Von Friedrich August v. Hayek, der von 1931 bis 1950 an der London School of Economics lehrte, haben wir gelernt, dass Wirtschaft und Gesellschaft keine Maschinen sind. Wer glaubt, er könne volles Wissen erwerben, das die Beherrschung des Geschehens ermöglichen würde, hat kein Wissen, er maßt es sich an. Für Hayek verband sich das mit der Warnung, in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften die „exakten“ Naturwissenschaften nachzuahmen. Heute sind übrigens selbst Naturwissenschaftler viel vorsichtiger, was die Prognosesicherheiten ihrer Disziplinen betrifft.
Die Warnung Hayeks vor einer Anmaßung von Wissen ist zumeist nur als Warnung vor einer zentralen Steuerung durch den Staat verstanden worden, wie sie sich mit sozialistischen Vorstellungen verband. Sie bezieht sich aber auch allgemein auf menschliche Handlungszusammenhänge. Letztlich geht es darum, dass der Mensch in komplexen Systemen die Zukunft weder vorhersagen noch wirklich steuern kann, weil das Wissen, das dafür notwendig wäre, nirgendwo gebündelt ist und etwa soziale Zusammenhänge nicht mathematisch sicher zu erfassen sind.
Die Finanzkrise gibt uns allen Anlass, sich dieser Erkenntnis zu erinnern. So genannte innovative Finanzprodukte basieren auf komplizierten mathematischen Modellrechnungen, die vorgeben, Risiken vollständig in Zahlen fassen zu können. Offenbar können diese Risiken aber von so gut wie niemandem – bis hin zu Bankenvorständen und Aufsichtsräten – mehr verstanden werden, weil sie intuitivem Verständnis nicht mehr zugänglich sind. Ganz offenkundig hat sich hier etwas verselbstständigt.
Lord Dahrendorf hat diagnostiziert, dass die Globalisierung im Finanzsektor vor allem eine Informationsrevolution war, und das plastisch am Lebensstil der handelnden Personen beschrieben: Früher seien Banker in der Londoner City zwischen 10 und 11 Uhr ins Büro gekommen. Um halb eins gab es den ersten Sherry, dann speiste man ausgiebig mit interessanten Leuten zu Mittag. Dann musste man noch im Büro bleiben bis die Wall Street aufmachte, also bis halb vier nachmittags. Danach fuhren alle nach Hause. Und er beklagt weiter, wie die heutige permanente Informationsverfügbarkeit eine neue Art von „Wirtschaftssubjekten“ geschaffen habe: Menschen, die vierundzwanzig Stunden arbeiten und sich völlig kaputtmachen.
Hinter dem äußerlich gut wahrnehmbaren Kulturwandel im Bankenviertel verbirgt sich die eigentliche Veränderung: Die Informationsgesellschaft auf den Finanzmärkten hat dazu geführt, dass dort Komplexitäten geschaffen und gehandelt werden, die an die Grenzen der menschlichen Verständnisfähigkeit gehen. Der Handel mit Derivaten bedeutet, dass sich Risiken und Informationen über Risiken weitgehend von ihrer realwirtschaftlichen Grundlage lösen und immer weniger anschaulich werden.
Beim guten alten Hypothekenkredit konnte die Bank das Grundstück besichtigen, das beliehen wird. Wenn sie vorsichtig war, dann hat sie es nur zu 60 oder 80 Prozent beliehen. So war sie sicher, solange die Werte nicht stärker fielen. Würden sie stärker fallen, fiel die Bank in der Regel nur mit einem kleinen Teil ihres Engagements aus. Ging es im Einzelfall stärker schief, so wusste man, dass eine Fehleinschätzung zu Grunde lag. Die Ausleihung hat die Bank mit Eigenkapital unterlegt. Entscheidung, Handeln und Risiko lagen in einer Hand.
