Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble beim Tag der Wirtschaft der Volksbanken und Raiffeisenbanken in Frankfurt am Main
(Es gilt das gesprochene Wort.)
„Die fragwürdigen Dinge dieser Welt gehen an ihrer eigenen Natur, die guten jedoch an ihrer Übertreibung zugrunde.“
Das, was Wilhelm Röpke, einer der Theoretiker der sozialen Marktwirtschaft, 1957 erkannte, gilt auch heute.
Wir erleben dieser Tage die wohl größte Vertrauenskrise der modernen Marktwirtschaft seit Ende des Krieges. Ich bin überzeugt, dass die Ursachen hierfür in Übertreibungen liegen, ohne dass allerdings diese Marktwirtschaft zugrunde gehen wird.
Seit nunmehr fast 40 Jahren erleben wir auf den Finanzmärkten eine beispiellose Dynamik. Die Aufhebung des Bretton Woods Abkommens mit der nachfolgenden freien Bildung von Wechselkursen und die anschließende Deregulierung der Kapitalmärkte hat eine globales Netz von Finanzströmen und Kapitalbeständen geschaffen, welches für die Entwicklung der Weltwirtschaft und den allgemeinen Wohlstand große Dienste geleistet hat.
Die Krise, in der wir uns nun befinden, sollte uns nicht dazu verleiten, die soziale Marktwirtschaft als System in Frage zu stellen. Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass es in der menschlichen Geschichte keine grenzenlose, ununterbrochene Linie nach oben geben kann. Auf eine Serie von Erfolgen und von Fortschritten folgen Rückschritte. Das hat nichts damit zu tun, dass die soziale Marktwirtschaft als System nicht funktionierte – dann hätte sie nicht jahrzehntelang so gut funktioniert und Wohlstand geschaffen –, sondern liegt eher in der menschlichen Natur. Ich erinnere mich noch, wie Ludwig Erhard in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts nach einer Phase beispiellosen Wirtschaftswachstums zu Maßhalten aufgefordert hat und hierfür regelrecht verlacht wurde – weil man nicht glauben wollte, dass es auch einmal wieder magere Jahre geben könnte. Anfang der siebziger Jahre wurden dann viele mit der Ölkrise eines Besseren belehrt.
„Markets Unbound – Unleashing Global Capitalism“, „Entfesselte Märkte – Den globalen Kapitalismus von der Leine lassen“ hieß ein wegweisendes Finanzmarktbuch zur Deregulierung und Verbriefung von Krediten des McKinsey Beraters Lowell Bryan aus dem Jahre 1996. Im Jahre 2008 klingt es leider verdächtig nach Ikaros und seinem verhängnisvollen Höhenflug. Der Maßlosigkeit des Menschen und seines Hanges zur Hybris muss man bewusst sein, wenn man die derzeitige Krise – aber auch frühere – verstehen will.
Für die gegenwärtige Krise werden nun viele auf den ersten Blick plausible volkswirtschaftliche Erklärungen gegeben: die über viele Jahre hinweg laxe Geldpolitik der amerikanischen Notenbank, die unverantwortliche Anheizung des amerikanischen Immobilienmarktes – sozial- und integrationspolitisch getrieben –, die verhängnisvolle Entscheidung der Securities and Exchange Commission zur Aufhebung der Verschuldungsgrenzen für Wertpapierhandelshäuser, die Refinanzierung und weltweite Verteilung des gigantischen Hypotheken- und Kreditausfallrisikos durch Verbriefung und so genannte Finanzinnovationen bis hinein in die Depots deutscher Bürger.
Das ist alles wahr und greift doch zu kurz. Denn niemand war gezwungen, sich dem Streben nach kurzfristiger Rendite zu unterwerfen, niemand war gezwungen wegen ein paar Basispunkten von sicheren Staatsanleihen auf spekulative Zertifikate und Derivate umzusteigen. Aber viele wollten dabei sein als der Kapitalmarkt hohe Rendite versprach: die Banken, viele Bürger und übrigens auch nicht wenige staatliche Einheiten wie beispielsweise etliche Gemeinden.
Ich will damit nicht ablenken von dem vielfältigen individuellen Versagen vieler Mitglieder der internationalen Finanzelite – beispielsweise von Managern großer Finanzkonzerne, die offensichtlich selbst nicht mehr in der Lage waren, die von ihnen mit geschaffenen Strukturen zu durchschauen. Das Unbehagen über das Ende im Scheitern wird umso größer, als viele angesichts von Gehältern, Bonuszahlungen und Gewinnen in bestimmten Bereichen der Finanzindustrie schon länger das ungute Gefühl hatten, dass hier Maßlosigkeit unkontrolliert waltet.
