Vielen Dank, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin weder Preisträger noch Laudator, es geht heute also überhaupt nicht um mich. Sie haben mich gebeten, ein paar Bemerkungen zum Thema „Kritik und Medien“ zu machen. Ich fühle mich durch diese Einladung ausgezeichnet und mache das gerne.
Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch hat in einem Essay beschrieben – ich hatte im letzten Jahr genügend Zeit, solche Dinge zu lesen –, wie im Laufe des vergangenen Jahrhunderts einerseits ein Siegeszug demokratischer Verfassungen stattgefunden hat und gleichzeitig eine inhaltliche Veränderung demokratischer Entscheidungsprozesse hin zu einem Zustand, den Crouch als „Postdemokratie“ bezeichnet, eine Art „Pro Forma-Demokratie“. Mit seinen Worten „ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommen“. Die demokratischen Institutionen werden aus seiner Sicht quasi zur leeren Hülle. Dem stellt er gegenüber die idealtypische Form der Demokratie, in der – ich zitiere – sich „eine sehr große Zahl von Menschen lebhaft an ernsthaften politischen Debatten und an der Gestaltung der politischen Agenda beteiligt und nicht allein passiv auf Meinungsumfragen antwortet; dass diese Menschen ein gewisses Maß an politischem Sachverstand mitbringen und sie sich mit den daraus folgenden politischen Ereignissen und Problemen beschäftigen.“
Dies scheint nun in vielen „alten“ Demokratien nicht mehr so richtig gewährleistet. In Crouchs Bild der Postdemokratie haben demokratische Verfahren zunehmend nur noch instrumentelle Bedeutung, sie dienen nicht mehr dem Austragen von Interessenkonflikten, da die gewählten Repräsentanten ihre Kompetenzen und damit auch einen Teil ihrer Verantwortung auf Experten, auf Kommissionen, auf Wirtschaftsunternehmen verlagern. Dadurch gewinnen Interessenvertreter, auch, aber nicht nur aus der Wirtschaft, an Einfluss – und sie wirken auch stark auf die politische Kommunikation. Deswegen überrascht es nicht, dass für Crouch der „Verfall der politischen Kommunikation“ und damit auch die abnehmende Qualität politischer Debatten ein weiteres Kennzeichen der so beschriebenen Postdemokratie bildet.
Nun ist ja ganz unstreitig, dass die Qualität politischer Debatten ganz wesentlich durch den Zugang zu Informationen und ihre Verbreitung bestimmt wird, also durch Medien, und deshalb verändern natürlich Innovationen in der Medientechnologie unsere politischen und gesellschaftlichen Strukturen. Das war bei Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks nicht anders als bei der Entwicklung von Radio und Fernsehen, und das gilt ganz gewiss für die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien unserer Tage.
Michael Blumenthal, Direktor des Jüdischen Museums Berlin und einstmals Finanzminister von Jimmy Carter, hat in seiner Biografie „In 80 Jahren um die Welt“ die Erfindung des Mikrochips und die darauf gründende Revolution der Informations- und Kommunikationstechnologien als die einschneidendste Innovation und Veränderung in seinem Leben beschrieben. Und Michael Blumenthal hat wahrlich viel erlebt.
Ich muss ja Ihnen den rasanten Wechsel unserer Kommunikation nicht erläutern, durch Internet, SMS, Twitter, Facebook, WikiLeaks, und ich muss Ihnen nicht erläutern, was das für die Arbeit von Journalisten bedeutet. Ich will mich mit den Auswirkungen auf die politischen Strukturen beschäftigen.
