Sicherheit im Verfassungsstaat



Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble bei der Justizpressekonferenz
am 7. November 2007 in Karlsruhe

 
I. Der Rechtsstaat muss sein Recht durchsetzen

In der modernen Rechtsstaatlichkeit ist die Herrschaft des Rechts, die ?rule of law?, untrennbar mit der Durchsetzung des Rechts verknüpft. Ohne die Durchsetzung des Rechts ? unter Einsatz des staatlichen Gewaltmonopols ? bestünde ein faktischer Zustand der Rechtlosigkeit.

Otto Bähr, einer der Begründer der kontinentalen Rechtsstaatsidee im 19. Jahrhundert, hat diese Verknüpfung so formuliert: ?Damit der Rechtsstaat zur Wahrheit werde, genügt es nicht, dass das öffentliche Recht durch Gesetze bestimmt sei, sondern es muss auch eine Rechtsprechung geben, welche das Recht für den concreten Fall feststellt, und damit für dessen Wiederherstellung, wo es verletzt ist, eine unzweifelhafte Grundlage schafft.? Hieran anknüpfend hat Hans-Jürgen Papier auf die untrennbare Verknüpfung der Herrschaft des Rechts mit seiner Durchsetzung durch die rechtsprechende Gewalt hingewiesen.

Das Gebot der Durchsetzung des Rechts beschränkt sich jedoch nicht auf die Gerichte, sondern erstreckt sich ebenso auf die Exekutive. Die Durchsetzung des Rechts umfasst die Ahndung von Rechtsverstößen und die Wiederherstellung des Rechts durch geordnete und grundrechtlich gemäßigte staatliche Verfolgung und Sanktion. Bei der ultima ratio des Rechtsstaats, dem Strafrecht, bedeutet das eine geregelte Strafverfolgung. Zum Rechtsstaat gehört aber auch, dass wir die Bedingungen schaffen, die Straftaten verhindern und ihnen schon im Vorfeld vorbeugen. Prävention hat im Rechtsstaat, gerade bei Straftaten, keinen niedrigeren Rang als nachträgliche Verfolgung. Ich verstehe deshalb nicht, wenn argumentiert wird, dass bestimmte Grundrechtseingriffe von vornherein nur zur Strafverfolgung, aber unter
keinen Umständen gesetzlich zur Vorbeugung vorgesehen werden dürfen.

 
II. Recht sichert Freiheit
Spätestens seit Thomas Hobbes? ?Leviathan? wird es als Ziel staatlicher Gewalt angesehen,ein Leben in Sicherheit zu ermöglichen. Mit der Errungenschaft einheitlicher staatlicher Machtausübung gelang es, die konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts zu beenden und den Staat als obersten Hüter von Ruhe, Sicherheit und Ordnung zu etablieren. Das staatliche Gewaltmonopol legitimierte sich in der Schutz und Sicherheit gewährenden Funktion des Staates.

Thomas Hobbes hat dies noch mit dem absolutistischen Staat verbunden. Die Theoretiker der Rechtsstaatlichkeit ? Locke, Kant, Fichte, Humboldt, Hegel, Mill ? haben später die freiheitssichernde Funktion von Recht und Gesetz hervorgehoben. Freiheit und Sicherheit sind nicht ? wie bei Hobbes ? Gegensätze, sondern bedingen einander. Freiheit ist ebenso wie Sicherheit Staatszweck, in der Rechtsstaatlichkeit ? rule of law ? verbinden sie sich.

Manche aktuelle Diskussion in Deutschland scheint demgegenüber bei Thomas
Hobbes stehen geblieben zu sein. Mit einem vordemokratischen Staatsbild wird ein Gegensatz konstruiert zwischen der an Freiheit und Autonomie des Einzelnen orientierten Logik des liberalen Rechtsstaats und der an Sicherheit und Effizienz orientierten Logik eines dem Rechtsstaat entgegengesetzten Präventionsstaates. Der idyllischen, vorstaatlichen und vorrechtlich konstruierten Freiheit des Einzelnen wird der freiheitsbedrohende Staat gegenüber gestellt, der selbst noch im demokratischen Gesetzgeber verkörpert ist.