Eine längerfristige Aufgabe wird es nun sein, möglichst unideologisch zu analysieren, was genau die Ursachen und Auslöser für diese Krise waren, und sie im Wechsel von wirtschaftlichen Wachstum und Rückschlägen einzuordnen.
Wenn man zurück in die Geschichte blickt, kamen größere Krisen oft nach längeren Phasen der Stabilität und soliden Wachstums. Gerade in der ersten Zeit der modernen Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert gab es tiefe Wirtschaftskrisen, die sich aus Phasen großer Innovation, darauf folgender Spekulation und anschließender Rezession entwickelt haben.
Wer das literarisch nachlesen will, dem sei etwa „L’Argent“ von Emile Zola empfohlen. Auch damals waren Hybris und maßlose Gier die Triebfedern, die ins Verhängnis führten. Emile Zola beschreibt das – wie wir heute wissen – zeitlos. Wir müssen also vorsichtig sein, wenn wir davon reden, dass es eine solche Krise so oder so ähnlich noch nie gegeben habe. Oft sind solche Superlative nur Ausdruck eines beschränkten Horizonts oder nur ihrerseits eine gewisse Übertreibung.
Richtig ist sicher, dass solche Krisen immer wieder unterschiedliche Auslöser hatten. Und so hat die jetzige Krise wohl auch mit den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen einer globalisierten Welt und einer globalisierten Finanzwirtschaft zu tun. So wie Emile Zola die erste große Krise des Industriekapitalismus beschreibt, haben wir heute vielleicht die erste große Krise der Informationsgesellschaft und ihrer Ökonomie.
Lord Dahrendorf hat jüngst diagnostiziert, dass die Globalisierung im Finanzsektor vor allem eine Informationsrevolution war, und das plastisch am Lebensstil der handelnden Personen beschrieben: Früher seien Banker in der Londoner City zwischen 10 und 11 Uhr ins Büro gekommen. Um halb eins gab es den ersten Sherry, dann speiste man ausgiebig mit interessanten Leuten zu Mittag. Dann musste man noch im Büro bleiben bis die Wall Street aufmachte, also bis halb vier nachmittags. Danach fuhren alle nach Hause. So gut hatten Sie es bei den Volks- und Raiffeisenbanken nie.
Lord Dahrendorf beschreibt auch, wie die heutige permanente Informationsverfügbarkeit eine neue Art von „Wirtschaftssubjekten“ geschaffen hat: Leute, die vierundzwanzig Stunden arbeiten und sich völlig kaputtmachen.
Die Informationsgesellschaft auf den Finanzmärkten hat dazu geführt, dass dort Komplexitäten geschaffen und gehandelt werden, die an die Grenzen der menschlichen Verständnisfähigkeit gehen. Der Handel mit Derivaten bedeutet, dass sich Risiken und Informationen über Risiken völlig von ihrer Grundlage lösen und immer weniger anschaulich werden.
Bei dem guten alten Hypothekenkredit kann die Bank das Grundstück besichtigen, das beliehen wird. Wenn sie vorsichtig war, dann hat sie es nur zu 60 oder 80 Prozent beliehen. So war sie sicher, solange die Werte nicht stärker fielen. Würden sie stärker fallen, fiel die Bank in der Regel nur mit einem kleinen Teil ihres Engagements aus. Ging es im Einzelfall stärker schief, so wusste man, dass eine Fehleinschätzung zu Grunde lag. Die Ausleihung hat die Bank mit Eigenkapital unterlegt. Entscheidung, Handeln und Risiko lagen in einer Hand.
Im modernen Finanzsystem ist es weit komplizierter. Die finanzierende Bank gibt das Kreditrisiko weiter, ein Dritter übernimmt es. Der Dritte muss nun – ohne das Grundstück und den Kreditnehmer ebenso gut zu kennen, also mit viel weniger Informationen – zu einer Risikoeinschätzung kommen. Die Bank glaubt sich sicher, weil sie das Kredit- und Ausfallrisiko losgeworden ist. Sie trägt aber das Bonitätsrisiko dessen, der ihr das Kredit- und Ausfallrisiko abgenommen hat. Sie muss also eine ihr überschaubare Risikobewertung – etwa die Verwertbarkeit eines bestimmten Betriebsgrundstücks – ersetzen durch eine viel komplexere Risikobewertung: Ist etwa Lehman Brothers eine Adresse, die sicher genug ist als Übernehmer von Kreditrisiken? Hier muss sie sich wiederum auf Ratingnoten verlassen, die ihrerseits auf einer sehr individuellen Sammlung und Gewichtung von Informationen beruhen.
