Ziel war klar, aber der Weg war das Problem. Wolfgang und ich wussten, dass sich im Westen einiges verändern wird. Uns war klar, dass es sich um eine Systemtransformation ohne Vorbild handelt, die Reibungsverluste verursacht. Unser Versprechen bestand darin, den Übergang in einer humanen, ordentlichen, vernünftigen Form zu gestalten.

Es traten sich gegenüber ein ausgebuffter Jurist, verwachsen mit der institutionellen Macht der Bundesrepublik Deutschland, und Sie, Herr Krause, ein Ingenieur, der den Westen nicht gut kannte. War Ihnen bang, dass Sie von einem Vollprofi über den Tisch gezogen werden?

Krause:

Eigentlich nicht. Ingenieure haben auch Vorteile gegenüber Juristen. Juristen glauben immer, dass alles 100-prozentig funktioniert. Ingenieure wissen, dass nichts 100-prozentig funktioniert. Das ist schon ein Vorteil von mir gewesen.

Schäuble:

Erstens wollten wir uns gar nicht gegenseitig über den Tisch ziehen. Wir wollten ein wiedervereinigtes Deutschland richtig gut gründen. Wir haben ja nicht Verhandlungen über einen Kaufvertrag geführt, bei denen der eine einen möglichst hohen und der andere einen möglichst geringen Preis erzielen will. Es waren Verhandlungen zur Gründung einer gemeinsamen Gesellschaft. Zweitens: Ich hatte und habe vor Günther Krause einen unglaublichen Respekt. Damals fragte ich mich: Wie kann ein wesentlich jüngerer Mann, ohne bisher viel mit Gesetzen umgegangen zu sein und ohne lange politische Erfahrung, all das stemmen? Plötzlich war er Fraktionsvorsitzender und Chefverhandler. Er hat ja auch den ersten Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit Hans Tietmeyer ausgehandelt, da war ich als Innenminister gar nicht direkt beteiligt. Er hat jedes Detail unglaublich gut beherrscht. Mir wurde so klar: Das ist ein Mann mit einer ungewöhnlich hohen Auffassungsgabe und einer ungewöhnlich hohen Intelligenz. Wir haben uns verstanden, gemocht und waren bald befreundet.

Wann hat sich zwischen Ihnen das Du ergeben?

Krause:

Ich glaube, mich da genau erinnern zu können …

Schäuble:

… ich weiß es nicht mehr.

Krause:

Meine damalige Frau stand in der Tiefgarage …

Schäuble:

… aaaah!

Krause:

Erzähl du die Geschichte!

Schäuble:

Es war das Kanzlerfest 1990 in Bonn, während der Verhandlungen. Lothar de Maizière, Günther Krause und andere waren im Kanzlerbungalow dabei, zum Teil mit ihren Ehefrauen. Doch wir mussten noch etwas besprechen. Frau Krause wollte nicht dabei sein.

Krause:

Sie wollte sich etwas angucken.

Schäuble:

Dabei ging sie verloren, und es war ja nicht ganz einfach, sich bei dem Kanzlerfest im großen Park des Kanzleramts zu orientieren. Es herrschte, wenn ich mich recht erinnere, eine etwas schlechte Stimmung.

Krause:

Ja klar. Meine Frau stand in der Tiefgarage, und die war damals nicht so gut belüftet, wie es heutigen EU-Normen entspricht. Jedenfalls hat sie da gewartet, weil ich ihr gesagt hatte, ich hole sie dort ab. Aber das hatte ich vergessen. Da ist Wolfgang Schäuble mir zur Seite gesprungen und hat den Ehekonflikt geklärt. Dann haben wir das Glas erhoben und gesagt: Nun sind wir Brüder!

Schäuble:

In dieser Nacht haben wir auch noch viel gefeiert.

Krause:

Und viel getrunken!

Sie sprachen von der „Gründung einer gemeinsamen Gesellschaft“. Handelte es sich nicht eher um den Beitritt der ostdeutschen zur westdeutschen Gesellschaft?

Schäuble:

Ja, rechtlich war es der Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes. Alles andere wäre der kompliziertere Weg gewesen. Die Idee, für die ich das historische Copyright beanspruche, sah so aus: Wir als Bundesrepublik bieten der DDR an, wenn sie denn beitreten will, die Bedingungen des Beitritts über Verhandlungen zu vereinbaren. Das war ein Versuch, damit die Menschen sich nicht einfach übernommen vorkommen. Nach dem Fall der Mauer, Ende 1989, haben wir immer wieder nachgedacht und sind schnell zu dem Schluss gekommen: Wenn es zur Wiedervereinigung kommt, muss man eine Rechtsvereinheitlichung schaffen. Dafür war der Innenminister zuständig. Ich musste also damit rechnen, eines Tages gefragt zu werden: Wie machen wir denn jetzt eine Wiedervereinigung? Ich habe mich dann erkundigt, wie das Saarland 1957 der Bundesrepublik Deutschland beigetreten ist. Das war ein ganz anderes Verfahren, nämlich ein Vertrag mit Frankreich. Die Franzosen haben darauf geachtet, dass die Vereinbarungen eingehalten werden. Wäre die DDR ohne den Einigungsvertrag beigetreten, so hätten natürlich die Vertreter der DDR in Bundestag und Bundesrat gesessen. Sie hätten dort aber nur jeweils ein Viertel der Stimmen gehabt und hätten also bei jeder Entscheidung majorisiert werden können. Deswegen habe ich über Weihnachten 1989 überlegt, der DDR vorzuschlagen: Wir machen für den Fall, dass sie beitritt, vorher einen Vertrag, um die Rechtsvereinheitlichung zu regeln. Dieser Gedanke hat überzeugt. Für die Juristen zur Erinnerung: Die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 hat auf der Grundlage eines Vertrages zwischen der DDR und der Bundesrepublik stattgefunden. Das war der einzige Weg, die Fristen des Bundeswahlgesetzes zwischen 3. Oktober und 2. Dezember 1990 einzuhalten.