Dieses Denkmuster hängt vielleicht mit unserer Geschichte zusammen: eine Staatstradition, die sich im 19. Jahrhundert nur langsam von einer obrigkeitsstaatlichen Tradition zu einem Staat der Bürger entwickelte, auf den dann aber die Perversion des Staats durch den Nationalsozialismus folgte. So muss der Gesetzgeber bei uns mit einem Grundmisstrauen leben, das aufgrund des angelsächsischen ?rule of law?- Verständnisses in Großbritannien oder in Frankreich ? dort aufgrund des volonté generale- Konzepts ? nicht gleichermaßen ausgeprägt ist.

Auch unter dem Grundgesetz hat die Wahrung von Sicherheit und damit von Rechtsfrieden Verfassungsrang. Eines expliziten Staatsziels Sicherheit bedarf es hierfür nicht. Es wäre ? so das Bundesverfassungsgericht ? eine ?Sinnverkehrung des Grundgesetzes, wollte man dem Staat verbieten, terroristischen Bestrebungen ? mit den erforderlichen rechtsstaatlichen Mitteln wirksam entgegenzutreten. Die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet.?
Hier klingt noch etwas vom Gegensatz zwischen individueller Freiheit und Sicherheit an. Wo es diesen Gegensatz gibt, ist sorgfältige Austarierung und Abwägung nötig. Konrad Hesse hat dies mit dem Begriff praktischer Konkordanz auf den Punkt gebracht. Zur rule of law und zum Rechtsstaat gehört, dass es vor allem Sache des Gesetzgebers ist, diese praktische Konkordanz in der Allgemeinheit und der Form des Gesetzes herzustellen. Untrennbar hiermit verbunden ist der Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte, der effektiv und wirksam sein muss. Es ist hier aber auch daran zu erinnern, dass die von der Verfassung mit praktischer Konkordanz geforderte Gewichtung der Belange und Austarierung im Einzelfall zuvorderst in den Formen des Rechts durch den Gesetzgeber zu erfolgen hat. Der Gesetzgeber hat die Gestaltungsaufgabe, den Gerichten obliegt Rechtsschutz und Rechtsdurchsetzung, die Verfassungsgerichtsbarkeit hat eine Kontrollfunktion.

Die Freiheit des Grundgesetzes erschöpft sich nicht in der Ausgrenzung eines Raumes eigenen Beliebens, sondern meint rechtlich geordnete Freiheit. Disziplinierung des Staates durch die Grundrechte und seine Aktivierung gehören in der Rechtsstaatlichkeit zusammen. Nie war die Freiheit nur vom Staat bedroht. Im Gegenteil: Unter den Bedingungen moderner Staatlichkeit bedrohen grundsätzlich nur nichtstaatliche Akteure das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Auch die persönliche Freiheit und die Bewegungsfreiheit sind weit mehr von nichtstaatlicher Gewalt bedroht als durch den Rechtsstaat.

Man braucht dabei gar nicht an Entführungen und Menschenhandel zu denken.
Durch einen chilling effect beeinträchtigt die terroristische Bedrohung die Bewegungs- und Handlungsfreiheit der Bevölkerung unmittelbar. Wenn etwa in der Debatte über die Videoüberwachung öffentlicher Räume die gefühlte ? und damit auch reale ? Verkürzung der individuellen Freiheit geltend gemacht wird, so ist ebenso an die reale Verkürzung individueller Freiräume zu erinnern, die aus unsicherer und bedrohter persönlicher Sicherheit im öffentlichen Raum erwächst. Wer ist unfreier: der Bürger, der sich aufgrund einer Sorge vor Kriminalität zu bestimmten Zeiten nicht mehr in die Öffentlichkeit an bestimmte Orte traut oder derjenige, der bestimmte Räume meidet, weil sie videoüberwacht sind?

Ein Maximum an informationeller Selbstbestimmung nützt uns nichts, wenn uns dadurch die Freiheit genommen wird, uns sicher zu bewegen. Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: Ist die Freiheitsverkürzung, die in einer automatischen Ablesung von Autokennzeichen und dem sofortigen Abgleich mit der Fahndungsdatei gestohlener Autos liegt, wirklich relevant im Vergleich zur Freiheitsverkürzung, die mit der Gefahr häufig unaufgeklärter und damit sanktionsloser Autodiebstähle verbunden ist? Welchem Freiheitsideal entspricht es, wenn die Bürger ein Gefühl staatlicher Ohnmacht haben müssen, und sie sich nur im Wege des Selbstschutzes ? etwa mit immer aufwendigeren Alarmanlagen oder gar dem organisierten Selbstschutz von gated communities ? wehren können? Schon bei der Zusammenführung banaler Daten
werden unter dem Stichwort eines chilling effects schwerwiegende Freiheitsverkürzungen gemutmaßt, der chilling effect einer allgemeinen Bedrohungslage oder sehr konkreter Unsicherheit wird dabei oft ignoriert.

