Religion im säkularen Staat



Rede von Bundesinnenminister Dr. Schäuble beim Regensburger Gespräch „Religion im säkularen Staat“

„Religion im säkularen Staat“ – ist das Verhältnis von Staat und Religion nicht längst geklärt? In Regensburg kann es nicht verkehrt sein, wenn man auf die katholische Kirche schaut: Schließlich hat auch sie mit der Erklärung über die Religionsfreiheit des 2. Vatikanischen Konzils den säkularen Staat anerkannt und sogar – als aus der Freiheitsnatur und der Würde des Menschen entspringend – theologisch gerechtfertigt. Papst Johannes Paul II hat später immer wieder betont, dass ein moderner Staat weder aus dem Atheismus noch aus der Religion ein politisches Konzept machen dürfe.

Diese Aussage enthält zwei Komponenten: diejenige, dass Religion nicht zum Maßstab weltlicher Autorität gemacht werden soll, und diejenige, dass die Säkularisierung des Staates nicht mit der Negation von Religion einhergehen muss, es um der Freiheit willen auch nicht sollte. Säkularer Staat heißt nicht „gottloser Staat“.

In Deutschland haben wir das im Konzept der positiven Neutralität verwirklicht. Staat und Religion sind grundsätzlich voneinander getrennt. Unser Staat beansprucht die Autorität zur Regelung des weltlichen Zusammenlebens, achtet zugleich die spirituelle Autorität der Religionsgemeinschaften und gewährt Religionsfreiheit. Das Grundgesetz garantiert die Freiheit der Glaubenden und grenzt sie zugleich ein.

Die wechselseitige Begrenzung staatlicher und religiöser Autorität hat religiös und weltanschaulich neutrale staatliche Institutionen geschaffen. Das bedeutet aber nicht, dass unsere Ordnung alles Religiöse aus dem öffentlichen Bereich verbannen würde. Anders als etwa in Frankreich haben wir keine absolute Trennung von Staat und Religion. Bei uns wirkt der Staat mit Religionsgemeinschaften zusammen, etwa um religiösen Bekenntnisunterricht in den staatlichen Schulen zu organisieren.

Beides ist für den freiheitlichen Staat notwendig: die Trennung von Staat und Religion ebenso wie die Entfaltungsmöglichkeit von Religion.

In den Religionskriegen haben wir gelernt, dass für Toleranz nur wenig Platz ist, wenn mit dem religiösen ein politischer Wahrheitsanspruch einhergeht. Daraus erwuchs der säkulare Staat als eine große politische Kulturleistung. Er ermöglichte, dass Menschen verschiedener Weltanschauungen und religiöser Überzeugungen friedlich und in Freiheit in einer gemeinsamen Ordnung leben.

Wir haben aber auch gelernt, dass die Verbannung der Religion und ihre Bekämpfung durch den Staat nichts Gutes bringt. Der Blick auf kommunistische Regime zeigt, dass Säkularisierung nicht zwangsläufig Freiheit und Demokratie fördert. In Deutschland haben wir unsere eigenen Erfahrungen gemacht. Nach der Katastrophe des Naziterrors und des Zweiten Weltkrieges war es das christliche Wertefundament, auf das die Väter und Mütter des Grundgesetzes zurückgriffen, in dem Versuch wieder eine menschenwürdige Ordnung zu errichten. Ihnen stand die Bedeutung moralischer, auch aus der Religion gespeister Werte für eine freiheitliche Gesellschaft vor Augen.

Auch heute ist die Religion eine wichtige Ressource. Jede freiheitliche Ordnung ist auf ein moralisches Fundament und wertgebundenes Verhalten angewiesen. Hier spielt – nicht nur, aber auch – die Religion eine wichtige Rolle. Die Finanzmarktkrise wie andere Krisen und Fehlentwicklungen zeigen, was passiert, wenn Werte und Tugenden aus dem Blick geraten. Der Staat kann hier nicht einspringen. Er ist für das Recht, nicht für die Moral zuständig. Er kann die Lücke, die durch den Wegfall oder den Rückzug gelebter Religion entsteht, nicht füllen – auch und schon gar nicht durch Formen einer Zivilreligion. Versucht er es dennoch, ist damit zwangsläufig der Verlust von Freiheit verbunden. Es bleibt daher bei dem oft zitierten Satz, dass der freiheitliche Verfassungsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann. Gerade weil er sie nicht schaffen kann, muss er sie schützen und pflegen, indem er ihnen Entfaltungsraum gibt.