Im modernen Finanzsystem ist es weit komplizierter. Die finanzierende Bank gibt das Kreditrisiko weiter, ein Dritter übernimmt es. Der Dritte muss nun – ohne das Grundstück und den Kreditnehmer ebenso gut zu kennen, also mit viel weniger Informationen – zu einer Risikoeinschätzung kommen. Mit jeder Weitergabe wird es schwerer, das tatsächliche Risiko zu erkennen, wie etwa die Wertlosigkeit bestimmter Forderungen und Hypotheken auf dem amerikanischen Immobilienmarkt. Die Bank, die den Kredit vergeben hat, glaubt sich sicher, weil sie das Kredit- und Ausfallrisiko losgeworden ist. Sie trägt aber das Bonitätsrisiko dessen, der ihr das Kredit- und Ausfallrisiko abgenommen hat. Sie muss also eine ihr überschaubare Risikobewertung – etwa die Verwertbarkeit eines bestimmten Betriebsgrundstücks – ersetzen durch eine viel komplexere Risikobewertung: Ist etwa Lehman Brothers eine Adresse, die sicher genug ist als Übernehmer von Kreditrisiken? Hier muss sie sich wiederum auf Ratingnoten verlassen, die ihrerseits auf einer sehr individuellen Sammlung und Gewichtung von Informationen beruhen.
Die wirklichen Strukturen sind wesentlich komplizierter als dieses vereinfachte Beispiel. Das Grundproblem bleibt aber: mangelnde Transparenz, zunehmende Beschleunigung und Komplexität, die wir überall, aber eben auch in der Finanzwelt beobachten können, sowie eine Abkoppelung von Entscheidung und Verantwortlichkeit. Die Folge ist eine weltweite Verteilung gigantischer Kreditausfallrisiken durch Verbriefung und so genannte Finanzinnovationen bis hinein in die Depots der Bürger.
Hinzu kommen individuelle Vergütungs- und Anreizsysteme, die kühne Spekulationen provoziert haben. Die Anteile der Gewinne auf Finanzmärkten an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung sind so außer Verhältnis geraten. Das Geschäft wurde immer riskanter – anders sind 25 Prozent Eigenkapitalrendite, wie sie an Kapitalmärkten für Banken als Ziel ausgegeben worden sind, auch für Banken nicht erreichen. Sie wurde erreicht um den Preis halsbrecherischer Transaktionen, die offensichtlich nicht mehr beherrschbar waren und die die Krise schließlich mit ausgelöst haben.
Sind also nur die Banken schuld? So einfach ist es nun auch wieder nicht. Die jahrelang laxe Geldpolitik der Notenbanken, das sozial- und integrationspolitisch motivierte Anheizen des amerikanischen Immobilienmarktes, die verhängnisvolle Entscheidung der Securities and Exchange Commission zur Aufhebung der Verschuldungsgrenzen für Wertpapierhandelshäuser: All das hat mit dazu beigetragen, dass Kredite verantwortungslos vergeben wurden.
Es sind eine Reihe von Ursachen, die zu der Krise geführt haben. Und wir alle, die beteiligt sind, haben keinen Grund besonders stolz zu sein: die Banker und Anwälte, die riskante Papiere entwickelt und vertrieben haben, die Anleger, die mit dem Wunsch maximaler Rendite Papiere erwerben, die sie nicht verstehen – und nicht zuletzt der Staat, der mit einer Politik des billigen Geldes unvorsichtige Kreditvergaben gefördert hat, dessen Landesbanken ihre eigentliche Aufgabe vernachlässigt und sich in großem Stil verspekuliert haben und dessen Bankenaufsicht letztlich versagt hat.
„Markets Unbound – Unleashing Global Capitalism“, „Entfesselte Märkte – Den globalen Kapitalismus von der Leine lassen“ hieß ein wegweisendes Finanzmarktbuch zur Deregulierung und Verbriefung von Krediten des McKinsey Beraters Lowell Bryan aus dem Jahre 1996. Heute klingt das leider verdächtig nach Ikaros und seinem verhängnisvollen Höhenflug. Der Maßlosigkeit des Menschen und seines Hanges zur Hybris muss man bewusst sein, wenn man die derzeitige Krise – aber auch frühere – verstehen will.