Der Schutz vor nichtsstaatlichen Grundrechtsgefährdungen ist also nicht ein archaisches Relikt des Leviathan, das gegen den freiheitsachtenden Rechtsstaat abzuwägen ist. Vielmehr schützen die Grundrechte des Verfassungsstaats gegen nichtstaatliche
Grundrechtsverkürzungen ebenso wie gegen staatliche, in Gesetz und Recht
werden beide Grundrechtsdimensionen zusammengeführt.
Das Grundgesetz verpflichtet die staatliche Gewalt, die Menschenwürde nicht nur zu
achten, sondern auch zu schützen. Mit der Schutzpflicht-Doktrin erweist sich der
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Schutz potentieller Opfer nicht mehr als bloßer Reflex der Sorge des Staates für die
öffentliche Sicherheit, sondern auch als Erfüllung einer Pflicht, die der Staat dem
Bürger schuldet.
III. Wandel der Gesellschaft und der Sicherheitslage
Der Rechtsstaat muss seine Aufgabe, das Recht zu wahren und durchzusetzen,
auch in einer sich verändernden Gesellschaft erfüllen.
Die weltweite immer dichtere Vernetzung durch moderne Kommunikations- und
Transportsysteme, die massenhafte, weltumspannende Individualkommunikation,
der elektronische Austausch von Gütern und Dienstleistungen, die Mobilität der Menschen,
die Virtualität und Ortlosigkeit ganzer Unternehmen, bereiten dem Staat dabei
erhebliche Probleme.
Die Parameter des Staates in der allgemeinen Staatsrechtlehre ? Staatsvolk, Staatsgewalt
und Staatsgebiet ? erscheinen im Zuge der Globalisierung als nicht mehr
trennscharf. Die Landesgrenzen werden zunehmend obsolet. Mit offenen Grenzen
und Internet einhergehen die Abnahme staatlichen Einflusses und Kontrollierbarkeit
des Geschehens ? und so gewissermaßen der faktische Verlust von Souveränität.
Die gesellschaftlichen Veränderungen ? offene Grenzen, kommunikative Vernetzung,
Internet ? bleiben natürlich nicht vor Kriminellen stehen, sondern werden von ihnen
intensiv genutzt. Der Handtaschendiebstahl ist durch den Datenklau und anschließenden
Online-Betrug ersetzt worden. Die Verlagerung menschlicher Aktivität ins
Internet spiegelt sich in einer steigenden Internetkriminalität. In der Sicherheitspolitik
geht es also nicht nur um eine neue Bedrohung durch internationalen Terrorismus,
sondern auch um eine sich wandelnde Alltagskriminalität in der digitalen Informationsgesellschaft.
Zugleich sind die Bedrohungen, die vom Verlust staatlicher Souveränität ausgehen,
von failing states und asymmetrischer Kriegsführung, und die der Nährboden des
internationalen Terrorismus sind, eine der ganz großen sicherheitspolitischen Herausforderungen
unseres Jahrhunderts. Dazu gehört, dass wir nicht nur weltweit viel6
fältige Krisen und Konflikte haben, sondern auch, dass sie nicht mehr ausschließlich
von souveränen Staaten beherrscht werden: Das Konfliktgeschehen wird heute auch
von Bürgerkriegen, von selbsternannten Warlords, Guerilla-Kämpfern, regionalen
und privaten Kriegsherren bestimmt. Gewaltanwendung in großem Stil ist zu einer
Dienstleistung geworden, für die es Märkte gibt.
Im Grunde ist das nicht neu, sondern eher ein Rückfall vor die Zeit des Westfälischen
Friedens, in dessen Folge sich das staatliche Gewaltmonopol etablierte. Die sich für
uns daraus ergebenden Bedrohungen sind vielfältiger, vor allem aber schwerer berechen-
und kontrollierbar. Warlords, Organisierte Kriminalität und internationaler Terrorismus
finanzieren sich gegenseitig. Die weltweiten Spannungen und Konflikte sind
die Basis für terroristische Entwicklungen, die sich dann auch bei uns entladen. Unsere
traditionellen, klassischen Bezüge, die alte Trennung zwischen innerer und äußerer
Sicherheit werden somit zunehmend obsolet.
Was die richtigen Antworten auf diese Entwicklungen sind, darüber wird heftig diskutiert.