Man könnte ja hoffen, dass die idealtypische Form der Demokratie mit den neuen Möglichkeiten näher kommen könnte. Auch für Jürgen Habermas könnte das Internet das egalitäre Forum für die aktive Beteiligung der Bürger an politischer Diskussion schaffen, was er als Voraussetzung für gelingende Demokratie ansieht. Es könnte ein wirksames Gegenmittel gegen eine zunehmende politische Lethargie weiter Bevölkerungskreise sein. Aber Habermas sieht auch die Probleme. Ich zitiere auch ihn: „Die horizontale und entformalisierte Vernetzung der Kommunikation schwächt zugleich die Errungenschaften traditioneller Öffentlichkeiten. Diese bündeln nämlich innerhalb politischer Gemeinschaften die Aufmerksamkeit eines anonymen und zerstreuten Publikums für ausgewählte Mitteilungen […]. Der begrüßenswerte Zuwachs an Egalitarismus, den uns das Internet beschert, wird mit der Dezentrierung der Zugänge zu unredigierten Beiträgen bezahlt.“ Und damit verlieren „in diesem Medium […] die Beiträge von Intellektuellen die Kraft, einen Fokus zu bilden.“
Ich glaube in der Tat, dass mehr noch denn je angesichts der Fülle der Informationen Auswertung, Auswahl, Bewertung, Einordnung notwendig sind. Aber wer, meine Damen und Herren, soll die leisten, wenn grundsätzlich allen alle Informationen zur Verfügung stehen? Ich erinnere mich an ein Buch von Uwe Jean Heuser. Er hat Anfang des vergangenen Jahrzehnts unter dem Titel „Das Unbehagen im Kapitalismus“ das Dilemma beschrieben, beim Kauf etwa einer Zahnbürste zwischen praktisch unendlich vielen Angeboten aus aller Welt wählen zu müssen. Nun mag ja das Problem der Zahnbürste – notfalls mit der Hilfe von Suchmaschinen – noch beherrschbar sein, aber bei der Fülle von Informationsangeboten wird die Sache für den politischen und gesellschaftlichen Diskurs ernster.
Es ist nach meinem Eindruck in der Welt der Medien durch die neuen Kommunikationsformen ein ähnliches Spannungsfeld entstanden, wie wir es politisch zwischen der plebiszitären und der repräsentativen Demokratie haben. Vergleichbar mit der plebiszitären Demokratie diskutieren in den neuen Medien – und Sie erinnern sich, dass sich in dem Wahlkampf von Obama ein erheblicher Teil der Kommunikation außerhalb der traditionellen Medien vollzogen hat – alle gleichberechtigt und ohne Steuerung auf der Basis der allgemein verfügbaren Informationen. Und dem könnte man das Modell der repräsentativen Demokratie entgegenstellen, in dem ja die Aufgabe gewählter Repräsentanten ist, inhaltliche Einordnungen vorzunehmen und Diskussionen zu gestalten. Eine Rolle, die in der Medienwelt den Journalisten zufällt. Denn ihre Aufgabe ist es, angesichts der unendlichen Vielfalt verfügbarer Informationen diese zu systematisieren, einzuordnen und zu bewerten. Und mit der Zahl der Kommunikationskanäle wächst die Bedeutung dieser Aufgabe.
Diese Aufgabe, die klassische Aufgabe des Journalismus, wird ja nicht gerade leichter durch die Tatsache, dass auch menschliche Aufmerksamkeit begrenzt, also knapp ist. Es ist eben nicht nur Geld knapp. Der Wettbewerb um Aufmerksamkeit ist entsprechend hart. Auflage, Quote, Anzahl der Klicks sind der Maßstab. Inzwischen wissen wir aus der Hirnforschung,, dass bei der Aufnahme von Informationen gewissermaßen eine Hierarchie des Anstößigen stattfindet, dass also die als skandalöser empfundene Information die harmlosere im Gehirn quasi verdrängt, und damit haben wir – wenn Sie so wollen – inzwischen eine neurologische Begründung für die alte journalistische Weisheit „Bad news are good news“.