Ohne dass wir es gemerkt haben, hat sich die eigentlich auf Dezentralität und Vielfalt zielende marktwirtschaftliche Ordnung in der globalen Finanzwirtschaft in hohem Maße zentralisiert. Es gibt weltweit hunderte Banken, aber drei Rating-Agenturen. Im modernen Finanzsystem ist die Intuition vieler tausend Bankmanager bei der Kreditvergabe ersetzt worden durch mathematische Risikomodelle und eine Risikobewertung, die maßgebend vom Urteil einer handvoll Rating-Agenturen abhängt. Das bringt uns zurück zu Hayek: Angesichts der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis einerseits und der nicht mathematisch erfassbaren Komplexität menschlicher Gesellschaft andererseits hat er vor zentralen Systemen gewarnt. Wenn es zwangsläufig ist, dass wir uns irren, dann ist es besser, wir dezentralisieren die Entscheidungen; viele Akteure treffen ihre Entscheidung je für sich und kommen dabei zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen und Ergebnissen. Im Wettbewerb zeigt sich dann, welche Entscheidungen besser und welche schlechter waren. Die Besseren werden durch Markterfolg belohnt und finden Nachahmer, die Schlechteren aus dem Markt verdrängt. Das Scheitern der Schlechteren reisst aber nicht gleich alle in den Abgrund. Die Überlegenheit der Marktwirtschaft basiert gerade auf diesem klugen, zugleich Chancen eröffnenden und Risiken begrenzenden Prinzip.
Nun haben wir an den Finanzmärkten nicht nur zusehen müssen, dass die Entscheidungen in hohem Maße auf zentralen Rating-Urteilen weniger Agenturen beruhen. Wir haben auch eine Konzentration der Akteure erlebt, die eine weitere Prämisse der marktwirtschaftlichen Ordnung nicht mehr trägt, nämlich die von der Verantwortung für das eigene Scheitern. Viele Institute seien, so wird uns Politikern gesagt, „too big to fail“, also schlicht zu groß, als dass man sie fallen lassen könnte. Das führt dann dazu, dass die Gewinne privat sind, die Verluste aber nun sozialisiert werden. Wir müssen aufpassen, dass am Ende nicht die Inhaber besonders riskanter, aber auch besonders ertragsbringender Wertpapiere auf Staatskosten – oder mindestens mit Staatsgarantie – weiterhin ihre Überrendite beziehen, während die Allgemeinheit dafür gerade steht. Das würde bedeuten, dass der Staat nicht nur den Verlust auffängt, sondern sogar den Mehrgewinn des eigentlich riskanten Papiers gegenüber einer konservativeren, sichereren Anlage finanziert.
Zu der Größe der Finanzunternehmen kommt ihre Vernetzung hinzu. Auch das hat mit einem Funktionswandel der Banken zu tun. Wir haben eine Entwicklung, bei der Banken Geschäfte weniger mit ihren Kunden, sondern mehr untereinander machen. Das Scheitern eines Instituts kann deshalb, so wird uns ebenfalls gesagt, Kettenreaktionen im Finanzsystem auslösen, die dann wiederum auf die Realwirtschaft zurückschlagen. Auch hierin liegt ein Problem: Wenn eine Branche nennenswerte Teile ihres Geldes mit Geschäften „unter sich“ verdient, dann kann etwas nicht stimmen, oder man könnte auch sagen: das kann dann nicht lange gut gehen.
Weil der Staat nicht zulassen kann, dass das Finanzsystem zusammenbricht, haben nun alle westlichen Industriestaaten bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit ihrer Haushalte – und hoffentlich nicht darüber hinaus – Rettungspakete für Finanzunternehmen aufgelegt, die den Steuerzahler und künftige Generationen wahrscheinlich noch viele Jahre belasten werden.
So erleben wir in der Krise eine Renaissance des Staates. Galt er zuvor weitgehend als Störfaktor in der Wirtschaft, den man möglichst weit heraushalten wollte, so wird er nun gerufen. Offenbar sind die Märkte selbst nicht in der Lage, das Vertrauen zu gewährleisten, das gerade auf Finanzmärkten lebensnotwendig ist. Das Eingreifen des Staates im Herbst 2008 war notwendig, um eine Kernschmelze des Finanzsystems zu verhindern.
