„Regieren heißt nicht, Geschenke zu verteilen“



Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit dem Cicero

Sie sind seit 1972 im Bundestag, hatten die verschiedensten bedeutenden Ämter. Mussten Sie mit 67 Jahren noch das schwierige Amt des Bundesfinanzministers übernehmen?

Ich habe Freude an der Politik, am politischen Engagement, und ich fühle mich fit. Die Bundeskanzlerin hat mir eine Aufgabe angetragen, die in der Tat schwierig ist. Dabei hatte ich – ganz unbescheiden – nicht einmal das Gefühl, dass sie eine falsche Entscheidung trifft, vor der ich sie hätte bewahren müssen. Darum habe ich auch keinen Grund zu sagen, ich hätte gern etwas Gemütlicheres, etwas Netteres. Ich habe Angela Merkel gesagt, ihre Bitte sei eine ehrenvolle Zumutung.

Sind Sie nun Angela Merkels Züchtiger der FDP, derjenige, der den Koalitionspartner mit seinen bisweilen weitreichenden Forderungen im Zaum halten muss?

Nein, denn wir haben diese Koalition doch gewollt. Das ist der Unterschied zu der Situation vor vier Jahren. Die FDP kommt aus elf Jahren in der Opposition. Die Union dagegen hatte vier Jahre lang Verantwortung in der Großen Koalition. Da sieht man manches Problem natürlich unterschiedlich. Aber deswegen muss man sich annähern, muss über die Probleme reden. Ich bin mir sicher, die FDP ist auch dafür, die Schuldenbremse des Grundgesetzes und den europäischen Stabilitätspakt einzuhalten. Die Union ist auch für Steuerentlastungen. Weder Union noch FDP können die finanzpolitischen Realitäten außer Kraft setzen. Darum kommt es jetzt darauf an, dass wir eine dynamische Wirtschaftspolitik machen.

Also der Finanzierungsvorbehalt gilt bei allen Entlastungsplanungen…

Die Wirtschaft in Deutschland wird sich nach einer Prognose der Europäischen Kommission im Vergleich zu anderen Ländern eher überdurchschnittlich entwickeln. Wir sind da ganz gut unterwegs, fahren aber auch auf Sicht. Wir wollen die getroffenen Vereinbarungen einhalten, diese entwickeln eine Logik, über die wir dann immer wieder sprechen müssen.

Das heißt doch, es gibt eher keine weitreichende Steuerreform im Laufe dieser Legislaturperiode.

Es kommt darauf an, was man unter weitreichender Steuerreform versteht. Es gilt, was im Koalitionsvertrag steht. Das ist aber keine grundlegende Steuerreform. Diese müsste höhere Anforderungen erfüllen, dafür brauchten wir eine erhebliche Entlastungsmasse. Dafür wird in dieser Legislaturperiode kein Spielraum sein.

Was heißt das für die vereinbarte Entlastung von 24 Milliarden im Jahr 2011 und für den Stufentarif?

Ich war während der Koalitionsverhandlungen derjenige, der diesen Schritt für 2011 und nicht erst für 2012 vorgeschlagen hat, mit dem Argument: Wenn man so etwas will, dann hilft es früher eher, gut aus der Krise herauszukommen. Ich bleibe aber dabei: Das ist keine grundlegende Steuerreform. Die müsste über die im Koalitionsvertrag vereinbarten zwei Stufen 2010 und 2011 weit hinausgehen.

Tut Ihnen Herr Solms leid? Er hat ein politisches Leben lang auf das Amt hingearbeitet, das Sie nun innehaben.

Ich kenne Hermann Otto Solms lange, wir haben ja als Fraktionsvorsitzende insbesondere in den neunziger Jahren gut, freundschaftlich und vertrauensvoll zusammengearbeitet. Ich weiß, dass Solms gerne Finanzminister geworden wäre, und ich hätte ihm das auch zugetraut. Aber ich glaube, er ist ein Mensch wie ich, er sieht politische Verantwortung und politisches Engagement nicht so, dass er sein ganzes Leben auf ein bestimmtes Amt hinarbeitet. Er will gestalten, in welcher Funktion auch immer. Nun hat sich ergeben, dass die CDU das Finanzressort besetzen soll. Das war 2005 anders. Wäre das Ressort seinerzeit an die Union gegangen, wäre ich damals schon Finanzminister geworden. Denn die Kanzlerin hatte mich gefragt, weshalb ich jetzt nicht völlig überrascht war.