Wenn Sie jetzt noch den menschlichen Herdentrieb hinzunehmen – und auch den kennen übrigens die Finanzpolitiker – man darf ja nicht vergessen, dass ich Finanzminister bin – nicht erst seit der letzten Finanzkrise – und da war er wunderbar zu besichtigen. Wer noch ein bisschen in der Geschichte zurückgehen will, mag sich die holländischen Tulpenzwiebel-Spekulationen ein paar Jahrhunderte früher anschauen. Man kann dann eigentlich nicht mehr überrascht sein, dass mit der Zunahme verfügbarer Informationen eine stärkere Monotonie in den Schlagzeilen oder in den Themensetzungen in den Medien in der jeweiligen Zeiteinheit einhergeht. Das wiederum hat ja fast zwangsläufig die Folge einer schnelleren Sättigung. Auch deshalb leben wir doch offenbar in einer Welt ständig zunehmender, sich beschleunigender Erregungszustände. Und natürlich ist auch nicht überraschend, dass die eben in immer kürzerer Folge von dem jeweils nächsten Skandal oder Event abgelöst werden.
Wir sollten dennoch auch Max Weber nicht ganz vergessen, der in seinem berühmten Zitat politische Arbeit als das „starke, langsame Durchbohren harter Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß“ definierte. Das langsame Durchbohren harter Bretter mit Leidenschaft – auf das „langsame“ kommt es mir an – und vor allem mit Augenmaß wird umso schwieriger, wenn mit der technologischen Beschleunigung der Kommunikation natürlich auch die öffentliche Erwartung schneller und am besten noch einfacher Lösungen zunimmt.
Ich glaube, dass die kurzatmige Wahrnehmung und Diskussion politischer Themen ein wachsendes Problem ist, denn in Wahrheit brauchen natürlich langfristige Lösungen neben entschlossenem Handeln auch Besonnenheit. Und das gilt eigentlich angesichts zunehmender Komplexität, durch die ja politische Entscheidungen gekennzeichnet sind – auch die zum Beispiel stärkere Internationalisierung von Problemstellungen – eigentlich noch mehr. Und im Übrigen haben wir natürlich auf der anderen Seite noch in Deutschland ein verhältnismäßig stark ausgeprägtes Streben nach möglichst breitem gesellschaftlichem Konsens.
Aber wenn man nun die hohe Geschwindigkeit der medialen Prozesse versucht in Einklang zu bringen mit einer fundierten politischen Diskussion, dann wird das fast unmöglich. Wenn wir die Demokratie ernst nehmen und das Ziel haben, das jeweils Beste für das Gemeinwesen oder das Gemeinwohl zu erreichen, müssen politische Entscheidungen ja doch noch irgendwo sorgfältig abgewogen werden. Und dazu bedarf es richtiger Entscheidungsstrukturen, aber es bedarf vor allem auch der für politische Entscheidungen nötigen Reifungszeit.
Sachlich fundierte Entscheidungen sind schwierig – in manchen Fällen vielleicht sogar unmöglich –, wenn jedes Thema, jeder Gesetzesentwurf, zum frühestmöglichen Zeitpunkt auf dem Medienmarkt behandelt wird, im Zweifel skandalisiert wird; häufig noch, bevor ein erster Referentenentwurf auch nur formuliert ist. Also bereits zu einem Zeitpunkt, an dem der Meinungsfindungsprozess durch Diskussion im politischen Raum eigentlich erst beginnen sollte.
Den Gesetzen unserer Medienwelt folgend, interessiert das Thema an dem Tag, an dem das Kabinett den eigentlichen Regierungsentwurf beschließt, eigentlich keinen Menschen mehr. Und wenn das Gesetz dann endlich von den Repräsentanten der Bevölkerung im Bundestag mehrmals beraten und dann verabschiedet wird, ist die öffentliche Diskussion so lange vorüber, die mediale Aufmerksamkeit abgelaufen, dass manche ganz überrascht sind: „was, das wird jetzt erst beschlossen, man dachte, dass wäre längst erledigt“.