Wir müssen aber vorsichtig sein, dass nicht an die Stelle der Hybris der „Herren der Welt“ von der Wall Street nun eine neue Form menschlicher Hybris tritt, dieses Mal in der Form grenzlosen Vertrauens in staatliche Steuerungsfähigkeit. Was ist, wenn die vielen Konjunkturpakete, die wir weltweit beschlossen haben, eine längere Rezession nicht verhindern können? Ich habe manchmal den Eindruck, als glaubten viele, es ginge gerade so weiter wie vorher, wenn der Staat kurz einmal interveniert hat. Dabei ist es vielleicht sogar umgekehrt so, dass die Tiefe der jetzigen Krise auch damit zusammenhängt, wie in den vergangenen 10 Jahren Konjunktureinbrüche bekämpft wurden: mit einer Politik des billigen Geldes, mit einer immer leichtsinnigeren Kreditvergabe. Wir haben in Deutschland nun eine Abwrackprämie beschlossen, mit der der Ersatz von 600.000 Autos durch Neuwagen staatlich gefördert wird. Der Erfolg ist sehr groß, und es wird erwartet, dass das Kontingent von 600.000 womöglich gar nicht reicht, um die Nachfrage zu befriedigen. Der Verkauf von Neufahrzeugen ist so wieder in Schwung gekommen. Wir alle hoffen, dass es danach weiter bergauf geht, in der Erwartung, dass dann die reguläre, nicht gestützte Nachfrage wieder anzieht. Niemand weiß aber heute, ob diese Prämisse einer Keynesianischen Konjunkturpolitik in der jetzigen Situation gilt. Es kann – umgekehrt – genauso sein, dass wir in der Retrospektive des Jahres 2011 nur die Autonachfrage des 2. Halbjahres 2009 nach vorne gezogen haben. Und was ist, wenn die Automobilindustrie in vielen Ländern, vor allem in Europa, Nordamerika und Japan, einfach deutliche Überkapazitäten hat?
Der größte Fehler, den wir machen könnten, wäre, aufgrund der jetzigen Krise reflexartig eine grundlegende Systemkrise der mixed economy, der sozialen Marktwirtschaft, zu diagnostizieren oder das Ende der globalisierten Weltwirtschaft herbeizurufen. Wir dürfen uns nicht in eine Systemkrise hineinreden. Wie keine andere Wirtschaftsordnung hat die Marktwirtschaft zu Wohlstand und Fortschritt geführt. Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass es in der menschlichen Geschichte keine grenzenlose, ununterbrochene Linie nach oben geben kann. Auf eine Serie von Erfolgen und von Fortschritten folgen Rückschritte. Das hat nichts damit zu tun, dass die soziale Marktwirtschaft als System nicht funktionierte – dann hätte sie nicht jahrzehntelang so gut funktioniert und Wohlstand geschaffen –, sondern das liegt eher in der menschlichen Natur und der aus ihr folgenden Gefahr, durch Übertreibung auch wieder zu zerstören. Ich erinnere mich noch daran, wie Ludwig Erhard, der legendäre deutsche Wirtschaftsminister und spätere Bundeskanzler, in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts nach einer Phase beispiellosen Wirtschaftswachstums zu Maßhalten aufgefordert hat und hierfür regelrecht verlacht wurde – weil man nicht glauben wollte, dass es auch einmal wieder magere Jahre geben könnte. Anfang der siebziger Jahre wurden dann viele mit der Ölkrise und der weltweiten Stagnation eines Besseren belehrt.
Wenn man zurück in die Geschichte blickt, kamen größere Krisen oft nach längeren Phasen der Stabilität und soliden Wachstums. Gerade in der ersten Zeit der modernen Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert gab es tiefe Wirtschaftskrisen, die sich aus Phasen großer Innovation, darauf folgender Spekulation und anschließender Rezession entwickelt haben.
Wer das literarisch nachlesen will, dem sei etwa „L’Argent“ von Emile Zola empfohlen. Auch damals waren Hybris und maßlose Gier die Triebfedern, die ins Verhängnis führten. Emile Zola beschreibt das – wie wir heute wissen – zeitlos. Wir müssen also vorsichtig sein, wenn wir davon reden, dass es eine solche Krise so oder so ähnlich noch nie gegeben habe. Oft sind solche Superlative nur Ausdruck eines beschränkten Horizonts oder nur ihrerseits eine gewisse Übertreibung. Nur sind wir, wie die Erinnerung an die holländische Tulpenzwiebelspekulation im 17. Jahrhundert zeigt, auch nicht in der Lage, die Wiederholung früherer Irrtümer mit Sicherheit auszuschließen.