Dabei steht der säkulare Staat im Zuge der Modernisierung vor neuen Herausforderungen. Zum einen lässt die Bindungskraft der Religionen in einer zunehmend individualisierten Gesellschaft nach. Der Mitgliederschwund der Kirchen zeugt davon ebenso wie der gelebte Alltag der Menschen, der immer weniger von religiösen Festen und Ritualen beeinflusst und strukturiert wird. Manche Politiker treiben die Schwächung der Religion in einem falschen Verständnis von Freiheit und Säkularität zusätzlich voran. Das wirft die Frage auf, wie der Staat die Werte einer vor-rechtlichen Gemeinsamkeit erhält, als Grundlage einer freiheitlichen Gesellschaft.

Eine weitere Herausforderung ist die neue Vielfalt der Religionen. In Deutschland leben heute über vier Millionen Muslime. Damit ist der Islam heute die dritte große Religion in Deutschland. Auch das wirft neue Fragen auf: Wie gelingt die Integration der Muslime? Wie gewährleisten wir Religionsfreiheit, ohne gelebte Kultur und Traditionen auszuhöhlen?

Die Pluralisierung der Religionen ist nicht neu in der europäischen Geschichte. Die Reformation und der konfessionelle Gegensatz von Katholiken und Protestanten haben Deutschland tief geprägt; bis heute gibt es allerorts Zeugnisse davon. Heute begegnen die meisten Menschen der zunehmenden religiösen Vielfalt mit großer Gelassenheit. Die christlichen Kirchen, Organisationen, auch viele einzelne Bürger begleiten diesen Prozess mit großer Aufgeschlossenheit. Sie versuchen Übereinstimmungen zu fördern und Wege aufzuzeigen, wie wir mit religiöser Differenz umgehen können.

Diese Haltung ist wegweisend. Der säkulare Staat ist auf Offenheit für alle Bekenntnisse angelegt. Die Religionsfreiheit garantiert auch anderen, in Deutschland neuen Religionen die Freiheit, ihren Glauben privat und öffentlich zu bekunden. Das ist nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Chance für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wo immer Religionen ein moralisches Fundament und Werte, Orientierung und Zugehörigkeit vermitteln, stärken sie menschliche Gemeinschaft. Das gilt jedenfalls dann, wenn sie sich zu der freiheitlichen Rechtsordnung bekennen und sich darin einfügen.

Offenheit bedeutet nach meiner Überzeugung jedoch nicht, dass der säkulare Staat – um der Gleichbehandlung der Religionen willen – seine eigenen kulturellen und religiösen Wurzeln und Traditionen verleugnen noch religiös determinierte Prägungen einebnen müsste. Jede Gemeinschaft lebt von und in ihrer Kultur und ihren Traditionen. Der Staat kann sich nicht von diesen Wurzeln abschneiden, ohne seine Freiheitlichkeit und den Zusammenhalt der Menschen zu gefährden. Denn gewachsene Gemeinschaft, freiwillige Übereinstimmung und das Maß möglicher Freiheit in einem Staat stehen in einem direkten Zusammenhang. Für hinzukommende Religionen bedeutet das, dass sie gewisse Strukturen vorfinden, dass wir als Gesellschaft aber auch überlegen müssen, wie wir ihnen innerhalb dieser Strukturen Raum geben.

„Europa und der Islam – diese Gegenüberstellung hat in der öffentlichen Wahrnehmung oft etwas Konfrontatives“, so beginnt der italienische Historiker Franco Cardini sein Buch „Europa und der Islam: Geschichte eines Missverständnisses“. Wer die Geschichte kennt, weiß wie fruchtbar das Zusammenleben zwischen Muslimen und Christen, aber auch wie schwierig das Verhältnis schon war. Die Erinnerung an die Kreuzzüge, die Eroberung der iberischen Halbinsel und die Belagerung Wiens wirken nach. Die Anschläge des 11. September 2001, die Kriege im Nahen Osten und der Karikaturenstreit kommen als moderne Facetten hinzu. Und so sehen viele, obwohl sich islamische und christliche Kultur meist bereicherten, immer noch eher das Trennende.

Deswegen brauchen wir den Dialog, auch den interreligiösen Dialog. Was die Religionsgemeinschaften im interreligiösen Dialog leisten, wirkt in die Gesellschaft hinein. Indem der Dialog die Unterschiede, aber auch das Verbindende der Religionen sichtbar macht, stärkt er das Vertrauen der Menschen zueinander.

Darüber hinaus müssen auch der Staat – Bund, Länder und Kommunen – sowie die Gesellschaft insgesamt eine Beziehung zu den Religionsgemeinschaften pflegen und zu neuen Religionen wie dem Islam in Deutschland aufbauen.