Aber, meine Damen und Herren, diese Art der Kommunikation beeinflusst politische Strukturen, und sie beeinflusst übrigens natürlich auch das Bild von politisch Handelnden und von politischen Entscheidungsprozessen. Entscheidungsprozesse werden natürlich auch deswegen zunehmend als volatil empfunden. Und es ist eben in Wahrheit so, dass politische Führung, was immer das im Einzelnen sein mag, auf Wahrnehmung, und angemessene Wahrnehmung, existentiell angewiesen ist. Der Vorschlag, die Politik soll sich halt von diesen Prozessen abkoppeln, ist vielleicht wohlfeil, aber er ist wirklichkeitsfremd. Selbst Habermas hat in der von mir zitierten Rede – das war anlässlich der Verleihung des Bruno-Kreisky-Preises 2006 – sich eher resignierend gezeigt bezüglich der von ihm so zentral gesehenen Rolle des Intellektuellen angesichts moderner Entwicklungen unserer Mediengesellschaft.
Wenn übrigens Dirk Kurbjuweit kürzlich im Spiegel zu der zugespitzten Formulierung kam, wir hätten angesichts allumfassender Informationen und Meinungsbefragungen heute praktisch 80 Millionen Bundeskanzler, dann hat er damit am Ende weniger den Führungsstil der Bundeskanzlerin beschrieben, sondern mehr die Wirklichkeit unserer medial vermittelten öffentlichen Debatten.
Öffentlichkeit, öffentliche Debatte ist für die Bildung einer nicht nur durch Zwang verfassten politischen Gemeinschaft schlechthin konstitutiv. Voraussetzung jeder halbwegs friedlichen und freiheitlichen Ordnung ist ja das Akzeptieren von Entscheidungen. Und da wir niemals Entscheidung haben, mit denen alle von vornherein umstandslos einverstanden sein können, ist es eine Voraussetzung für die Akzeptanz von Entscheidungen, dass man sich der Gemeinschaft, für die und in der sie getroffen werden, irgendwie verbunden, zugehörig fühlt – jedenfalls geht das soweit, dass man akzeptiert, dass eine Mehrheit etwas entscheidet, was einem vielleicht nicht hundertprozentig passt. Man muss diese Zugehörigkeit nicht überhöhen; aber wie schwierig das in Wahrheit ist, das können wir zurzeit schmerzlich in der europäischen Debatte erleben. Meine Damen und Herren, das sagt sich so leicht: „One man, one vote“, aber das setzt natürlich als Prinzip schon voraus, dass man bereit ist, die Entscheidung einer Mehrheit zu akzeptieren. Und das wiederum setzt voraus, dass man sich als einen Teil dieses Gebildes versteht, für das notfalls die Mehrheit entscheidet – für mich, auch wenn ich vielleicht gar nicht zu der Mehrheit gehöre. Und wer das in der europäischen Debatte nicht bedenkt, der wird bei wachsender Euro-Skepsis in immer mehr Mitgliedsländern enden.
Die Aufgabe, durch Kommunikation die Grundlagen für eine solche Gemeinschaft zu schaffen, ist eine zentrale Bedeutung öffentlicher Debatte und damit Aufgabe der Medien. Und sie werden natürlich diese Aufgabe erfüllen, und die Aufgabe wird schwieriger, weil die Fülle der Informationen und der rasanten Wechsel in den Kommunikationstechnologien übrigens auch noch zu einer stärkeren Segmentierung unserer Gesellschaft führt. Bei den Fernsehprogrammen beobachten wir das schon seit längerem. Manche sagen ja immer noch, das läge an der Zulassung privaten Fernsehens, als hätte man angesichts der technologischen Möglichkeiten noch die Chance, ein Monopol für ein oder zwei Fernsehprogramme aufrecht zu erhalten. Jüngere – das wissen Sie auch – lesen signifikant weniger Tageszeitungen, und Ältere können vielleicht noch im Internet googlen, aber von Chatrooms und Twittern haben die meisten relativ wenig Ahnung.