Was war die Hauptmotivation, das Finanzressort zu übernehmen?

Regieren heißt nicht, Geschenke zu verteilen. Ich habe es immer so verstanden: Regieren heißt Verantwortung wahrnehmen. Die Menschen erwarten von dieser Regierung, von dieser Kanzlerin, dass sie die großen Zukunftsaufgaben löst. Zu den großen Zukunftsaufgaben gehört Nachhaltigkeit. Das gilt auch und besonders für die Finanzpolitik.

Wo sehen Sie angesichts der miserablen Haushaltslage noch Handlungsspielraum für diese Regierung?

Ich sage ja, gestalten heißt nicht immer nur, mehr Geld auszugeben. Dazu gehört auch, andere Prioritäten zu setzen, vielleicht die Strukturen zu vereinfachen oder neue Initiativen zu ergreifen. Es gibt jede Menge Möglichkeiten . . .

Eine Kritik am Koalitionsvertrag war, dass ihm die Leitidee fehle. Können Sie uns den Leitgedanken dieser schwarzgelben Bundesregierung nennen?

Ganz klar: verantwortende Freiheit. Es ist Aufgabe dieser Bundesregierung, der Freiheit einen guten Rahmen zu geben. Jede freiheitliche Ordnung lebt von Voraussetzungen, die sie selber gar nicht schaffen kann. Deshalb müssen wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern, die Integration, das Ehrenamt, den sozialen Zusammenhalt. Gleichzeitig müssen wir den Menschen Raum zur freien Entfaltung geben. Zu dem Rahmen, den das Ganze benötigt, gehört auch eine solide Haushaltspolitik, Schuldenabbau inklusive. Wenn wir unsere Verantwortung für die Zukunft unseres Landes, für die Zukunft der Menschen wahrnehmen wollen, müssen wir auch die Wettbewerbsfähigkeit stärken. Auch das geht nur in Freiheit.

Freiheit ist für viele Menschen eher eine Bedrohung als eine Verheißung.

Viele setzen mehr auf den Staat, der Gerechtigkeit herstellen soll, als auf die Freiheit. Die Sozialdemokraten gehören dazu. Ich halte mehr von der Kombination aus Gerechtigkeit und Fairness. Natürlich sind die Praktiken in der globalisierten Welt nicht überwiegend fair. Da muss der ausgleichende Staat natürlich eingreifen. Da Nationalstaaten das allein gar nicht mehr können, kommt global governance eine wachsende Bedeutung zu …

Wobei sich schon Skepsis ausbreitet, ob es überhaupt noch international zu einer Regulierung der Märkte kommen wird angesichts der Tatsache, dass die Finanzmärkte wieder florieren.

Das ist ein mühsamer Prozess. Doch hat sich die internationale Staatengemeinschaft beim G-20-Treffen der Staats- und Regierungschefs dazu verpflichtet. Es wird weiter daran gearbeitet. Da steht noch ein harter Weg bevor. Doch so wie klar ist, dass die Welt nicht daraufwartet, was uns hier in Berlin zu diesem Thema einfällt, so klar muss auch sein, dass niemand aus der Pflicht zu einem Ordnungsrahmen für die globalen Finanzströme entlassen werden kann.

Wie schätzen Sie das Verhältnis von Staaten einerseits und Märkten andererseits ein? Wer ist mächtiger?

Der Markt alleine regelt auch nicht alles. Jede freiheitliche Ordnung, jede Wettbewerbsordnung braucht Regeln und jemanden, der dafür sorgt, dass die Regeln eingehalten werden. Wettbewerb funktioniert in einem definierten Rahmen und nicht per se, das kann er nicht, das überfordert ihn, das zerstört ihn. Deswegen muss man zum Beispiel den Zusammenhang zwischen Profit und Verlust wahren. Ich glaube, es war Walter Eucken, der gesagt hat: Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen.

Das heißt. Sie wollen also Banken und Manager stärker in die Pflicht nehmen?