Krause:

Jetzt kommt der Informatiker durch – mit einer Ergänzung. Das Grundgesetz war entstanden unter den Bedingungen einer nicht souveränen Bundesrepublik Deutschland. Es entstand durch die Zurückerlangung der Souveränität am 2. Oktober 1990 durch den Artikel 23 folgende Situation: Die – soeben souverän gewordene – Bundesrepublik und die – soeben souverän gewordene – DDR vereinigten sich auf der Basis eines geordneten Übergangs nach Artikel 23 durch zwei Staatsverträge. Wolfgang hatte mir freundlicherweise Unterlagen gegeben, wie er sich die Vereinigung vorstellt. Ich habe ihn in der ersten Verhandlungsrunde mit einem Vertragsentwurf überrascht, der wesentliche Dinge und unsere Auffassungen enthielt. Wir wollten, dass das vereinigte Land einen neuen Namen bekommt, nämlich: Deutschland. Wir wollten, dass jeder Bürger selbst im Bayerischen Wald weiß, dass etwas passiert ist. Das ließ sich leider nicht durchsetzen.

Sie wollten den Namen Bundesrepublik streichen?

Krause:

Wir wollten zeigen, dass es sich um einen Neuanfang handelt. Wir haben ein Problem, über das wir nicht reden: Wie gehen 40 Jahre Nationale Volksarmee in die Feierlichkeiten der Bundeswehr ein? Wir wollten auch den 3. Oktober 1990 als ersten Tag verstehen und sagen: Wir zählen neu. Im Westen war das nicht vermittelbar. Eigentlich wäre es richtig gewesen, weil die Bundesrepublik Deutschland seit dem 2. Oktober, über Nacht, ein anderer Staat war – souverän und mit allen Pflichten der Völkergemeinschaft. Genauso wie die DDR.

Wie wurden die beiden deutschen Staaten denn souverän?

Krause:

Durch den Zwei-plus-vier-Vertrag. Dieser Vertrag war ein Abkommen, das einen Friedensvertrag und damit das Potsdamer Abkommen ersetzt hat. Wolfgang kann besser als ich begründen, warum das ein sehr guter internationaler Schachzug war. Sonst hätte er übrigens als Finanzminister, denken Sie nur an die Altschulden der DDR, heute noch größere Sorgen. Der Grund: Der Nachfolger der beiden deutschen Staaten, die neue Bundesrepublik Deutschland, ist nicht Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs. So benötigten wir keinen Friedensvertrag. Deshalb durfte die deutsche Einheit ebenso wenig vor dem 2. Oktober stattfinden, weil der Zwei-plus-Vier-Vertrag erst geschlossen werden musste.

Schäuble:

Es gab ja nach dem Zwei-plus-Vier-Vertrag zusätzlich noch die Folgekonferenz der KSZE.

Krause:

Richtig. Zwei plus vier hieß damals ja: Die beiden deutschen Staaten und die Siegermächte haben sich geeinigt. Dadurch wurden beide deutsche Staaten souverän. Die Welt hatte nichts mehr damit zu tun, als sich die ehemaligen Besatzungszonen, nunmehr souverän, dazu entschieden: Wir vereinigen uns.

Schäuble:

Die vier Mächte hatten bis dato, während des Ost-West-Konflikts, die Verantwortung für Deutschland und Berlin als Ganzes. Es gab alliierte Vorbehalte bei den Souveränitätsrechten; diese wurden mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag aufgehoben. Viele Europäer, aber auch andere wollten an den Verhandlungen beteiligt werden. Dafür fanden wir das Modell der KSZE-Folgekonferenz in Paris am 1./2. Oktober. Mit diesem Ergebnis können wir sagen: Die Wiedervereinigung Deutschlands ist nicht nur auf einem geordneten Weg mit den vier Mächten, sondern im Einvernehmen mit allen unseren Nachbarn entstanden.

Sie standen damals unter Zeitdruck. Die Menschen in der DDR wollten schnell der Bundesrepublik beitreten. Was ist durch diesen Zeitdruck weniger sorgfältig gelöst worden?