Die wirklichen Strukturen sind noch weit komplizierter als dieses vereinfachte Beispiel. Das Grundproblem bleibt aber: mangelnde Transparenz, zunehmende Beschleunigung und Komplexität, die wir überall, aber eben auch in der Finanzwelt beobachten können. Gute Entscheidungen setzen aber voraus, dass man die Dinge übersieht, versteht und richtig einschätzt.
Überblick und Sachkenntnis wurden vielfach durch reines Vertrauen ersetzt. Und es grenzte wohl doch an Hybris zu denken, dass ein so komplexes System nicht fehleranfällig sei. Der Übertreibung in die eine Richtung, dem teilweise leichtfertigen Vertrauen, folgt dann fast zwangsläufig die Übertreibung in die andere Richtung: der völlige Vertrauensverlust. Nun glaubt an den Finanzmärkten niemand mehr irgendetwas.
Natürlich gibt es kein Patentrezept dafür, wie man aus einer solchen Krise wieder herauskommt und was in Zukunft genau verändert werden muss. Es ist aber klar, dass der Staat gefordert ist, weil in der jetzigen Situation nur er das notwendige Vertrauen hat. Mit den am Montag vom Bundeskabinett beschlossenen Maßnahmen haben wir gezeigt, dass wir entschlossen und kraftvoll handeln, bis das Vertrauen in die Finanzmärkte wieder hinreichend hergestellt ist.
Der Beschluss der Bundesregierung ist kein Geschenk für die Banken und schon gar keine Hilfeleistung für notleidende Bankiers. Es ist ein ebenso notwendiges wie pragmatisches Hilfspaket für die Funktionsfähigkeit der gesamten deutschen Wirtschaft und somit für alle Menschen in diesem Land.
Es gehört zu den positiven Seiten dieser Krise, dass sie den Wert und die Kraft des Staates und das Vertrauen in ihn zeigt. Viele sahen den Nationalstaat ja schon als ein Relikt vergangener Zeiten, das mit zunehmender Globalisierung, Liberalisierung der Märkte und Öffnung der Grenzen bedeutungsloser zu werden schien. Freiheit – persönliche wie wirtschaftliche – gründet aber immer auf Verantwortung. Die Verbindung zwischen Freiheit und Verantwortung bedarf der Ordnung.
Die Märkte, wie wir sie kennen, sind auf Voraussetzungen angewiesen, die sie nicht selbst schaffen können. Vor allem brauchen die Märkte eine komplexe staatliche Rahmenarchitektur, die ihre Funktionsbedingungen sichert und das Vertrauen gewährleistet, ohne das sie nicht existieren können.
Mit dem Verhältnis von Markt und Staat ist es ähnlich wie mit dem Verhältnis von Sicherheit und Freiheit, für das ich als Innenminister zuständig bin. Freiheit und Sicherheit sind keine Gegensätze, sondern bedingen sich gegenseitig. Die Wahrnehmung der Freiheitsrechte setzt ein hinreichendes Maß an Sicherheit als Grundlage für Vertrauen voraus. Eine freiheitliche Gesellschaft lebt vom Vertrauen – vom Vertrauen in eine funktionsfähige Wirtschaft ebenso wie vom Vertrauen in den persönlichen Schutz des Individuums als Grundvoraussetzung für Freiheit. Sie lebt vom Vertrauen in die öffentliche Sicherheit und Ordnung, vom Vertrauen in den Rechtsstaat.
Auch hier haben sich die Bedingungen in einer globalisierten Welt geändert. Die Herausforderungen der Sicherheitspolitik sind heute andere als noch vor 50 Jahren. Wir haben nicht nur eine globalisierte Wirtschaft, wir haben auch eine globalisierte Sicherheitslage. Krisen und regionale Konflikte in einem Land wirken sich auf andere aus. Ebenso wie in der Wirtschaft können wir unsere allgemeine Sicherheitslage nicht mehr isoliert von der weltweiten Sicherheitslage bewerten. Die Akteure und gegenseitigen Abhängigkeiten werden unübersichtlicher.
Die immer dichtere Vernetzung unserer Welt – getrieben durch neue Kommunikationstechnologien, aber auch durch die weltweite Migration – führt dazu, dass klassischen Begriffe und Grenzen verwischen. Das gilt nicht nur, aber auch für die Sicherheitspolitik. Die alte Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Sicherheit passt nicht mehr. Es macht keinen Sinn, danach zu unterscheiden, ob ein Terrorist aus dem Ausland anreist, um seine Tat zu verüben oder nicht. Deswegen müssen wir die Voraussetzungen schaffen, damit wir im Ernstfall wirkungsvoll – das heißt an der tatsächlichen Bedrohung orientiert – handeln können.