Herbert Riehl-Heyse – einmal muss man ihn erwähnen, das ist ja schließlich eine Rede aus Anlass der Preisverleihung –, hat einmal geschrieben, dass die Zeitung „eine der letzten Klammern einer immer weiter auseinander driftenden Gesellschaft ist, in der sich schon die Orthopäden mit den Handchirurgen kaum noch ohne Dolmetscher verständigen können.“
Meine Damen und Herren, auch diese Segmentierung unserer Gesellschaft, unserer medial vermittelten Öffentlichkeit, bleibt natürlich nicht ohne Wirkung auf unsere politischen Strukturen. Denn wenn wir an Gemeinschaftszugehörigkeit als Voraussetzung für die Akzeptanz des Mehrheitsprinzips glauben, wird es natürlich kompliziert, wenn wir gar keine gemeinsame öffentliche Debatte mehr haben. Die Aufgabe von Medien und Politik wird jedenfalls schwieriger, alle Teile dieser segmentierten Öffentlichkeit zu informieren und bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Und noch schwieriger ist, für die Entscheidung eine notwendige Bindungswirkung für möglichst alle Teile dieser segmentierten Öffentlichkeit zu erreichen. Und so wird die Gefahr der Lockerung des gesellschaftlichen Zusammenhalts größer.
Und damit bin ich bei der uralten Frage: Wie sollen Entscheidungsprozesse und Entscheidungszuständigkeiten organisiert werden, um zukunftsfähig, nachhaltig oder was immer auch zu sein? Platon hatte bekanntlich seinen Rat der Weisen, aber Popper hat ja nachgewiesen, dass daraus in der weiteren Geschichte auch viel Elend geworden ist – indem nämlich solche Vorherrschaften geistiger Führer – Führer, die glauben ja meistens, dass sie sowieso alles selbst am besten wissen – in aller Regel am Ende dann doch in einer Diktatur mündeten. Und da ich meine Neigung zum Spotten nicht ganz unterdrücken kann, überlege ich gelegentlich, ob das Verständnis von Habermas’ Rolle der Intellektuellen nicht doch etwas mit dem Platonschen Ansatz zu tun hat. Aber wenn wir auf der anderen Seite sehen, welche Mühe eine grün-rote Regierung in Stuttgart mit der Durchführung eines Volksentscheides hat und der Definition des notwendigen Quorums, meine Damen und Herren, dann sind wir schon wieder bei dieser uralten Frage.
Soll wirklich eine Minderheit sich besonders betroffen Fühlender an Stelle einer Mehrheit von nicht so unmittelbar Interessierten entscheiden? Wenn nur noch die Anlieger entscheiden, werden wir zunehmend auch beim Bau von Kinderspielplätzen Probleme bekommen. Übrigens wenn bei Wahlentscheidungen – das kann ich ja immer lesen – sinkende Wahlbeteiligung als Argument gegen die demokratische Legitimation von Parlamenten angeführt wird, dann rate ich, es sich bei der Diskussion über Quoren für Volksentscheide auch nicht zu leicht machen.
Als ich meine erste Rede als Finanzminister Ende 2009 vor einem finanzmarktorientierten Auditorium zu halten hatte, habe ich nicht ohne einen gewissen Hintersinn mit Perikles begonnen. Die Zuhörer hatten erst gedacht, ich hätte das Manuskript vergessen. Aber ich wollte sie mit dem entsprechenden Hintersinn darauf hinführen, dass schon in der attischen Demokratie – und da meine ich gar nicht mal die Griechenlandkrise des Euro – vor zweieinhalb tausend Jahren insbesondere in Krisenzeiten Entscheidungen mit existentieller Bedeutung für die Zukunft nicht einfach dem Mehrheitsprinzip anvertraut wurden. Da kann man eine lange Linie in der Geschichte ziehen.
Wir haben übrigens aus genau diesem Grund ganz aktuell das Knappheitsgesetz in der Geldpolitik der Mehrheitsentscheidung entzogen. Das ist nämlich die Grundlage der Autonomie der Notenbank. Und mit allem Respekt: selbst engagierte Befürworter der plebiszitären Demokratie – ich gehöre ja bekanntermaßen nicht unbedingt dazu – sagen in der Regel, dass man haushalts- und steuerpolitische Entscheidungen natürlich nicht dem Plebiszit unterwerfen darf – das Knappheitsgesetz ist für die Mehrheitsentscheidung nicht geeignet.