Krause:

Wir als DDR hatten die Gelegenheit, über ein Dachfenster bei gutem Wetter den Weg in die Freiheit zu finden – solange der Orkan in der Sowjetunion nicht ausbricht. Wenn wir statt Zwei-plus-vier-Verhandlungen Zwei-plus-achtzehn Verhandlungen gemacht hätten, wäre die deutsche Einheit viel teurer geworden. So lief es mit den Forderungen der Sowjetunion recht anständig. Vor allem die kleineren Völker der Sowjetunion hingegen hatten ganz andere Vorstellungen als Russland. Hinzu kam: Mit Einführung der D-Mark zum 1. Juli 1990 hatten wir akute Liquiditätsprobleme. Wer noch alte Produkte besaß, wollte D-Mark bekommen und horten. Die Zinsen stiegen ja damals. Mein Job als Staatssekretär war es – neben den Verhandlungen um den Einigungsvertrag -, unseren Finanzminister mit täglichen Betteleien bei Bundesfinanzminister Theo Waigel zu unterstützen. Theo Waigel war immer anständig und höflich. Er half, dass wir den Zahlungsfluss in der DDR aufrechterhalten konnten. Diese Situation zeigte: Es gab Probleme. Es war Sand im Getriebe. Denken Sie an den Bauernaufstand, nachdem der DDR-Landwirtschaftsminister vergessen hatte, 700 Millionen Mark auf ausländischen Konten zu sichern. Das erhöhte den Druck. Dann gab es einen bayerischen Ministerpräsidenten namens Max Streibl, der sagte: Die Probleme beruhen auf der Laienspielschar der DDR-Regierung. Das Fernsehen der DDR übertrug den ganzen Tag über die nicht nachvollziehbaren, kleinkarierten Debatten der Volkskammer. Was wäre wohl los, wenn die ARD den ganzen Tag Bundestagssitzungen übertragen würde? Da würde die Bevölkerung ebenso verzweifeln. Längst herrschte Wahlkampf. Wolfgang Clement stand bei den Verhandlungen plötzlich auf und wollte am liebsten ein paar Tage vor der Unterschrift alle Gespräche in Ost-Berlin abbrechen. Er tönte, dann machen wir eben ein Übergangsgesetz nach der Vereinigung. Erinnerst du dich?

Schäuble:

Ja, ja. Gut! Clement war als Chef der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen der Verhandlungsführer der SPD-geführten Länder.

Krause:

Der sollte die Bundesratsmehrheit sichern. Bei uns gab es da schon längst Ideen, wie wir gegebenenfalls mit dem Bundespräsidenten den Wahltermin günstiger gestalten können. Der 16. Oktober als Termin für die ostdeutschen Landtagswahlen stand fest. Warum sollte am 2. Dezember erneut gewählt werden? Da gab es eine unangekündigte Reise von Lothar de Maizière und mir an den Wolfgangsee, wo Helmut Kohl Urlaub machte. Am nächsten Morgen hat sich de Maizière wenig geschickt verhalten, die SPD fühlte sich uninformiert, und es kam zu Reibereien. Clement hatte politische Vorgaben und durfte nicht sein Gesicht verlieren …

… Sie meinen Vorgaben durch Rau und Lafontaine?

Krause:

Rau war nicht entscheidend. Lafontaine hat scharf gemacht. Er wollte seinen Wahlkampf durchsetzen, wonach die Einheit viel teurer und viel schlimmer wird, als es die CDU versprach.

War das Tempo der Vereinigung durch den Druck der SPD geboten?

Schäuble:

Nein. Lafontaine wollte die Wiedervereinigung überhaupt nicht. Er hat mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder im Bundesrat daher auch gegen die Währungsunion gestimmt. In der Debatte um den Einigungsvertrag hielt Lafontaine eine unglaubliche Rede, die mich fassungslos machte. Der Druck und die Beschleunigung kamen durch die Menschen in der DDR zustande. Diese Menschen waren 40 Jahre lang eingesperrt, plötzlich öffnete sich für sie ein Tor. Viele verließen die DDR. Deswegen haben wir schnell die Währungsunion beschlossen. Das war hoch umstritten, aber richtig. Danach hat sich der Übersiedlerstrom verlangsamt. Ich erinnere mich an zwei Episoden: Als ich im Mai 1990 das erste Mal im Büro von Günther Krause und seinem Kollegen Reichenbach erschien, sagten mir beide: Wir haben hier immer eine Tasche mit Zahnbürste und Hemd zum Wechseln im Büro, weil wir nicht wissen, ob die Lage immer beherrschbar ist und ob es nicht zu Zuspitzungen kommt. Wir in Bonn wiederum mussten die Nationale Volksarmee, die Volkspolizei, die Stasi übernehmen und abwickeln. Nicht nur die Akten, auch die Waffen. Als Innenminister musste ich Volkspolizei und Stasi übernehmen. Damals herrschte bei der Bundeswehr ein Mangel an Munition. Im Spaß habe ich damals Verteidigungsminister Stoltenberg gefragt: „Gerhard, wie viel Munition hast du denn bei deiner Bundeswehr?“ Er reagierte verdattert: „Warum fragst du?“ Da habe ich gesagt: „Weil ich viel mehr Munition habe. Wenn du was brauchst, lass es mich wissen. Vielleicht finde ich etwas.“ Aber natürlich wusste damals niemand, ob es gelingt, eine gewalttätige Eskalation zu verhindern. Normalerweise verlaufen Revolutionen blutig.

Was wollte Lafontaine denn?

