Der Ratifizierungsprozess für den Europäischen Verfassungsvertrag tritt in eine entscheidende Phase. In Deutschland werden der Bundestag voraussichtlich am 12. Mai und der Bundesrat am 27. Mai mit den notwendigen verfassungsändernden Mehrheiten zustimmen, in Frankreich gibt es am 29. Mai einen Volksentscheid, dessen Ausgang nach allen Meinungsumfragen durchaus offen ist. Damit liegt die Frage nahe, warum nicht auch in Deutschland in einem Referendum über den Verfassungsvertrag entschieden wird.
Das Grundgesetz hat sich für die repräsentative Demokratie entschieden und sieht – außer bei der Länderneugliederung – Volksentscheide nicht vor, müsste also zunächst entsprechend geändert werden. Entsprechende Forderungen gibt es seit längerem. Die Befürworter von Volksentscheiden argumentieren mit einer höheren demokratischen Legitimität: weil alle Bürger gleichberechtigt seien, müssten auch alle Bürger unmittelbar selbst entscheiden.
Das Argument klingt auf den ersten Blick einleuchtender, als es meines Erachtens bei genauerer Prüfung standhält. Die unbestreitbare Gleichberechtigung aller Bürger beantwortet die Frage noch nicht, wie bei der grundsätzlich unendlichen Vielfalt von Meinung und Interessen möglichst sachdienliche Entscheidungen zustande kommen können. Zunächst einmal lassen sich die meisten Probleme nicht einfach auf ein Ja oder Nein reduzieren. Das gilt für die Steuergesetze genauso wie für Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Ehe also über Zustimmung oder Ablehnung entschieden werden kann, braucht es eine konkrete Entscheidungsvorlage, die in der schlussendlichen Abstimmung Änderungen nicht mehr zugänglich ist. Bei der Erarbeitung von abstimmungsfähigen Vorlagen und Alternativen kann auf Repräsentation, also auf stellvertretende Beratung und Entscheidung, nicht verzichtet werden. Das geht in keinem Unternehmen und in keinem Verein, und im Staat geht es auch nicht. Die Stellvertretung beruht auf Wahlen, bei denen alle Bürger tatsächlich gleichberechtigt sind, als Wähler wie als potentiell zu Wählende.
Gewiss kann in einem zweiten Schritt nach Erarbeitung einer Vorlage zusätzlich ein unmittelbarer Volksentscheid darüber abgehalten werden, ob diese Vorlage – also zum Beispiel auch der Europäische Verfassungsvertrag – akzeptiert wird oder nicht. Aber das relativiert die Entscheidung, weil die Alternative dann eben nicht ein anderes Gesetz oder etwa ein besserer Bundeshaushalt ist, sondern das Weiterbestehen der bisherigen Lage.
Darin begründet sich die Sorge, dass in der Entscheidungsform der unmittelbaren Demokratie situationsbedingte Stimmungen eine größere Rolle spielen als beim parlamentarischen Entscheidungsverfahren. Tatsächlich belegen Erfahrungen mit Volksentscheiden auf kommunaler und Länderebene, dass die Chancen für eine Verhinderungsmehrheit im Zweifel größer sind als die für eine Gestaltungsmehrheit. Das entspricht den demoskopischen Befunden, die für die generelle Notwendigkeit von grundlegenden Reformen ebenso regelmäßig Zweidrittelmehrheiten ermitteln wie für die Ablehnung nahezu jeden konkreten Reformvorschlages, gleichgültig ob er von Regierungs- oder Oppositionsseite vorgelegt wird. In einer Zeit, in der allgemein die mangelnde Innovationsfähigkeit und die zu große Langsamkeit unserer politischen Entscheidungsprozesse beklagt werden, bin ich skeptisch gegenüber einer weiteren Erschwerung von notwendigen Anpassungen an sich weltweit vollziehende Veränderungen.
Es kommt hinzu, dass in der Regel die Teilnahme an Volksabstimmungen eher noch niedriger ist als bei Wahlen. Und da Gegner von anstehenden Entscheidungen sich im Zweifel stärker engagieren als Befürworter, wird der innovationshemmende Effekt noch verstärkt.