Dazu haben wir 2006 die Deutsche Islam Konferenz geschaffen. Zum ersten Mal haben sich Muslime in der Vielfalt muslimisch geprägten Lebens und Repräsentanten von allen drei Ebenen unseres Staates an einen Tisch gesetzt. Das war ein wichtiges Signal für die Menschen in unserem Land – für die Muslime ebenso wie für Nicht-Muslime –, und es hat fast automatisch dazu geführt, dass die Offenheit, das Interesse und das Verständnis füreinander auf beiden Seiten gewachsen sind. Wir sind in den vergangenen drei Jahren außerdem in vielen konkreten Fragen ein gutes Stück vorangekommen. Das ging nicht ohne Schwierigkeiten und Debatten. Aber das gehört zu einem aufrichtigen, ernst gemeinten Dialog dazu.

Zu den Ergebnissen der letzten drei Jahre zählen die Empfehlungen im Umgang mit Konflikten in der Schule, zur künftigen Imamausbildung und vor allem zur Einrichtung islamisch-theologischer Lehreinrichtungen. Die Arbeit in der Islamkonferenz hat gezeigt, dass – etwa bei der Frage nach dem Religionsunterricht – unterschiedliche Wege zum Ziel führen können und dass es auf allen Seiten – bei Kultusbeamten, Elternvertretern, Moscheengemeinden – pragmatische Überlegungen gibt. Noch nicht gelöst ist die Frage, ob und wie die Muslime in den eigenen Reihen einen Konsens finden und die notwendigen Voraussetzungen schaffen, um die Kooperationsangebote unseres Religionsverfassungsrechts wahrzunehmen. Unabhängig davon, wie schnell die Einrichtung von bekenntnisgebundenem islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen erreicht wird oder ob wir zunächst noch auf islamische Religionskunde zurückgreifen müssen, werden wir in Deutschland staatliche Lehrkräfte brauchen. Deshalb unterstütze ich alle Bemühungen zu islamisch-theologischer Forschungs- und Lehrstrukturen an deutschen Lehrstühlen. Solche Lehrstühle könnten die Wiege einer Generation von Muslimen werden, die islamische Theologie in Deutschland kultivieren. Dabei geht es nicht darum, einen „deutschen Islam“ zu schaffen. Wie der Islam in Deutschland aussieht, entscheiden allein die hier lebenden Muslime. Auch das ergibt sich aus der Säkularität unseres Staates.

Die Islamkonferenz ist kein theologischer Dialog. Es geht in der Islamkonferenz um das Verhältnis zwischen organisierten und nicht organisierten Muslimen mit unserem Staat und unserer Gesellschaft. Die innerreligiöse, theologische Begründung dieses Verhältnisses wird durch solche Debatten natürlich berührt. In den Gesprächskreisen geht es aber darum, einvernehmliche Lösungen für das gemeinsame Leben in Deutschland zu finden.

Der Dialog zwischen Muslimen und Staat wie auch der interreligiöse Dialog können zu einem engeren Miteinander beitragen. Was der Staat und die Religionsgemeinschaften im Dialog tun, wirkt zurück auf die Gesellschaft. Wenn die Menschen in Deutschland beim Stichwort Islam ein differenzierteres Bild vor Augen haben, das die Normalität islamischen Lebens widerspiegelt, dann werden wir der Integration und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt ein ganzes Stück näher sein. Dann wird religiöse Vielfalt nicht mehr Ängste auslösen, sondern die Gesellschaft bereichern. Dafür zu arbeiten, ist lohnend und spannend zugleich.

Die Stadt und das Bistum Regensburg war immer wieder ein fruchtbarer Ort für Fragen von Religion, Religiosität und interreligiösem Dialog. Schon im Jahr 1541 fand ein Regensburger Religionsgespäch statt. In dem Austausch zwischen Philipp Melanchthon und Johannes Eck ging es noch um den Versuch, die sich vertiefenden Gräben zwischen Katholiken und Protestanten zu überbrücken. Diese Tradition Regensburgs als geistiges Zentrum für Fragen von Religion, Politik und Gesellschaft führt bis in die Gegenwart, zuletzt mit der Regensburger Universitätsrede des Papstes vom 12. September 2006. Umso mehr freue ich mich, dass wir auch heute die Möglichkeit haben, uns in diesem historischen Saal und altehrwürdigen Rahmen auszutauschen. Ich wünsche Ihnen und uns allen fruchtbare Gespräche.