Schäuble:

Mit Lafontaine also hatte all das nichts zu tun. Der wollte einen langsamen Prozess. Bei ihrer Reise an den Wolfgangsee haben de Maizière und Krause Kanzler Kohl klargemacht: Das muss alles schneller gehen. Damals war von einer Bundestagswahl im Frühjahr 1991 die Rede. Das hätte eine vorzeitige Auflösung des Bundestags erfordert, was verfassungsrechtlich etwas kompliziert ist. Ich hatte das Vergnügen, dem Bundeskanzler bei einem Telefonat um Mitternacht in seinem Urlaubsquartier zu erklären, dass die von ihm gemachten Zusagen nicht einzuhalten sein würden. Das war eines meiner weniger erfreulichen Gespräche mit dem damaligen Bundeskanzler, weil er meine Hinweise für Bürokratenquatsch und Juristenunsinn hielt. Ich entgegnete, das alles helfe nichts. Am nächsten Tag jedenfalls war Clement so nervös und verunsichert, dass er erst ein halbes Dutzend Zigaretten rauchte und dann verschwand. Er fragte sich natürlich gleich, was dieses höhere Tempo für die Strategie der SPD bedeutete. Lafontaine wollte ja auf Zeit spielen in der Hoffnung, dass die Probleme zunehmend sichtbar würden. In Wahrheit war der Spielraum des Grundgesetzes ohne eine Auflösung des Bundestags und Neuwahlen sehr gering. Eine Verlängerung der Legislaturperiode des Bundestags war verfassungsrechtlich unmöglich. Das Parlament kann sich ja nicht sein demokratisches Mandat verlängern.

Krause:

Der Bundeskanzler hat bei den Gesprächen am Wolfgangsee immer darauf hingewiesen: Ohne die Zustimmung des Bundespräsidenten geht gar nichts. Eine bestimmte Notlage muss für den Bundespräsidenten eine hinreichende Bedingung für eine Parlamentsauflösung sein. Kohl hatte de Maizière im Gespräch mitgeteilt, er, Helmut Kohl, müsse zuerst mit dem Bundespräsidenten das Gespräch aufnehmen. Plötzlich war das Thema dann Teil der öffentlichen Debatte.

Wie heikel war der Antrag der DSU in der Volkskammer am 17. Juni zu einem sofortigen Beitritt?

Krause:

Wir sahen, du wahrscheinlich auch, folgendes Problem: Der Bundeskanzler dachte anfänglich beim Einigungsvertrag in nicht so riesigen Schritten. Die Währungsunion war schließlich bereits beschlossen. Die Jungs von der DSU aber waren Revoluzzer, richtige Revoluzzer. Wir sind am 16. Juni zu dem inzwischen leider schon verstorbenen Fraktionsvorsitzenden Professor Hansjoachim Walther. Unser Berater Ulrich Born, der vorher im Bundespresseamt tätig gewesen war und später Justizminister in Mecklenburg-Vorpommern wurde, hat dann mit dem Ein-Finger-Suchsystem auf der alten Schreibmaschine von Erich Mielke den Antrag für die DSU vorgeschrieben. Um die Sache zu entschärfen, haben wir den Antrag so formuliert, dass wir als CDU die Gelegenheit hatten, ihn an jenem 17. Juni im Plenum der Volkskammer in die Ausschüsse zu überweisen. So gab es ein geordnetes Verfahren, bei dem wir alles im Griff hatten. Natürlich konnte ich weder Wolfgang noch Helmut Kohl noch irgendjemand anderen vorher etwas sagen – aber Ulrich Born wird Ihnen diese Version bestätigen. Insofern war der Antrag der DSU relativ ungefährlich, weil wir mit einem beschleunigten Verfahren damit umgehen konnten. Ein, zwei Tage später rief mich Helmut Kohl an und bedankte sich – schließlich wäre er der Blamierte gewesen. Ich habe ihn dann gebeten, den Einigungsvertrag zügig zu verhandeln. Wir haben auf diese Art und Weise Druck gegenüber der Bevölkerung aus dem Kessel genommen. Wir konnten sagen: Jetzt geht es definitiv los – noch bevor wir die D-Mark einführen, beginnen wir mit den Verhandlungen über den Einigungsvertrag.

Schäuble:

Bundeskanzler Kohl musste natürlich darauf achten, dass der Zwei-plus-vier-Prozess abgeschlossen sein würde. Denn sonst hätten wir nicht sagen können, was wir heute zu Recht sagen können: Wir haben das in vollem Einvernehmen mit denjenigen, die bis dahin die Verantwortung für Deutschland als Ganzes getragen haben, und mit allen Europäern getan. Als ich im Dezember 1989 einmal bemerkte: „Ich glaube, die nächste Wahl findet im vereinigten Deutschland statt“, wurde mir durch den CDU-Generalsekretär widersprochen. Ich verstand gut, dass das aus dem Kanzleramt kam, redete mit Kohl darüber und sagte ihm: Schauen Sie, ich bin überzeugt, diese Entwicklung wird sich beschleunigen. Das ist so in der Geschichte. Das kann man nicht runterkühlen, das wäre auch falsch. Helmut Kohl sagte dann: „Es mag sein, dass Sie recht haben – aber ich darf nicht derjenige sein, der den Eindruck erweckt, wir beschleunigten das Ganze.“

Krause:

Richtig!

Schäuble:

Das war eine kluge Bemerkung, die zeigt, dass es Kohl unheimlich wichtig war sicherzustellen, dass es im Einvernehmen mit den anderen Ländern ging. Das war ja keine Kleinigkeit. Daran musste ein Fraktionsvorsitzender in der Volkskammer nicht denken, aber der deutsche Bundeskanzler musste darauf achten.

Ging nicht davon Druck aus, dass die SPD, je länger es dauerte, den Einigungsprozess mit immer neuen Forderungen zur Änderung des Grundgesetzes bis hin zum Recht der Arbeit erschwert hätte?