Dafür brauchen wir die rechtlichen Voraussetzungen. Wir brauchen die Nachrichtendienste, damit wir bestimmte Bedrohungen überhaupt wahrnehmen, wir brauchen den Informationsaustausch zwischen Sicherheitsbehörden und Nachrichtendiensten und wir brauchen Ermittlungsinstrumente, die mit dem Fortschritt der Technik mithalten. In der Informationsgesellschaft sind verlässliche Informationen unverzichtbar, um die Lage realistisch einschätzen und sachgerecht handeln zu können. Das ist in der Sicherheitspolitik genauso wie auf dem Finanzmarkt.
Manche versuchen – mit etwas ermüdender Routine –, das als Überwachungsstaat zu diffamieren. Danach könnten Sie in Deutschland praktisch davon ausgehen, dass, wann immer Sie zu Hause zwei Worte sagen, alles abgehört wird. Tatsächlich gab es 2007 in Deutschland insgesamt 5 Millionen strafrechtliche Ermittlungsverfahren, und nur in 10 Fällen ist das Instrument der akustischen Wohnraumüberwachung eingesetzt worden. Sie können annehmen, dass es in diesen 10 Fällen nicht um den Vorwurf des Schwarzfahrens ging. Das zeigt, dass unser Staat mit seinen sicherheitspolitischen Befugnissen nicht maßlos, sondern sehr besonnen umgeht.
Absolute Sicherheit gibt es nicht. Wir sollten weder die Illusion haben, der Staat könnte lückenlos Sicherheit gewährleisten, noch diese Illusion für erstrebenswert halten. Die freiheitliche Ordnung lebt von ihrer Unvollkommenheit. Maßvolles und besonnenes staatliches Handeln darf aber auch nicht heißen, dass der Staat ohnmächtig zuschauen muss, etwa weil er technisch nicht auf Augenhöhe mit Kriminellen operiert oder weil er Informationen nicht erheben oder vorhandene Informationen nicht nutzen darf. Der Rechtsstaat schützt nur dann die Freiheit, wenn er durchgesetzt wird. Das ist die Voraussetzung, für das Vertrauen der Menschen in den Rechtsstaat und für die Stabilität unserer Gesellschaft.
Der Staat steht auf Seiten seiner Bürgerinnen und Bürger. Das wissen die meisten Menschen, und deswegen vertrauen sie ihm. Das gilt in der Sicherheitspolitik, wo der Staat besonders präsent ist – weil die Gewährleistung der Sicherheit eine der Kernaufgaben des Staates ist. Das gilt aber auch dort, wo sich der Staat sonst eher zurückhält.
Das Hilfspaket der Bundesregierung in der Finanzmarktkrise ist ein Beispiel hierfür. Es ist geeignet – und ich bin zuversichtlich, dass es gelingt –, die akuten Probleme des Finanzmarktes zu beseitigen: Es wird Liquidität schaffen, Kreditvergaben ermöglichen und so die finanziellen Grundlagen der Wirtschaft sichern. Darüber hinaus werden wir die Ursachen und Auslöser der Krise gründlich analysieren müssen und dann weitere Maßnahmen und strategische Vorkehrungen treffen. Das Wichtigste ist, dass wir aus den Fehlern lernen und dass wir aus dem Rückschlag einen Fortschritt machen.
Es muss Korrekturen geben. Wir dürfen uns aber nicht in eine Systemkrise hineinreden. Wer glaubt, ein System entwickeln zu können, das völlig frei von Krisen und Rückschlägen ist, der ist nicht weniger der Hybris verfallen als jene, die in den letzten Jahren an die grenzenlose Effizienz und Stabilität der globalisierten Märkte geglaubt haben. So wie manche in den vergangenen Jahren in fast jeder Talkshow bei Christiansen und Illner den Staat gescholten und nach Deregulierung gerufen haben, so vorsichtig müssen wir nun sein, dauerhaft nach mehr Staat zu rufen. Wir müssen unterscheiden zwischen der Bewältigung der akuten Vertrauenskrise – hier gibt es niemanden anderen als den Staat – und der Vorbeugung gegen ähnliche Krisen.
Es ist zu früh, um jetzt schon konkrete Rezepte vorzuschlagen. Ich glaube auch nicht, dass es um mehr oder weniger Staat oder um mehr oder weniger Regulierung geht, sondern schlicht um eine bessere, problemadäquatere Regulierung.