Ein Problem der neuen Finanzprodukte war doch, dass Gewinnchancen und Haftung nicht mehr im Einklang standen. Es ist traurig, dass man hier vonseiten des Staates Regeln aufstellen muss, aber offensichtlich notwendig. Das gilt übrigens nicht nur für Banken, sondern auch für Unternehmen und – erstaunlicherweise – auch für Managerbezüge . . .

Da werden Sie sich nicht viele Freunde in der Finanzwelt machen.

Eigentlich ist es doch schade, dass der Staat das regeln muss, der kann es gar nicht gut. Aber wenn ich sehe, dass bei den Banken mehr Geld für die Vergütung der Manager als für die Aktionäre ausgeschüttet wird, frage ich mich, ob das mit Blick auf das gesellschaftliche Gerechtigkeitsempfinden noch stimmt. Und ich frage mich, wenn wir in den vergangenen Monaten Steuergelder gewährt haben für Eigenkapitalhilfen, müsste die verbesserte Ertragssituation nicht zunächst genutzt werden, um das auszugleichen? Da sind wir noch nicht am Ende aller Debatten. Die werden wir weiter führen müssen — in aller Freundlichkeit nach allen Seiten. Mein Motto lautet stets: Fortiter in re, suaviter in modo.

Diese Konsequenz könnte dazu führen, dass Sie eines Tages sagen, hier stehe ich, weiter kann ich nicht. Es gab Vorgänger in diesem Amt, die zurückgetreten sind, -Wie stark macht Sie Ihr Vetorecht?

Sie kennen die Regel des Grundgesetzes, ich kenne sie auch. Aber Politik funktioniert natürlich nicht nur nach der Regel verfassungsrechtlicher Bestimmungen, sondern nach dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens. Da ist man aufeinander angewiesen. Wenn ich nicht der Überzeugung wäre, dass die Kanzlerin wie die Regierung insgesamt meine grundsätzliche Haltung in finanzpolitischen Fragen stützt, hätte ich diese Aufgabe nicht übernehmen dürfen.

Halten Sie denn grundsätzlich das Institut der Landesbanken für wichtig, für tragfähig und für zeitgemäß?

Sie können das Institut der Landesbanken nicht aus dem Kontext unserer spezifischen Bankenlandschaft mit den drei Säulen Privatbanken, Genossenschaftsbanken und Sparkassen herauslösen. Diese drei Säulen haben nicht nur Nachteile. Sie müssen allerdings den aktuellen Herausforderungen angepasst werden. Da ich aber ein überzeugter Föderalist bin, werde ich das in umfassender Abstimmung mit den Ländern angehen. Ihnen stehen ohnehin noch schwierige Abstimmungsprozesse mit den Ländern bevor. Denn die geplanten Steuerentlastungen stoßen dort auf starke Vorbehalte.

Wie schmerzhaft wird dieser Vorgang für die Union?

Ich glaube da an die Einsicht aller Beteiligten.

Auch in Zeiten von Wahlkämpfen?

Wahlkämpfe sind eigentlich keine Zeiten, in denen man die Vernunft ausblenden sollte. Es ist nicht ganz einfach, den Menschen die Realität so zu vermitteln, dass sie sie akzeptieren. Damit muss man umgehen. Wahlkämpfe sollen Mehrheit für eine bestimmte Politik gewinnen. Politik ist ein Wettbewerbsmodell. Ich höre manchmal von Unternehmern den Vorwurf, die Politiker würden immer nur auf ihre Mehrheit schielen. Das ist ungefähr so, als würde ich einem Unternehmer vorwerfen, er versuche sein Produkt am Markt zu verkaufen. Also, wir müssen auch Wahlkämpfe so anlegen, dass wir die Mehrheit von dem überzeugen, was wir für notwendig halten.

Wie realistisch ist die Hoffnung in Ihrer Partei, dass die CDU wieder an die 40-Prozent-Marke heranreicht? Oder ist das innerhalb eines Fünf-Parteien-Systems gar nicht mehr denkbar?