Ich wollte natürlich bei meiner Rede vor diesem finanzmarktorientierten Auditorium auch für die Überzeugung werben, dass die Abwesenheit von Regeln noch nicht Freiheit gewährleistet, aber darauf komme ich noch zurück. Je mehr Entscheidungszuständige, desto mehr Demokratie – dieser Satz gilt meines Erachtens nicht so einfach, wenn man Entscheidungen nicht nur als etwas Situatives begreift, sondern auch – jedenfalls auch – als Wegmarke für eine auf längere Dauer angelegte nachhaltige Entwicklung.
Bei der Akzeptanz von Entscheidungen spielt Vertrauen eine ganz entscheidende Rolle. Nun wird häufig die These vertreten, breitere Beteiligung bewirke mehr Vertrauen oder Akzeptanz – ist ja auch einleuchtend. Ich habe vorgestern an der Feier aus Anlass des Wechsels im Amt des Bundesbankpräsidenten teilgenommen, und dabei ist mir durch den Kopf gegangen, dass Institutionen, die gerade nicht durch demokratische Mehrheitsentscheidungen legitimiert sind, oft sehr viel mehr Vertrauen in der Bevölkerung, also beim Souverän, genießen, als demokratisch gewählte Organe. Das gilt für die Bundesbank – um Jacques Delors zu zitieren: „Nicht alle Deutschen glauben an Gott, aber alle glauben an die Bundesbank.“ –, das gilt für das Bundesverfassungsgericht, das gilt wahrscheinlich allgemein für die Justiz.
Nun werden sich schon Journalisten und Politiker einig sein, dass man auf die Rangfolge in der Beliebtheitsskala von Berufsgruppen in Meinungsumfragen nicht allzu viel geben darf. Aber der Sachverhalt, dass demokratische Legitimation und dauerhaftes Vertrauen nicht notwendigerweise korrelieren, der mag schon zu denken geben.
Politik und Medien – wie gehen wir mit den Veränderungen der Kommunikation durch die neuen Technologien um? Als erste Antwort will ich noch einmal Anleihe nehmen in der attischen Demokratie, nämlich beim Apollon-Tempel zu Delphi, an dem ja geschrieben stand „Nichts im Übermaß“. Um es kurz zu machen: Aus diesem Prinzip ist in der westlichen Verfassungsgeschichte das System von „checks and balances“ geworden, auch das der rechtsstaatlich verfassten, weitgehend auf das Prinzip der Repräsentation gestützten Demokratie. Nicht ein alleiniger Entscheidungsträger, sondern Gewaltenteilung, am besten vertikal und horizontal, ergänzt durch Inseln der Autonomie – wie die Bundesbank. Und in einer solchen Architektur vollzieht sich Öffentlichkeit und Diskurs, ohne die alle Institutionen und Verfahren blutleer wären.
Deswegen sind die Medien mit dieser Architektur vielfältig verwoben. Wir werden uns den Entwicklungen, die mit der umfassenden Verfügbarkeit von Informationen verbunden sind, nicht entziehen können. Wir sollten es auch nicht wollen, aber wir sollten uns bewusst bleiben, dass Systematisierung, Einteilung und Bewertung eher noch notwendiger werden. Darauf muss sich die Politik einlassen, und darauf müssen sich die Medien einstellen.
Freiheit geht nicht ohne Regeln, ich sagte es schon. Ohne Grenzen hält der Mensch sich nicht aus. Das ist eine alte Geschichte, aber wir haben sie in der Finanzmarktkrise noch einmal in schrecklicher Aktualität erfahren. Warren Buffet, und der musste es ja wissen, hat Derivate früh als Massenvernichtungswaffen bezeichnet. Aber als der deutsche Gesetzgeber im vergangenen Jahr entschlossen hat, im Alleingang – weil die Forderung nach einem europäischen oder gar globalen Konsens drohte, die Lösung auf den Sankt-Nimmerleinstag zu verschieben – mit einem Verbot bestimmter ungedeckter Leerverkäufe voranzugehen, da hätten Sie hören sollen, was an Sorgen über die Auswirkungen auf den Finanzstandort Deutschland gesagt und geschrieben worden ist.