Ich bin auch skeptisch, ob es sinnvoll ist, immer mehr Regulierung auf die internationale Ebene abzugeben. Die Stabilität des Systems muss sich dadurch nicht unbedingt erhöhen. In vereinheitlichten Systemen mögen vielleicht weniger einzelne Fehler passieren, aber jeder Fehler birgt das Risiko, dass er alle betrifft und sich so breiter auswirkt. Monokulturen sind ja auch in der Landwirtschaft weniger widerstandsfähig.
Monokulturen und Giganten haben, solange es gut geht, häufig spektakulärere Erfolge. Sie führen aber auch zu tieferen Krisen. Deswegen sollten wir die Mischkultur pflegen, die wir in Deutschland haben. Wir brauchen nicht nur große Konzerne und Großbanken, sondern wir brauchen auch eine starke mittelständische Wirtschaft. Das ist die beste Vorkehrung gegen Übertreibungen und Krisen, wie wir sie in diesen Tagen spüren.
Deswegen müssen wir darauf achten, den Mittelstand nicht zu vernachlässigen, zum Beispiel in der Steuerpolitik. Es darf kein Argument für die Bevorzugung großer Konzerne sein, dass diese ihre Aktivitäten ins Ausland verlagern können.
Unterschiedlich intensiver Steuerwettbewerb sollte nicht dazu führen, dass jene schlechter gestellt werden, die nicht ausweichen können.
Es ist auch der Mittelstand, in dem Bindungen häufig noch zählen: der persönliche Kontakt zu Geschäftpartner und Kunden, die Ausbildung und Betreuung von Mitarbeitern, die familiäre Tradition und Unternehmensfortführung.
Damit sind Werte verbunden, die wichtige Voraussetzungen dafür sind, dass der Markt funktioniert. Wirtschaft hat ebensoviel mit Sitten und Tugenden wie mit betriebswirtschaftlicher oder buchhalterischer Mechanik zu tun. Wirtschaft lebt vom Miteinander, vom Austausch auf langfristiger Basis, Wirtschaft lebt auch von Tradition und Erfahrung.
Das wussten auch die Väter der genossenschaftlichen Bankwesens, Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Ich sage das, weil ich weiß, wie oft in den vergangenen Jahrzehnten Ihre Art der Bankgeschäfte in der Welt der Hochfinanz belächelt wurde. Ebenso wie das deutsche Universalbankensystem, das noch in den achtziger und neunziger Jahren als altmodisch und hausbacken galt. In den letzen drei Wochen hört man nun Loblied über Loblied zum deutschen Universalbankensystem.
Tradition und Erfahrung ist – auch wenn das bei manchen aus dem Blick geraten war – gerade in unserer schnelllebigen, unübersichtlichen Welt von großem Wert. Und noch etwas hegen und pflegen Sie, was heute wieder von Bedeutung ist: echte Kundenbeziehungen im Sinne von Menschenkenntnissen. Neulich las ich einen Artikel über eine Raiffeisenbank in Bobingen in Bayerisch-Schwaben. Dort ist der Filialleiter derzeit eher Seelsorger als Banker, der seinen Kunden, die er alle persönlich kennt, die schlimmsten Panikreaktionen in oft stundenlangen Gesprächen ausredet.
Die Marktwirtschaft ist immer dann am stärksten und im Gleichgewicht, wenn sie von Menschen getragen wird, die über den Tag und das nächste Quartal hinaus handeln und Verantwortung übernehmen. Auch das wusste Wilhelm Röpke, der in seinem Buch „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ schrieb:
„Selbstdisziplin, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Fairness, Ritterlichkeit, Maßhalten, Gemeinsinn, Achtung vor der Menschenwürde des anderen, feste sittliche Normen – das alles sind Dinge, die die Menschen bereits mitbringen müssen, wenn sie auf den Markt gehen und sich im Wettbewerb miteinander messen.“
Das sind hohe Ansprüche, die sicher auch nach dieser Krise nicht immer erfüllt werden. Es geht auch nicht um Makellosigkeit im Einzelfall, sondern darum, dass uns diese Tugenden nicht aus dem Blick geraten. Dafür sind wir alle verantwortlich und dafür müssen wir uns, in der richtigen Balance von Eigenverantwortung und staatlicher Steuerung, einsetzen. Je besser uns das gelingt, desto besser wird – im Interesse aller Menschen in unserem Land – unsere überlegene Wirtschaftsordnung, die soziale Marktwirtschaft, funktionieren.