Krause:

Das Grundgesetz wurde ja in Richtung einer Verfassung verändert! Der Einigungsvertrag legte schließlich die Grundlage dafür, dass innerhalb von vier Jahren eine Verfassungskommission das Grundgesetz nachhaltig weiterentwickelte. So wurde etwa das Umweltrecht im Staatsrecht eingeführt. Das gab es vorher nicht. Andere Dinge wurden festgelegt. Im Mittelpunkt der damaligen Debatte stand dabei die Frage: Soll es zur Einheit über Artikel 146 oder über Artikel 23 kommen? Das war eine politische Entscheidung. 80 Prozent der Bevölkerung im Osten waren für Artikel 23 und 20 Prozent für Artikel 146.

Die Wahrnehmung im Westen Deutschlands aber ist bis heute: Außer der Einführung des grünen Pfeils hat sich durch die Vereinigung im Westen nichts geändert …

Krause:

Das mag ja so sein. Viele kommentieren den Einigungsvertrag, ohne ihn zu kennen.

Schäuble:

Die Hauptstadt der Bundesrepublik war bis dato Bonn. Falls Sie auf der Suche sind, jenseits des grünen Pfeils Veränderungen im Westen wahrzunehmen!

Aber Sie hatten nicht die Kraft, Berlin als Sitz von Regierung und Parlament festzuschreiben.

Schäuble:

Ha! Wir haben aber doch in den Verhandlungen über den Einigungsvertrag die Tür für Berlin geöffnet. Der vereinte Deutsche Bundestag musste binnen einem Jahr über den Sitz von Parlament und Regierung entscheiden. Dagegen haben sich alle gewehrt, angeführt von Herrn Clement. Ich habe immer gefragt: „Was habt ihr denn dagegen?“ Sie aber wollten noch nicht einmal eine demokratische Entscheidung über diese Frage. Das haben wir durchgesetzt mit dem Argument, dass darüber der Bundestag entscheiden muss. Mit dieser Festlegung im Einigungsvertrag haben wir ermöglicht, dass der Bundestag am 20. Juni 1991 für Berlin als Sitz von Parlament und Regierung gestimmt hat. Wir haben außerdem mit dem Einigungsvertrag den Länderfinanzausgleich völlig verändert, den Fonds „Deutsche Einheit“ und den Solidarzuschlag eingeführt. Es ist also etwas verkürzt zu sagen, im Westen habe sich nichts geändert. Die große Mehrheit der Deutschen, die 80 Prozent, von denen Günther Krause spricht, hatte nicht das Bedürfnis, möglichst viel von der DDR ins vereinigte Deutschland zu nehmen. Die hatten das Bedürfnis, möglichst schnell in der Bundesrepublik leben zu können. Das hat manchem Intellektuellen nicht gefallen. Mancher stellte sich eine Verfassungskommission vor, so eine Art Föderalismuskommission, denn der Bundsrat musste ja mit Zweidrittelmehrheit zustimmen. Wahrscheinlich würden wir heute noch in der Verfassungskommission über die Ausgestaltung der Einheit beraten – aber die Chance für die Vereinigung wäre längst verstrichen.

Herr Schäuble, Sie waren damals überzeugt, das politische System der Bundesrepublik könne Reformen gut gebrauchen. Wieso war es nicht möglich, den Schwung der Situation zu nutzen, um etwa den Zuschnitt der Länder zu ändern?

Schäuble:

Die Widerstandskräfte in der Bundesrepublik waren überragend groß. Ich habe es ja versucht – und musste schnell hören: Wenn du so etwas in den Vertrag integrierst, brauchst du erst gar nicht mit einem Entwurf zu kommen. Die große Mehrheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik hat gesagt: Nun kommt die Wiedervereinigung, das ist prima für die Menschen aus der DDR, für uns ändert sich nichts. Dieser Widerstand – die Hauptstadtdebatte hat es ja gezeigt – war so stark, dass wir wohl höllische Probleme bekommen hätten. Vermutlich hätte die DDR irgendwann doch beschlossen beizutreten. Dieses Recht hatte sie ja nach Artikel 23 Grundgesetz. Das wäre ein ungeordneter Prozess gewesen. Wir aber wollten und bekamen einen geordneten Prozess.

Krause:

Drei Beispiele möchte ich anführen. Erstens: Ich war Landesvorsitzender der CDU in Mecklenburg-Vorpommern. Hier gab es das Bestreben, dass Mecklenburg und Vorpommern eigenständige Länder werden. Wir haben damals gesagt: Den Unsinn der Kleinstaaterei, den der Westen betreibt, machen wir bei uns nicht. Kein Bundesland wird so klein oder kleiner sein, als es im Westen der Fall ist. Zweitens: Als Bundesverkehrsminister habe ich später das Verkehrsplanungsrecht reformiert, das gab viel Ärger. Es sorgte aber dafür, dass das größte Nachkriegsbauwerk der öffentlichen Hand, die Autobahn 20, in 15 Jahren geplant und gebaut wurde. Im Westen wurden und werden Bauwerke in aller Regel 15 Jahre lang nur geplant. Drittens das Thema Bildungsreformen: Was haben wir uns bei den Debatten über den Einigungsvertrag noch über das zwölfjährige Abitur gestritten! Wir wollten das …

Schäuble:

… aber die Länder wollten es nicht.