Es gibt wohl auch keine fertigen und sicheren Antworten darauf. Wir dürfen uns
dieser Entwicklung aber nicht verschließen, ob wir sie nun gut finden oder nicht, und
müssen nach Antworten suchen. Der Rechtsstaat muss seiner Schutzpflicht auch in
einer sich verändernden Realität nachkommen, er darf nicht resignieren und sich zurückziehen,
sondern muss sich aktiv mit neuen Entwicklungen auseinandersetzen.
Auflösung des Gegensatzes von Innen und Außen
Sicher ist, dass wir im Hinblick auf die zunehmende Durchlässigkeit von Grenzen
und die zunehmenden grenzüberschreitenden Aktivitäten der Menschen eine stärkere
internationale Zusammenarbeit brauchen. Das Abkommen über die Übermittlung
von Fluggastdaten ist hier ein Beispiel.
Unilaterale Entscheidungen tragen nicht mehr weit. Deswegen brauchen wir eine
enge Abstimmung untereinander, wenn wir das gemeinsame Ziel, Freiheit und Sicherheit,
erreichen wollen. Wenn aber unilaterale Entscheidungen nicht tragen, dann
müssen wir uns auch stärker engagieren. Schließlich können wir nicht multilateral
entscheiden, was andere unilateral zu tun haben.
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Wir müssen uns stärker im Ausland engagieren ? durch humanitäre Einsätze, aber
auch militärische und polizeiliche Interventionen, um ein Mindestmaß an Sicherheit
zu gewährleisten als Grundvorausaussetzung für Stabilität und gesellschaftlichen
Aufbau. Wir müssen dabei darauf achten, dass wir durch militärische Einsätze nicht
mehr Provokation schaffen als in der Sache voranzukommen. Entscheidungen in
asymmetrischen Konflikten erfolgen nicht nur auf militärischem, sondern auch auf
wirtschaftlichem, sozialem, politischem und kulturellem Gebiet. Deswegen werden
wir die Konflikte nicht allein mit Waffengewalt lösen. Letztlich geht es darum, die
Menschen von unseren Werten einer freien Gesellschaft zu überzeugen. Nur so
können wir Krisenregionen auf Dauer stabilisieren. Dabei spielen übrigens die Medien
eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Die Auflösung von Innen und Außen, die neuen Bedrohungen durch failing states
und asymmetrische Konflikte bringen eine Reihe von schwierigen, national wie international
zu debattierenden Fragen und Entwicklungen mit sich. Meine Überzeugung
ist, dass nationale Rechtsordnungen wie internationales Recht den neuen Formen
der Bedrohung im Grunde nicht mehr ausreichend gerecht werden. Ich weiß, dass
diese Debatte sensibel ist. Ich verstehe aber nicht, warum wir sie deswegen gar nicht
führen sollen. Wir müssen unsere Antworten auf die sich verändernde Realität in der
Debatte finden. Tabuisierung ist die falsche Antwort.
Beispielsweise entspricht die strikte Trennung zwischen Völkerrecht im Frieden und
Völkerrecht im Krieg den neuen Bedrohungen nicht mehr. Und auch die Einordnung
von Terroristen in das System des humanitären Völkerrechts, das von der Unterscheidung
zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten ausgeht, bereitet
Schwierigkeiten.
Die Abgrenzung zwischen Außen und Innen funktioniert nicht mehr. Das gilt übrigens
nicht nur für Afghanistan, für militärische und polizeiliche Interventionen, sondern
auch für die Gewinnung von Informationen. So stellt es den Staat beispielsweise im
Bereich der über das Internet abgewickelten Kriminalität vor erhebliche Schwierigkeiten,
wenn der entsprechende Server nicht im eigenen Land steht. Denn dann stellt
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sich die Frage, ob bei einem Online-Zugriff zunächst ein Rechtshilfeersuchen gestellt
werden muss. Die Amerikaner haben hier übrigens ganz ähnliche Probleme.
Die Auflösung von Innen und Außen erfordert meines Erachtens, dass wir manche
Aufgabenverteilung überdenken müssen. Das ist übrigens eine immerwährende Aufgabe.