Man muss begreifen, dass wir nicht mehr in den Verhältnissen der fünfziger oder sechziger Jahre leben. Es gibt nicht mehr die großen Blöcke, die selbstverständlich eine bestimmte Partei wählen. Das Verhalten der Wähler ist volatiler geworden. Da muss man nachjustieren. Das haben wir in den vergangenen vier Jahren unter der Führung von Angela Merkel gemacht — etwa in der Familienpolitik, in der Bildungs- und Integrationspolitik. Da hat sich vieles verändert. Wer Verantwortung für die Zukunft wahrnehmen will, muss von der Realität ausgehen. Der kann nicht beklagen, dass die Gesellschaft sich heute nicht mehr so darstellt wie in früheren Zeiten. Entscheidend ist, dass die CDU Volkspartei bleibt. Sie muss sich für alle Schichten der Bevölkerung verantwortlich fühlen.

Sie sind der Konstrukteur des Einigungsvertrages. Wenn Sie zwanzig Jahre nach dem Mauerfall zurückblicken: Was war für Sie der bewegendste Moment dieser Zeit?

Das schönste Wochenende war das direkt nach dem Mauerfall: Seid umschlungen, Millionen! Überall waren Staus, Massen von Menschen, aber niemand hat gemault. Dann war da der Tag, an dem wir den Einigungsvertrag unterzeichneten. Morgens bis zwei Uhr hatten wir in Bonn noch über den Vertrag verhandelt. Um acht Uhr tagte das Kabinett, um zu beschließen, dass dieser Vertrag unterzeichnet werden darf. Mittags um eins im Kornprinzenpalais in Berlin haben Lothar de Maiziere, Günther Krause und ich dann die Unterschriften daruntergesetzt. Da haben wir alle drei erst einmal geheult — vor Erschöpfung, vor Rührung und vor Freude. Nie vergessen werde ich auch den 3. Oktober 1990 vor dem Reichstag. Die Menschenmassen drängten immer mehr nach vorn. Ich mahnte Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher, Willy Brandt und die anderen immer wieder: Wir müssen hier weg. Da schoben sich 1,5 Millionen Menschen immer näher an den Reichstag. Die Gefahr war groß, dass etwas passieren könnte. Es war der Höhepunkt meines politischen Lebens, dass ich diesen Einigungsprozess mitgestalten durfte.

Haben Sie vor diesem Hintergrund Verständnis für die DDR-Nostalgie, die zunehmend aufkommt?

Ich finde diese Verklärung der Vergangenheit falsch. Bloß ich nehme es den Menschen nicht wirklich übel . . .

Sie verstehen das?

Jeder hat sein Leben, er hat nur eins, und er will nicht leben mit der Vorstellung, das eigene Leben war Mist. Es war auch Leben. Und die Menschen in der DDR haben sich genauso bemüht, aus ihrem Leben etwas zu machen, wie die Menschen im Westen. Jede moralische Überlegenheit, die da bisweilen gezeigt wurde oder wird, halte ich für falsch.

Sehen Sie keine Gefahr, dass die DDR als solche verklärt wird?

Wenn wir nicht in der Lage sind, die Menschen davon zu überzeugen, dass die Freiheit besser ist als die zentrale Verwaltungswirtschaft, dann haben wir etwas falsch gemacht. Ich habe festes Zutrauen, dass die Demokratie mehrheitsfähig ist.

Haben Sie in diesem Jubiläumsjahr noch einmal mit Helmut Kohl gesprochen?

Nein, wir haben nicht mehr viel Kontakt. Wir haben aus Gründen, die bekannt sind, in einer bestimmten Phase unsere enge Beziehung beendet. Das ändert nichts an meinem Respekt für seine Lebensleistung und für unsere gemeinsame Zeit.

Glauben Sie, dass Ihre politische Arbeit noch durch den Fall Schreiber beeinträchtigt werden kann?

Im Fall Schreiber ist mir Unrecht geschehen. Dazu habe ich beigetragen, weil ich ungeschickt agiert habe. Doch habe ich kein schlechtes Gewissen. Ich habe nichts getan, dessen ich mich schämen müsste – außer, dass ich in einer bestimmten Situation nicht sehr klug gehandelt habe. Doch das geht Menschen unter Druck manchmal so.

Das Gespräch führten MARTINA FIETZ und MARKUS C. HUREK