Krause:

So ist es. Ein paar Jahre später traf mich Clement in Berlin und meinte: Wir müssen doch einmal Modelle suchen … Wir hatten in 40 Jahren DDR das zwölfjährige Abitur und sind doch nicht ganz blöde gewesen. Finnland hat das Schulsystem der DDR 1981 kopiert und schneidet bei Pisa nicht ganz schlecht ab. Noch ein Punkt: Wir haben damals geregelt, dass vergleichbare Tätigkeiten einen vergleichbaren, kompatiblen Berufsabschluss in Ost und West bekommen. Das hat sich absolut bewährt.

Sie erklären, warum Sie einen langen verfassunggebenden Prozess abgelehnt haben. Nun wurde aber die DDR von einer Bürgerbewegung gestürzt. Wieso ging von deren Ideen nichts in diesen Prozess ein?

Krause:

Wenn Sie mich als Teil der Bürgerbewegung bezeichnen, akzeptiere ich die Frage …

Gern.

Krause:

Wenn Sie das nicht täten, würde ich sie nicht akzeptieren. Ich bin einer von Millionen Bürgern, die auf der Straße waren. Das riesengroße Problem der Bürgerbewegung bestand doch darin, dass sie zwar wusste, was sie nicht will – dass sie aber nicht wusste, was sie will. Die hohe Kunst bestand doch darin, höchst komplizierte Fragen in einem revolutionären, aber trotzdem evolutionär organisierten Prozess einer Systemtransformation in Griff zu bekommen. Frau Bohley organisierte damals einen Hungerstreik, weil sie mit einer Reihe von Entscheidungen in Bezug auf die Stasi-Aufarbeitung unzufrieden war. Ich habe sie damals besucht und lange mit ihr diskutiert. Ihr Schimpfwort lautete „Innenminister Diestel“, dem sie Vertuschung vorwarf. So ist damals Joachim Gauck ins Geschäft gekommen. Er hat dann die letzten Verhandlungen zum Einigungsvertrag in Bonn mitgeführt. Damit endete der Hungerstreik von Teilen der Bürgerrechtler.

War an Bohleys Vorwurf nichts dran?

Krause:

Das müssen andere prüfen. Über Diestel ist jedenfalls viel Blödsinn erzählt worden, etwa er sei Kampfschwimmer für die Stasi gewesen. Bärbel Bohley vertraute jedenfalls Joachim Gauck. Ich glaube, ich habe auch dich, Wolfgang, davon überzeugt, dass Gauck ein anständiger Mensch ist. Gauck hat die Stasi-Aufarbeitung behutsam organisiert. So haben wir die Bürgerbewegung zum Gehen gebracht – ohne dass sie wusste, wie das funktioniert.

Schäuble:

Wir haben Regelungen der frei gewählten DDR-Volkskammer in den Einigungsvertrag übernommen. Gauck war ja noch von der Volkskammer zum Beauftragten für die Stasi-Akten gewählt worden. Auch diese Entscheidung haben wir übernommen. Mit allem Respekt noch ein Punkt: Man sehe sich das Wahlergebnis vom 18. März 1990 an. Bei einer hohen Beteiligung von 93 Prozent zeigen die Ergebnisse, welchen Weg die Mehrheit in der DDR gehen wollte. In der Demokratie ist, mit Verlaub, nicht nur das Selbstverständnis von Leuten wichtig, die sich für Eliten halten oder auch sein mögen. Wichtiger ist, was die Mehrheit will.

Herr Schäuble, Sie wollten die Stasi-Akten nicht öffnen. Warum?

Schäuble:

Ich war der Grundauffassung, dass man – wie in den anderen früheren Ostblockstaaten – nicht zu viel Kraft auf die Aufarbeitung der Vergangenheit verwenden soll. Ich wollte, dass wir nach vorne blicken. Aber als die Volkskammer der DDR das nicht akzeptieren wollte, haben wir gleich deutlich gemacht: Das akzeptieren wir, bei diesem Thema muss gelten, was die Volkskammer will.

Was dachten Sie, Herr Krause?

Krause:

Ich war für eine vernünftige Aufarbeitung. Viele junge Menschen empfanden im Nachkriegsdeutschland die Aufarbeitung des Nationalsozialismus als unvollständig. Wir hatten dann mit Herrn Gauck einen Mann, mit dem diese Aufarbeitung rechtsstaatlich funktionierte. Ich verweise nur auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Umgang mit den Stasi-Akten über Helmut Kohl.

Helmut Kohl und Lothar de Maizière sind zwei ausgesprochen unterschiedliche Menschen. Wie haben Sie diesen Gegensatz erlebt?

Krause

(lacht): Willst du?

Schäuble

(lacht): Na gut.

Sie aber auch, Herr Krause!

Schäuble:

Natürlich waren Kohl und de Maizière so unterschiedlich, wie Politiker nur sein können – vom Äußeren her, von ihrer Lebensgeschichte. Lothar de Maizière war kein Politiker, Günther Krause war viel zupackender, politisch dynamischer. Kohl war, wie er war. Seine Verdienste in dieser Zeit sind gar nicht zu bestreiten. Kohl war mehr als jeder andere für die Mehrzahl der Menschen die Person, auf die sich alle Hoffnungen konzentriert haben. Er half, die Ängste vor den Veränderungen zu nehmen. Die Wahlentscheidung vom 18. März 1990 war ja nicht nur de Maizière und Krause geschuldet, sondern hatte ziemlich viel mit Kohl zu tun. Viele haben den Auftritt westdeutscher Politiker von CDU, SPD und FDP in der DDR kritisiert. Aber die Menschen sind zu Hunderttausenden zu Kohls Wahlkundgebungen geströmt. Selbst zu Veranstaltungen mit Leuten wie mir kamen Zehntausende.