Der demokratische Rechtsstaat, auch der Staat des Grundgesetzes, muss sich
stets von neuem gegenüber seinen Bürgern rechtfertigen und neu legitimieren. Es
liegt in der Verantwortung des Gesetzgebers, die Aufgabenverteilung zwischen den
Kräften immer wieder neu zu prüfen.
Informationsgesellschaft
Politische Gestaltungsfähigkeit und rechtsstaatliche Handlungsfähigkeit basiert mehr
und mehr auf Information. Das gilt für alle Bereiche, vor allem aber im Sicherheitsbereich.
Das wichtigste Instrument im Kampf gegen den Terrorismus ist intelligence.
Nur mit Informationen haben wir eine Chance, Bedrohungen abzuwehren, bevor
Schaden entstanden ist. Deswegen sind die Erlangung und Vernetzung von Informationen,
effektive Ermittlungsarbeit und Kooperation der Behörden ? national wie international
? unverzichtbar.
Auch die Geheimdienste haben hier eine wichtige rechtsstaatliche Funktion. Kaum
ein Rechtsstaat kommt ohne sie aus, deswegen sollte sich der Rechtsstaat ruhig zu
ihnen bekennen. Sie sind auch Teil eines internationalen Netzwerks gemeinsamer
Sicherheit, das nicht durch nationale Sonderwege bedroht werden sollte.
Die globale Informationsgesellschaft ist eben auch die Basis des Verbrechens. Deswegen
darf der demokratische Rechtsstaat ? was die Nutzung und Kontrolle der Informationstechnologie
betrifft ? den Wettkampf mit den Gefährdern nicht verweigern.
Der Rechtsstaat hat immer darauf geachtet, dass es keine Rückzugsräume für Kriminelle
gibt. Er muss auch heute darauf achten, dass keine entstehen. Deswegen
werde ich mich weiter für die Online-Durchsuchung einsetzen. Wir geben den
Rechtsstaat eher auf, wenn wir zulassen, dass der Staat und sein Recht in der globalisierten
Internet-Gesellschaft an Boden verlieren, als ? wie dies vielfach beschworen
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wird ? durch die Einführung neuer, dem technischen Fortschritt geschuldeter Ermittlungsinstrumente.
Wir müssen operativ auf der Höhe derjenigen bleiben, die unsere Sicherheit gefährden.
Das heißt, wir müssen die technischen Mittel anwenden und kontrollieren, die
Kriminelle und Terroristen im 21. Jahrhundert nutzen. Die Möglichkeit der klassischen
Telekommunikationsüberwachung reicht hierfür nicht mehr aus.
Datenschutz
Bei der Erhebung und Vernetzung von Informationen stoßen wir immer schnell an die
datenschutzrechtlichen Notwendigkeiten, Bedingungen und Begrenzungen. Niemand
bestreitet die Aktualität des Datenschutzes. Wir dürfen die datenschutzrechtlichen
Belange nicht beiseite schieben ? was der Staat des Grundgesetzes übrigens auch
nie getan hat. Der Gesetzgeber selbst hatte ja ursprünglich die Notwendigkeit des
Datenschutzes gesehen und die Problematik in den Datenschutzgesetzen aufgegriffen.
Das bisweilen verbreitete Empfinden einer Aufgabenteilung zwischen den Gewalten
? nach dem Muster: die Regierung ist für die Sicherheit, das Bundesverfassungsgericht
für die Freiheit zuständig ? trifft also nicht zu.
Wir dürfen aber vom Staat auch nicht das Unmögliche verlangen: auf der einen Seite
soll er Unrecht und Gewalt möglichst ausnahmslos unterbinden und zugleich in freiheitlicher
Distanz und Diskretion nichts sehen, nichts hören und nichts fragen. Deswegen
ist mein Verständnis von Datenschutz nicht, dass sich der Staat selbst blind
und dumm macht. Datenschutz bedeutet nicht, dass der Staat wegschauen muss,
wenn es um die Vorbereitung schwerster Straftaten geht. Datenschutz bedeutet,
dass der Gesetzgeber transparente Grundlagen dafür schafft, wer welche Daten wofür
erhebt, welche Daten vernetzt werden können, wie lange sie gespeichert werden
u.s.w. ? das heißt: klare rechtliche Regelungen und richterliche Kontrolle, aber kein