Es wird eine längerfristige Aufgabe sein, möglichst unideologisch zu analysieren, was genau die Ursachen und Auslöser für die momentane Krise waren, und sie im Wechsel von wirtschaftlichen Wachstum und Rückschlägen einzuordnen. Noch wissen wir nicht, wann diese Krise überwunden sein wird, und wir wissen auch relativ wenig, was wir dazu beitragen können. Auf der anderen Seite gibt es aber auch einiges, von dem ich sehr sicher bin, dass es fatal wäre.
Eine große Gefahr wäre es, wenn wir in bester Absicht, Unternehmen und Arbeitsplätze zu retten, in einen weltweiten Subventionswettlauf eintreten. Es liegt nahe, dass die Verhältnisse an den Kapitalmärkten mit dem mangelnden Risikobewusstsein bei der Kapitalversorgung dazu beigetragen haben, weltweit in manchen Branchen Überkapazitäten zu schaffen oder auch zu konservieren. Hier müssen wir nun sehr aufpassen, dass wir nicht überall dort, wo Anpassungsbedarf besteht oder wo auch falsche unternehmerische Entscheidungen getroffen wurden, mit Staatsgeld helfen. In den weltweit offenen Produktmärkten, die wir heute haben, würde das nur dazu führen, dass die anderen Staaten nachziehen müssen und man am Schluss mit sehr viel Steuergeldern praktisch nichts erreicht hat.
Fast noch schlimmer wäre es, wenn wir nun in eine Phase des Protektionismus zurückfallen würden. Ich bin sehr froh, dass Präsident Obama bislang entsprechenden Versuchungen, die es aus seinem politischen Lager traditionell gibt, widerstanden hat. Auch Protektionismus würde nicht unilateral bleiben, sondern zu einem weltweiten Wettlauf führen. Den Schaden hätten alle, am allermeisten die vielen Millionen Menschen in den Schwellenländern, die in den vergangenen Jahren zu erstem Wohlstand gekommen sind.
Jedenfalls für Deutschland steht auch fest, dass die Probleme nicht durch Geldentwertung gelöst werden können. Wir sind ein außerordentlich exportstarkes Land, obwohl wir beim Außenwert unserer Währung immer auf Stabilität geachtet haben. Zwei Währungsreformen im vergangenen Jahrhundert haben sich in das kollektive Gedächtnis der Nation eingebrannt als Merkposten, dass man realwirtschaftliche Probleme nicht durch Inflation lösen kann.
Die größte Gefahr besteht im Moment darin, dass die Staatshaushalte aus den Fugen geraten, weil die Probleme so groß und der Erwartungsdruck so hoch sind, dass sich die Politik nicht mehr mit einer soliden Haushaltsführung vereinbaren lässt. Wir haben in Deutschland nach den Belastungen der deutschen Vereinigung in den Jahren dieser Bundesregierung zunächst eine kraftvolle Haushaltskonsolidierung betrieben, auch durch Steuererhöhungen. Im Jahr 2008 hatten wir ein nahezu ausgeglichenes gesamtstaatliches Budget. Wir hatten dadurch Handlungsspielräume gewonnen. Manche sagen, dass diese Politik nun gescheitert sei, weil der angestrebte Schuldenabbau nun in weitere Ferne gerückt ist. In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt: Wir können froh darüber sein, dass wir in guten Jahren die Haushalte erheblich konsolidiert haben. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir nicht dauernd über unsere Verhältnisse leben können und dass wir die Finanzierung staatlicher Aufgaben nicht ständig auf künftige Generationen verlagern können. Hier muss man auch sehen, dass die europäischen Industrieländer einen viel problematischeren demografischen Aufbau haben als etwa die Vereinigten Staaten, und übrigens auch über längere Sicht niedrigere Wachstumsraten.