Krause:

Lothar de Maizière hat einmal einen Satz gesagt, über den sich Helmut Kohl sehr ärgerte: „Wenn ich in einen Raum hineinkomme, in dem Helmut Kohl schon ist, habe ich das Gefühl: Der Raum ist schon ohne mich voll.“ Kohl und de Maizière lernten sich früh kennen, und er unterstützte ihn bei seinen Aufgaben engagiert. Daher verstand Kohl dieses Zitat nicht. De Maizière wiederum formuliert brillant, er ist intellektuell geschliffen. Aber er ist keine treibende Kraft, auf den Tisch haut er ohnehin nicht. Im Grunde herrschte zwischen den beiden nur ein Missverständnis. Sie sind zwei so unterschiedliche Typen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Wenn Lothar de Maizière etwas wissen sollte, wurde ich vom Kanzleramt angerufen, um es ihm zu sagen. Du, Wolfgang, hast ja wiederum manches zu Helmut Kohl transportiert.

Insofern standen Sie, Herr Krause, Kohl näher als de Maizière?

Krause:

Was heißt näher?

Schäuble:

Du hast doch ein zupackendes Wesen, bist nicht so zögerlich, wie Kohl das bei de Maizière sah.

Krause:

Ich bin ausgebildeter Bauingenieur und Informatiker. Daher bin ich es gewohnt, Prozesse in Algorithmen auszudrücken. Da muss man erst diagnostizieren und dann therapieren. Ich sah, was uns bevorstand, wenn wir nicht handelten. Wir mussten damit rechnen, dass uns das Volk aus dem Ministerratsamt herausjagt. Dann sind wir Opfer der Bürgerbewegung. Deshalb mussten wir schnell handeln, aber ebenso dafür sorgen, dass etwa die Berufsabschlüsse der DDR-Bürger erhalten werden. Wären wir nur nach Artikel 23 beigetreten, hätten wir das in einem Überleitungsgesetz regeln müssen. Dann hätten Bürger mit dem Abschluss Staat und Recht in der DDR keine Anwaltspraxis eröffnen können, denn sie besaßen schließlich kein zweites Staatsexamen.

Ging mit dem 17. Juni ein symbolisch wichtiger Feiertag verloren?

Schäuble:

Wir lassen ihn nicht verloren gehen. Der Bundestag lädt jedes Jahr zu einer Gedenkstunde, die an die Opfer und das Erbe des 17. Juni erinnert. Im Jahre 1990 wäre eine Verständigung auf den 17. Juni als deutschen Nationalfeiertag ganz sicher undenkbar gewesen.

Krause:

Das war nicht möglich.

Schäuble:

Man hat auch schnell eingesehen, dass der 9. November nicht infrage kommt, weil dieser Tag so furchtbar belastet ist. Daher war die Entscheidung, den Tag des Vollzugs der deutschen Einheit als Nationalfeiertag zu nehmen, eine kluge Entscheidung. Er wird ja inzwischen von den Deutschen auch sehr angenommen. Im Übrigen haben wir mit dem 3. Oktober nun einen Tag, über den wir uns uneingeschränkt freuen können. Wir müssen nicht einmal Opfer beklagen. Der 3. Oktober war der erste denkbare Termin für die staatliche Vereinigung – nach dem Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages.

Krause:

Es gab aus Sicht der DDR-Regierung für die Vereinigung Deutschlands das Fenster zwischen dem 3. und dem 6. Oktober. Wir haben uns auf den möglichst frühzeitigen Termin geeinigt, weil wir überzeugt waren: Ein 6. Oktober hätte für Festredner immer den Rückgriff auf eine Erinnerung an den Untergang der DDR bedeutet; am 7. Oktober war ja der Nationalfeiertag der DDR. Das wollten wir nicht. Der 3. Oktober ist ein guter Termin, zumal die Souveränität beider deutscher Staaten nur 24 Stunden lang dauerte.

Das „Auferstanden aus Ruinen“ aus der DDR-Hymne vermissen Sie in unserer Nationalhymne nicht?

Krause:

Ich war kürzlich im Urlaub auf einem Campingplatz in Schweden. Dort hat mich ein deutscher Tourist erkannt und mich bei der Übertragung eines WM-Spiels, das wir uns alle angeschaut haben, gefragt, warum ich denn die Nationalhymne nicht mitsinge. Es ist nicht das „Deutschlandlied“, sondern das „Lied der Deutschen“. „Auferstanden aus Ruinen“ wäre als zweite Strophe der gesamtdeutschen Hymne wichtig gewesen. Einmal weil der Begriff „Deutschland einig Vaterland“ in dieser Strophe vorkommt. Und weil Honecker verboten hatte, das Lied zu singen. Er wollte jeden Gedanken an eine Wiedervereinigung tilgen. In den 80er-Jahren hat die westdeutsche SPD leider diese Haltung übernommen. Vielleicht kommt man eines Tages auf die Idee und integriert diesen Text in die Hymne. Wir sollten jedenfalls wegkommen von dem Missverständnis, dass unsere Hymne „Deutschlandlied“ heißt. Mit einer zweiten Strophe „Auferstanden aus Ruinen“ würde das gelingen.