Nun weiß ich schon: Der Konflikt, welche und wie viel Regulierung, wird immer bleiben, und er kann nur in der beschriebenen Architektur demokratischer und rechtsstaatlicher Entscheidungsfindung gelöst werden, und um diesen Prozess vernünftig gestalten zu können, ist die erste Voraussetzung, dass man sich auf neue Entwicklungen einlässt, dass man offen bleibt. Nostalgische Zukunftsverweigerung hilft nicht, schon gar nicht vor dem Hintergrund unserer demografischen Entwicklung.
Übrigens: Internet und Datenschutz, Informationsfreiheit und Schutz der Privatsphäre, da führt sich die alte Debatte, wie Freiheit durch Regulierung wie durch Nicht-Regulierung gefährdet wird, auf der Grundlage der neuen Technologien fort. Ich fand die Stellungnahme, die meine Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger dieser Tage dazu in der FAZ veröffentlicht hat, lesenswert. Frau Leutheusser-Schnarrenberger plädiert am Ende für allgemeingültige digitale Werte. Das Problem ist damit auch noch nicht gelöst, aber es geht in die richtige Richtung.
Das führt uns dann zu der Einsicht, dass Wertebildung und Wertebindung durch Regulierung nicht zu ersetzen sind. Wenn man so will, ist das natürlich auch die Essenz des alten Satzes von Böckenförde von den Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates, in dem er diese Tatsache bleibend zum Ausdruck gebracht hat. Ich glaube, dass auch zwischen Werten und Regulierung ein Verhältnis von „checks and balances“ gilt – dass sie sich gegenseitig bedingen und gleichzeitig beschränken. Sie sind aufeinander angewiesen, wenn sie Dauerhaftigkeit gewährleisten sollen.
Wertevermittlung braucht übrigens Vorbilder, anders geht es schlecht. Da ist jeder gefragt. Da muss keiner – bei den Politikern nicht, bei den Journalisten nicht, und sonst auch nicht – auf den anderen warten. Es braucht auch Kritikpunkte, denn das ist das entscheidende Widerlager. Und weil ich bei dem Konflikt zwischen Informationsfreiheit und Schutz der Privatsphäre schon war, will ich gerne den Gedanken noch anfügen, dass Vertrauen viel mit einer gelingenden Balance zwischen Nähe und Distanz zusammenhängt. Beides ist wichtig – ich habe mich früh und lange mit der Frage beschäftigt. Zuviel Nähe ist ebenso falsch wie zuviel Distanz. Nähe und Vertrautheit in der richtigen Balance: Das können wiederum Journalisten wie Politiker bedenken, wenn sie es denn wollen. Und alle anderen übrigens auch.
Meine Damen und Herren, ich habe wenig feste Antworten für das Verhältnis von Medien und Politik, im Lichte rasanter technologischer Entwicklungen wäre das auch eher vermessen. Ich glaube, dass es um der Freiheit willen und der Offenheit der Prozesse auch gut ist, dass es so ganz feste Antworten darauf nicht gibt, jedenfalls nicht vom Bundesfinanzminister. Aber den Schatz an Erfahrungen aus Jahrtausenden menschlicher Zivilisation und Kultur, im Guten und im Bösen, nicht auszublenden, ist gewiss genauso hilfreich, wie dass man sich auf neue Entwicklungen einlassen muss und dass man niemals der Versuchung – insbesondere wenn man älter wird – nachgeben darf, sich in nostalgische Fortschrittsverweigerung zu fliehen.