Viel schwieriger als bestimmte Fallen zu benennen, in die wir nicht treten dürfen, ist es, Reformen für die Finanzmärkte zu entwickeln. Das Financial Stability Forum hat Vorschläge entwickelt. Der bankwirtschaftliche Laie mag sich wundern, dass Bestandteil dieser Reformen ist, neben dem Eigenkapital zukünftig auch auf die Liquidität von Finanzinstituten zu schauen, wo doch – zumindest aus Laiensicht – jederzeitige Liquidität die Grundregel der Geschäftsführung einer Bank sein sollte. Aber unabhängig von solchen Einzelheiten: Wir Politiker begrüßen solche Expertenbeiträge und sind auf sie angewiesen. Mein Eindruck von den Vorschlägen ist auch, dass bestimmte Regulierungsansätze, namentlich bei den Eigenkapital- und Bilanzierungsregeln, in der Vergangenheit die Probleme eher verstärkt haben. Wenn das so ist, dann ist es richtig, innerhalb des institutionellen Rahmens der ja sehr stark internationalisierten Bankenaufsicht rasch Abhilfe zu schaffen. Ich bin aber nicht sicher, ob es mit solchen Optimierungen und Erweiterungen der Messsysteme für Risiken getan ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass es gerade diese Risikobewertungssysteme waren, die uns die Suppe eingebrockt haben, die wir nun auslöffeln müssen.
Zu den Überlegungen gehört sicher auch, wie wir den institutionellen Ordnungsrahmen – auch der Regulierung – stärker an die Tatsache der Globalisierung der Märkte anpassen. Ich bin aber überhaupt nicht überzeugt davon, dass in einer Vereinheitlichung der Aufsicht ein Allheilmittel liegt. Die Poppersche Idee eines piecemeal social engineering hat schon immer besser zu dezentralen, föderalen Entscheidungen gepasst als zu zentralisierten Superregulierern. Man darf auch nicht vergessen, dass gerade die Regulierung der Banken sehr stark internationalisiert ist. Die wesentlichen Regeln sind in den Basel-Abkommen international fixiert. Die Bankenaufsicht arbeitet europaweit koordiniert zusammen. Ich gehöre ohnehin nicht zu denen, die glauben, dass es umso besser wird, je größer die Einheit ist. Natürlich werden wir auch in Zukunft internationale Gremien und international einheitliche Regeln brauchen. So sollten wir überlegen, wie wir die Mechanismen der internationalen Zusammenarbeit effektiver, schneller, transparenter und teilweise auch stärker demokratisch legitimiert gestalten können. Wir müssen uns auch Gedanken darüber machen, ob die internationalen Regeln der Bewertung in einem hinreichend gemeinwohlsichernden Verfahren erlassen werden, das ihrer großen Bedeutung Rechnung trägt, oder ob wir hier mehr unmittelbare staatliche Gestaltung brauchen. In Deutschland haben sich ja viele Politiker über „Heuschrecken“, also schuldenfinanzierte Private Equity Investoren, beklagt, die Firmen übernehmen und sie mit kreditfinanzierten Ausschüttungen ausnehmen, aber keinen Versuch unternommen, die bilanz- und gesellschaftsrechtlichen Lücken, die solche problematischen Praktiken erlauben, zu schließen.
Wir müssen feststellen, dass bestimmte Grundlagen einer marktwirtschaftlichen Ordnung an den Finanzmärkten nicht wirklich funktioniert haben. Da ist zum einen der Zusammenhang von Chance und Risiko: die Chance besteht in Gewinnen und Wachstum, das Risiko in Verlusten und Insolvenz. Schon in der Kapitalgesellschaft wird dieser Zusammenhang gegenüber dem Einzelunternehmen gelockert. Für Finanzdienstleistungsunternehmen wird nun gesagt, dass sie nicht Konkurs gehen dürfen.