Was meinten Sie zu „Auferstanden aus Ruinen“, Herr Schäuble?

Schäuble:

Die Veränderungsbereitschaft in der Bundesrepublik war gering. Die meisten Menschen im Westen kannten den Text der Becher-Hymne nicht, weil er nicht gesungen werde durfte. Für sie war es die Spalterhymne. Vor diesem Hintergrund hielt ich es für klüger, andere Widerstände im Westen zu überwinden als den Widerstand gegen dieses Lied.

Aber Sie hätten nichts gegen eine solche zweite Strophe gehabt?

Schäuble:

Ich habe später ein Buch geschrieben mit dem Titel „Und der Zukunft zugewandt“. Jeder, der etwas versteht, hat die zweite Zeile der Becher-Hymne darin erkannt – und meine Absicht ebenso.

1990 lernten Sie Menschen aus dem jeweils anderen Teil Deutschlands kennen. Wer wurde für Sie zum interessanten Gesprächspartner?

Krause:

Gerhard Stoltenberg etwa. Das hatte sicher damit zu tun, dass Stoltenberg dem Empfinden eines Norddeutschen wie mir entsprach. Außerdem sprachen wir beide Plattdeutsch. Und als Wolfgang sein schreckliches Schicksal ereilte, habe ich spontan Wahlkampf in seinem Wahlkreis gemacht. Ich lernte seine Kinder und viele Lokalpolitiker kennen. Fasziniert hat mich auch Theo Waigel. Er hatte damals als Finanzminister einen ähnlich komplizierten Job wie du heute, Wolfgang. Christian Schwarz-Schilling hat mich beeindruckt, er hat es mit der Privatisierung von Post und Telekom erst möglich gemacht, dass diese Infrastruktur im Osten so schnell entstand. Außerdem ist es mir als damaligem Ansprechpartner gelungen, zwei weitere ostdeutsche Kollegen aus Mecklenburg-Vorpommern ins Bundeskabinett zu holen: Rainer Ortleb war Mathematikprofessor aus Rostock, Angela Merkel hatte ihren Wahlkreis auf Rügen. Insofern wurde ich scherzhaft „BMV-Minister“ genannt – Bundesminister für Mecklenburg-Vorpommern.

Schäuble:

Die beiden wichtigsten Menschen, die ich in dieser Phase kennenlernte und mit denen ich seitdem befreundet bin, sind Günther Krause und Lothar de Maizière. Ich will aber auch Sabine Bergmann-Pohl nennen. Sie hat in ihrer ganz eigenen Art Herausforderungen großartig gemeistert. Wer sich an den Festakt beider Parlamente am 17. Juni 1990 im Schauspielhaus erinnert, kann das nachvollziehen. Sie hatte die Funktion des Staatsoberhaupts, leitete aber daraus keine überzogenen Ambitionen ab, sondern ging damit in einer klugen Zurückhaltung um. Und natürlich Richard Schröder, mit ihm bin ich seither befreundet. Schröder hat als Vorsitzender der SPD-Volkskammerfraktion, bevor er von Lafontaine gestürzt wurde …

Krause:

… und Thierse den Posten übernahm …

Schäuble:

… eine tolle Rolle gespielt und tut dies ja bis heute. Ich hatte das Glück, dass ich vor meiner Zeit als Innenminister als Chef des Bundeskanzleramts von 1984 bis 1989 für die DDR zuständig war. Daher kannte ich vieles aus anderer Perspektive.

In dem neuen Roman von Christa Wolf schwingt stets der Ton mit, irgendetwas sei mit dem Untergang der DDR verloren gegangen. Haben Sie dieses Gefühl auch?

Krause:

Erstens, ganz formal: Die DDR ist nicht untergegangen. Rechtsnachfolger der DDR ist jedes Bundesland und Berlin als Ganzes. So steht es im Artikel 44 Einigungsvertrag. Zweitens: Ich bin als Bürger der ehemaligen DDR froh, dass es die DDR nicht mehr gibt. Darum habe ich gekämpft.

Schäuble:

Ich kann es als Westdeutscher verstehen, dass Menschen wie Christa Wolf und die meisten, die in der DDR 40 Jahre lang gelebt haben, sagen: „Wir wollten nicht so leben, aber es waren 40 Jahre meines Lebens.“ Damit müssen wir respektvoll umgehen. Da ist manches besser geworden, aber da können wir noch immer etwas tun. Die Westdeutschen müssen sich klarmachen, dass die Menschen in der DDR unter anderen Rahmenbedingungen gelebt und gelitten, gestrebt und getrauert haben. Was von der DDR als Institution übrig bleiben soll, das müsst ihr mir mal erklären. Das habe ich schon bei den Diskussionen über eine neue Verfassung nicht verstanden. Die meisten Ostdeutschen wohl auch nicht, die wollten möglichst schnell so leben wie im Westen. Dass auch hier nicht das Paradies ist, hat Joachim Gauck in klassischer Form formuliert: Wir träumten vom Paradies – und landeten in Nordrhein-Westfalen. So ist die Geschichte.

Was machen Sie am 20. Jahrestag der Vereinigung, am 3. Oktober?

Krause:

Ich denke, da sehe ich Wolfgang Schäuble bei den Einheitsfeierlichkeiten in Bremen.

Schäuble:

So wird es sein!

Die Fragen stellten Thomas Schmid und Daniel Friedrich Sturm

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