Dass ohne Regulierung keine Freiheit dauerhaft ist, haben wir ja erlebt. Wir sollten es übrigens auch nicht zu oft neu versuchen. Dass aber Regulierung dem Einzelnen, jedem Einzelnen, nicht seine eigene Verantwortung abnimmt, weil das Entmündigung wäre, das gehört genauso dazu. Und weil wir aus der unendlichen Vielfalt von Meinungen, Anschauungen und Interessen auch zu Entscheidungen kommen müssen – denn dass wir irgendwann auch zu Entscheidungen kommen müssen, ist ja ein Urgrund des Sozialen in der menschlichen Existenz und Würde –, brauchen wir Institutionen und Verfahren, die ein hinreichendes Maß an Fairness und Zukunftsverantwortung gewährleisten.
Deswegen scheint mir bei der notwendigen Balance zwischen partizipativer und repräsentativer Demokratie im Zweifel die Legitimation von Entscheidungen durch allgemeine, freie und geheime Wahlen nachhaltiger zu sein. Aber dies setzt voraus, dass die Repräsentanten ihre politische Verantwortung auch vollumfänglich wahrnehmen. Und im Übrigen ist partizipative Demokratie nicht auf Volksentscheide reduziert; der ständige Prozess öffentlicher Meinungsbildung beeinflusst Entscheidungen gelegentlich nachhaltiger als Volksentscheide.
Freiheit und Offenheit von Gesellschaft beruhen auf der Voraussetzung, dass es allgemeingültige Entscheidungen für die Ewigkeit gewissermaßen nicht gibt. Und darin bewährt sich die offene Gesellschaft, wie uns Karl Popper lehrt: In der Fähigkeit, auf Veränderungen zu reagieren, Fehler zu korrigieren, in „trial and error“. Übrigens wusste das schon mein schwäbischer Landsmann Hölderlin, dass in der Gefahr das Rettende wächst.
Das, meine Damen und Herren, könnte ein Appell an die Politik wie an die Medien sein. Ihre Aufgabe als Journalisten ist – und angesichts der Veränderung in den Medien gilt das eher mehr als weniger – für Bewertung, Einordnung und Systematisierung zu sorgen. Bei allem Trend zu immer schnelleren, oberflächlicheren Informationsquellen und zu einem auch auf den Finanzmärkten erwiesenermaßen fatalen Herdentrieb werbe ich für den Mut, sich immer wieder auch gegen den Wind zu stellen – auch in dem Wettlauf um die schnellste Agenturmeldung.
Die Bereitschaft, den Kommunikationsprozess wieder etwas zu entschleunigen, sich also nicht nur auf den Wettbewerb, wer ist am schnellsten in den Agenturen, zu reduzieren. Wir müssen dem demokratischen Prozess den zeitlichen Raum wiedergeben für den notwendigen Reifungsprozess von Entscheidungen, als Voraussetzung auch für Akzeptanz, damit Entscheidungen auch eine gewisse Befriedigung bewirken. Und das heißt dann vielleicht auch den Versuch, sich bewusst herauszunehmen aus der ständigen Tempoverschärfung, die droht, uns immer mehr zu einer atemlosen Gesellschaft werden zu lassen.
Das ist für qualitativ hochwertigen Journalismus Chance und Herausforderung zugleich. Vielleicht haben sich zu viele dem allgemeinen Trend, dem mainstream, unterworfen, zu mehr oder weniger einheitlichen, reißerischen Überschriften und oberflächlichen Inhalten, als dass noch genug Raum für alle Wettbewerber auf dem Medienmarkt bliebe. Aber, meine Damen und Herren, ich glaube, dass wir in solchen Entwicklungen immer die Chance haben, diesen auch entgegenzuhalten, und deswegen bin ich ganz zuversichtlich, dass es in einem Gegensteuern durchaus Raum für anspruchsvollen Journalismus gibt. Und deswegen plädiere ich für Mut zur Substanz. Das wird sich lohnen, für Politiker und für Journalisten, für die politische Kommunikation und am Ende für die Demokratie in unserem Land. Herzlichen Dank!