In der Geschichte hat sich die unmittelbare Demokratie vor allem in überschaubar kleinen Einheiten entwickelt und bewährt – vom klassischen Athen bis zu den Schweizer Kantonen, während für größere Organisationen die repräsentative Demokratie entwickelt wurde. Und selbst Jean-Jacques Rousseau, einer der philosophischen Begründer der Forderung nach unmittelbarer Demokratie, hat außenpolitische Entscheidungen grundsätzlich davon ausnehmen wollen.
Im Entweder-Oder der Ja-/Nein-Entscheidung eines Volksentscheides ist übrigens die Kompromisssuche, die dem parlamentarischen Prozess zur Mehrheitsfindung eigen ist, weitgehend ausgeschlossen, und die Reversibilität von einmal getroffenen Entscheidungen auch.
Ein weiteres Argument für die parlamentarische Entscheidungsform folgt aus der Begrenzung des demokratischen durch das rechtsstaatliche Prinzip. Neben dem Willen der Mehrheit sind auch die Rechte der Einzelnen und von Minderheiten zu schützen. Ob diese Notwendigkeit in Volksentscheidungen besser aufgehoben ist, wird zu Recht bezweifelt, weshalb auch die Befürworter von Volksentscheiden in der Regel Fragen wie die Wiedereinführung der Todesstrafe oder das Asyl- und Ausländerrecht gerne vom Volksentscheid ausnehmen wollen. Unser Grundgesetz beugt der Gefahr von Machtmissbrauch durch eine Mehrheit durch ein ausgeklügeltes System von Checks and Balances vor, die alle gegenüber unmittelbarer Demokratie gefährdeter wären. Ob unmittelbare Demokratie zum Beispiel wirklich die Autonomie der Notenbank gegenüber politischen Mehrheiten akzeptieren würde?
Zu diesem Freiheit sichernden System zählt auch der Föderalismus mit der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern einschließlich kommunaler Selbstverwaltung und die Mitwirkung der Ländern an der Bundesgesetzgebung, was sich wiederum mit Volksentscheiden nicht so leicht vereinbaren lässt.
Aus all diesen Gründen bin ich gegen die Einführung von Volksentscheiden im Grundgesetz. Der Europäische Verfassungsvertrag schafft übrigens auch nicht eine neue Verfassung, sondern er ist ein Vertrag, in dem die Mitgliedsstaaten eine Ordnung für die Institution der Europäischen Union vereinbaren, selbst aber die Herren der Verträge bleiben. Dabei beinhaltet er wichtige Verbesserungen: mehr Effizienz und Transparenz europäischer Entscheidungen, stärkere demokratische Legitimation durch das Europäische Parlament und durch die stärkere Einbeziehung nationaler Parlamente, bessere Verankerung des Subsidiaritätsprinzips, um nur die wichtigsten zu nennen.
Die Alternative zum Verfassungsvertrag ist im Übrigen das Weitergelten der heutigen vertraglichen Regelungen in der Europäischen Union. Das unterstreicht noch einmal die Fragwürdigkeit eines Volksentscheids. Kaum jemand der Gegner des Verfassungsvertrags etwa in der französischen Debatte behauptet ernsthaft, dass die derzeitige Rechtslage in Europa besser wäre. Die Einwände, die erhoben werden, zielen eher auf die unbefriedigende Lage von Wirtschaft und Arbeitsmarkt, auf die angeblich falsche oder zu schnelle Erweiterung der Europäischen Union um zehn neue Mitglieder, auf die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei oder auch auf generelle Kritik an der Politik des französischen Präsidenten und der französischen Regierung. Nichts davon hat ursächlich mit dem Verfassungsvertrag zu tun, und nichts davon würde durch ein Scheitern des Verfassungsvertrages besser – im Gegenteil wird die Europäische Union mit dem Inkrafttreten des Verfassungsvertrags eher in der Lage sein, den vorhandenen Problemen zumindest teilweise abzuhelfen. Und deshalb ist der Verfassungsvertrag zu wichtig, als dass er als Vehikel missbraucht werden dürfte, um anderweitig begründete Kritik zum Ausdruck zu bringen.