bewusster Verzicht auf Informationen, die notwendig sind, um den staatlichen Sicherheitsauftrag
wahrnehmen zu können.
Jeder muss sich in seinem Bereich mit den Veränderungen, die die globalisierte Informationsgesellschaft
mit sich bringt, auseinandersetzen, um verantwortungsvoll
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seine Aufgaben wahrnehmen zu können. Für den Innenminister bedeutet das vor
allem einen stärkeren Austausch der Behörden und eine bessere Vernetzung der
Informationen im Bereich der inneren Sicherheit.
IV. Verantwortung des Gesetzgebers
Wir müssen darauf achten, dass der Staat seine wichtigste Aufgabe, deretwegen er
einmal geschaffen wurde, die Gewährleistung von Sicherheit und die Durchsetzung
des Rechts, erfüllen kann. Es ist wahr, dass das staatliche Gewaltmonopol eine erhebliche
Machtzusammenballung bewirkt. Aber die Alternative ist meines Erachtens
nicht besser. Unter den Voraussetzungen demokratischer und rechtsstaatlicher Kontrolle
ist diese zivilisierte staatliche Machtkonzentration bei weitem segensreicher als
die Auslieferung des Einzelnen an ein Geflecht privater Machtzentren und entstaatlichter
Gewalt.
Natürlich muss der Staat innerhalb klarer rechtsstaatlicher Grenzen handeln und darf
nicht in einem rechtsfreien Raum oder einer Grauzone agieren. Weil das so ist, sind
wir gefordert, die Voraussetzungen und gesetzlichen Grundlagen zu schaffen. Das
ist ein Teil der parlamentarischen Verantwortung und politischen Führung.
Dieser Verantwortung darf sich der Gesetzgeber nicht entziehen. Die ausgebauten
verfassungsgerichtlichen Befugnisse haben natürlich bei uns Politikern ? aber auch
Journalisten sind nicht immer davon frei ? eine Neigung hervorgerufen, politische
Konflikte vor das Gericht zu tragen und als verfassungsrechtliche Konflikte fortzusetzen.
Auch das ist tiefer in unserer Tradition verwurzelt als viele meinen. Schon für
das frühe Reichsstaatsrecht des 15. und 16. Jahrhunderts ist die Neigung, politische
Fragen vor die Gerichte zu tragen, als Gegenstand einer deutschen libido litigandi
Gegenstand ernsthafter Sorge gewesen.
Das Bundesverfassungsgericht praktiziert deshalb ein ? insgesamt ? hohes Maß an
judicial self restraint bei der materiellen Grundrechtsprüfung. Man könnte sogar den
Eindruck haben, als habe sich die Zurückhaltung gegenüber dem Gesetzgeber in der
jüngeren Verfassungsgerichtsrechtsprechung insgesamt eher erhöht, etwa durch ein
engeres Verständnis des Schutzbereichs vieler Freiheitsgrundrechte und durch die
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strikte Handhabung der Zugangsvoraussetzungen bei der Rechtssatzverfassungsbeschwerde.
Ob bei Themen der inneren Sicherheit diese Diagnose eines zunehmenden
judicial self-restraint nicht in gleichem Maße gilt, darüber kann man vor dem Hintergrund
der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Sicherheitsgesetzgebung
diskutieren.
Bei der akustischen Wohnraumüberwachung hat etwa die Kernbereichslehre dazu
geführt, dass ein in der Verfassung abgesichertes Ermittlungsinstrument weitgehend
ins Leere läuft.
Dem Gesetzgeber muss aber der notwendige Spielraum verbleiben, seine rechtstaatlichen
Aufgaben wahrzunehmen. Dafür ist er ? und nur er ? demokratisch legitimiert.
Dabei steht der Gesetzgeber stets in einer unmittelbaren öffentlichen Verantwortung
für und Diskussion über seine Entscheidungen, die er nicht rechtsmethodisch
und auch nicht durch höhere Autoritäten begründen kann, sondern stets durch
deren inhaltliche Vernünftigkeit selbst rechtfertigen muss. Nur wenn alle drei Staatsgewalten
ihrer jeweiligen Aufgabe eigenverantwortlich nachkommen, können wir die
Herausforderungen, vor denen unser Gemeinwesen steht und zu denen die Sicherheit
gehört, rechtsstaatlich bewältigen.