Das ist nicht nur für den Politiker ein Problem, der nach Fairness und sozialer Gerechtigkeit fragt. Es wird unter dem Stichwort des moral hazard auch zum ökonomischen Problem. Wer risikobehaftete, aber auch gewinnversprechende Handlungen eingeht, wird, wenn das Risiko von einem Dritten übernommen wird, in seiner Risikobereitschaft noch gesteigert. Es darf nicht passieren, dass wir nicht nur im Geiste eines „weiter so“ wirtschaften, sondern dass sogar jene, die solide und bescheiden gewirtschaftet haben, über ihre Steuergelder das bail out derjenigen finanzieren müssen, die auf Risiko fahren.
Schon der Ökonom Walter Eucken, einer der Gründer der Freiburger Schule, hat gemahnt: „Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen“. „Haftung“ sei Voraussetzung für eine „Gesellschaft, in der Freiheit und Selbstverantwortung herrschen“. Wegen der Auswirkung von Bankenzusammenbrüchen auf die Allgemeinheit, liegt hier das eigentliche Dilemma. Eine grundlegend zu klärende Frage ist, wie Staaten glaubwürdig machen können, dass Finanzinstitute nicht im Falle eines Falles vom Staat herausgehauen werden, zugleich aber genauso glaubwürdig das Vertrauen vermitteln, dass sie die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte – notfalls durch staatliche Intervention – gewährleisten.
Wie die konkreten Rezepte aussehen sollen, ist nicht leicht zu beantworten und wird gegenwärtig diskutiert. Wir brauchen sicher eine verbesserte Aufsicht und möglicherweise eine Einschränkung der Weitergabe von Risiken, was ja auch eher dem Wesen des Versicherungsgeschäfts als dem eigentlichen Bankgeschäft entspricht. Dabei geht es aber nicht – wie es in der öffentlichen Debatte oft suggeriert wird – um die Grundsatzfrage von mehr oder weniger Staat im Sinne von mehr oder weniger Regulierung, sondern schlicht um eine bessere, problemadäquatere Regulierung.
Denn die Überlegenheit marktwirtschaftlicher Ordnung liegt darin, dass sie bei der Leistungsbereitschaft, der Kreativität und dem Engagement der Menschen ansetzt. Das ist die Grundlage wirtschaftlichen Erfolgs, und die dürfen wir auch in der Krise nicht zu Tode regulieren. Aber umgekehrt brauchen wir Vorkehrungen gegen Übertreibungen, weil Gier Menschen immer blind zu machen droht. Das ist der Grundsatz der sozialen Marktwirtschaft.
Ein weiterer Lösungsansatz könnte in kleineren Einheiten liegen. Wir brauchen nicht nur Großbanken und Großkonzerne. Monokulturen und Giganten haben, solange es gut geht, häufig spektakulärere Erfolge. Sie führen aber auch zu tieferen Krisen. Denn jeder Fehler birgt das Risiko, dass er sich breiter auswirkt. Deswegen sollten wir die Vielfalt pflegen. Diversifizierung ist die beste Vorkehrung gegen Übertreibungen und Krisen, wie wir sie in diesen Tagen spüren.
Der Zusammenhang zwischen Risiko und Chance, der erst zu dem führt, was wir Verantwortung nennen, ist in der Finanzbranche auch noch an einer ganz anderen Stelle völlig durcheinander geraten, bei den Vergütungs- und Anreizsystemen. Sie haben es ermöglicht, dass Angestellte hunderte Millionen Dollar im Jahr verdienen, wenn sie mit riskanten Geschäften für ihr Unternehmen kurzfristig erfolgreich sind. Ein solches Anreizsystem kann nicht gut gehen, und es hat dazu geführt, dass vollkommen irrationale Geschäfte getätigt werden, die kurzfristig hohe Gewinne versprechen und bei denen die über den Tag hinausreichenden Risiken völlig verdrängt werden.
Bonuszahlungen sind grundsätzlich kein schlechtes Instrument, um die Gleichrichtung der Interessen eines Unternehmens und seiner Mitarbeiter zu stärken. Sie erfüllen ihre Aufgabe aber nur dann, wenn sich die gesetzten Anreize mit dem Interesse des Unternehmens an einer nachhaltig gedeihlichen Entwicklung tatsächlich decken. Auf dem Finanzmarkt haben die gesetzten Anreizstrukturen das Gegenteil bewirkt, weil das Unternehmensinteresse viel zu kurzfristig definiert wurde. Und so waren viele, getrieben von der Aussicht auf Boni, völlig blind für die Risiken, die sie zulasten ihrer Banken eingingen, und haben so die Krise befördert.
Zurück bleibt das Unbehagen über das Versagen von Managern großer Finanzkonzerne, die offensichtlich selbst nicht mehr in der Lage waren, die von ihnen mit geschaffenen Strukturen zu durchschauen. Dieses Unbehagen wird umso größer ob der Maßlosigkeit, die in bestimmten Bereichen der Finanzindustrie – angesichts von Gehältern und Bonuszahlungen – anscheinend unkontrolliert waltet.
Ich glaube nicht, dass wir mit verbesserten Risikomesssystemen oder einem verbesserten Aufsichtsrecht hinkommen, solange so verfehlte Ordnungsvorstellungen zugrunde liegen. Jede Aufsicht läuft den Beaufsichtigten zwangsläufig hinterher. Die Marktwirtschaft braucht Menschen, die über den Tag und das nächste Quartal hinaus handeln und Verantwortung übernehmen.
Wie viele andere Ökonomen hat übrigens auch Hayek auf die Bedeutung von Moral für das Funktionieren des Marktes hingewiesen. Wirtschaft hat ebensoviel mit Sitten und Tugenden wie mit betriebswirtschaftlicher oder buchhalterischer Mechanik zu tun. Wirtschaft lebt vom Miteinander, vom Austausch auf langfristiger Basis, Wirtschaft lebt auch von Tradition und Erfahrung. Auch wenn das bei Manchen aus dem Blick geraten war: Tradition und Erfahrung sind ebenso wie echte Kundenbeziehungen im Sinne von Menschenkenntnissen gerade in unserer schnelllebigen, unübersichtlichen Welt von großem Wert.
Wenn nun die moralischen Grundlagen einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung mehr und mehr zu Gunsten einer nur noch am Nutzen- und Gewinnmaximierungskalkül ausgerichteten Handlungsweise verdrängt werden, sind Anreiz- und Vergütungssysteme wahrscheinlich der Schlüssel zur Steuerung menschlichen Verhaltens. Wenn das so ist, kann es sein, dass wir auch hier etwas mehr staatliche Mitverantwortung brauchen und die Sicherung der Grundlagen der Funktionsfähigkeit des Marktes nicht mehr dem Markt allein überlassen können. Die Erfahrungen haben aber auch gezeigt, dass hier wegen der Mobilität nicht nur des Kapitals, sondern auch der Menschen, Nationalstaaten allein an ihre Wirkungsgrenzen stoßen.
In jedem Fall müssen solche Regelungen aber verbunden sein mit einer stärkeren Transparenz von Wirkungen individuellen Handelns sowie mit einem Bewusstsein für die Notwendigkeit von Werten für das Funktionieren unseres offenen Systems.
Wilhelm Röpke, einer der Theoretiker der sozialen Markwirtschaft, schrieb dazu in seinem Buch „Jenseits von Angebot und Nachfrage“: „Selbstdisziplin, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Fairness, Ritterlichkeit, Maßhalten, Gemeinsinn, Achtung vor der Menschenwürde des anderen, feste sittliche Normen – das alles sind Dinge, die die Menschen bereits mitbringen müssen, wenn sie auf den Markt gehen und sich im Wettbewerb miteinander messen.“
Das sind hohe Ansprüche, die sicher auch nach dieser Krise nicht immer erfüllt werden. Es geht auch nicht um Makellosigkeit im Einzelfall, sondern darum, dass uns diese Tugenden nicht aus dem Blick geraten. Dafür sind wir alle verantwortlich und dafür müssen wir uns, in der richtigen Balance von Eigenverantwortung und staatlicher Steuerung, einsetzen.
Es wird darauf ankommen, diese Werte auch in der globalisierten Informationsgesellschaft zu erhalten. Unserer sozialen Marktwirtschaft liegt die Idee der offenen Gesellschaft zugrunde. Sie wird aus der Krise lernen. Und weil sie lernfähig ist, wird sie diese wie künftige Herausforderung am besten meistern.