Rede anlässlich der Helmstedter Universitätstage am 23. September 2022 in Helmstedt



Anrede,

Wenn man auf der A 2 die Grenze von Sachsen-Anhalt nach Niedersachsen passiert, vorbei an den ehemaligen Wachtürmen, dann dauert das nur einen Wimpernschlag. Nur noch wenig erinnert daran, dass das viele Jahre lang mit großen Mühen verbunden war, dass Helmstedt an der Nahtstelle zwischen Ost und West für Transitreisende eine wichtige Adresse war. Ein Ort, den man – O-Ton SWF 1950 – am liebsten schnell hinter sich gelassen hat.
Und natürlich erinnern wir uns an den Glücksfall der jüngeren deutschen Geschichte. Die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit. Die geschichtliche Ausnahme war – von vielen als Wunder verstanden – dass das ohne Gewalt, von Ausnahmen im Baltikum abgesehen, ohne Blutvergießen möglich wurde. Anfang September haben wir uns voller Dankbarkeit an Michael Gorbatschow erinnert, der in der Sowjetunion tragisch gescheitert ist, aber ein wahrer Friedensnobelpreisträger war, weil er im Zweifel, im Konfliktfall jedenfalls bei der Beendigung des Kalten Kriegs der Gewaltfreiheit, Frieden und Freiheit den Vorzug vor der persönlichen und der nationalen Macht gab. Kommende Woche habe ich die Ehre, eine Laudatio auf Lech Walesa halten zu dürfen. Auch er erhielt den Friedensnobelpreis dafür, dass er den Willen zu Freiheit und Selbstbestimmung mit der Bereitschaft zum Gewaltverzicht durch Verhandeln mit der Staatsmacht verband.
Und jetzt leben wir in Zeiten von Putins Überfall auf die Ukraine. So wenig wir damit gerechnet haben, so ist es doch eher eine erneute Bestätigung, dass Gewalt immer Teil der menschlichen Geschichte war. In der biblischen Schöpfungsgeschichte beginnt das unmittelbar nach der Vertreibung aus dem Paradies mit Kain und Abel – offenbar ist der Ewige Friede, die Abwesenheit von Gewalt, dem Paradies vorbehalten, mit der irdischen Realität nicht vereinbar.
Fukuyama hat 1990 vom Ende der Geschichte geschrieben, vom Sieg der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie im Wettbewerb mit totalitären, hierarchischen Systemen aller Art. Aber Huntington hatte schon 1996 in seinem Buch „Clash of Civilisations“ darauf hingewiesen, dass das der freiheitlichen Demokratie zugrunde liegende individualistische Menschenbild der beiden großen westlichen Revolutionen Ende des 18. Jahrhunderts – in Amerika und in der französischen Revolution – von anderen großen Zivilisationen, insbesondere der älteren chinesischen Kultur und auch in der islamischen Welt nicht geteilt würde.
Nach dem Schock vom 11. September 2001, dem Attentat auf das World Trade Center und andere Ziele in den USA, verstanden wir, dass die Bedrohung durch den Islamistischen Terrorismus auch eine Art von Krieg war – zum ersten Mal wurde die Beistandspflicht aus Art. 5 Nato- Vertrag aktiviert, und die Sicherheit Deutschlands wurde künftig am Hindukusch verteidigt. Landesverteidigung im hergebrachten Sinne wurde aus dem Aufgabenkatalog der Bundeswehr gestrichen, weil wir ja in Europa nur nach von Freunden umgeben waren. Und jetzt müssen wir uns in der Ukraine verteidigen –das meiste erledigen die heroischen Ukrainer selbst. Jedenfalls fühlt sich Putin nicht von der Ukraine bedroht – auf die Idee ist nicht einmal seine hemmungslose Propaganda gekommen. Vielleicht fühlt er sich – neben seinen offen bekannten imperialen Zielen – von unseren Werten und Ordnungsvorstellungen bedroht, so wie einst die DDR eine Mauer bauen musste, um die überlegene Anziehungskraft Westdeutschlands nicht zum Exodus aus der DDR werden zu lassen. Zweifel daran, dass er sich mit einem Erfolg in der Ukraine nicht zufrieden geben würde, sind nach seinen Reden und allen Erfahrungen nicht mehr erlaubt. „Ich bin so wütend auf uns,“ sagte die letzte Verteidigungsministerin vor dem Regierungswechsel Annegret Kramp-Karrenbauer nach dem 24.2., „wir haben alles gewusst, und wir wollten es nicht sehen.“ Recht hat sie.
„Asymmetrische Kriegführung“ nannten wir den Kampf gegen den islamistischen Terror. Jedenfalls war die Gewalt vor Putin – und leider wohl auch nach – nicht aus der Welt. Wenn nach dem 11. September die für innere Sicherheit verantwortlichen Minister wie mein amerikanischer Kollege Michael Chertoff und auch ich die notwendigen Instrumente zur präventiven Gefahrenabwehr, insbesondere Kommunikationskontrolle und Datenspeicherung forderten, weil Abschreckung im asymmetrischen Krieg nicht zur Friedenssicherung taugt, ernteten wir vergleichbaren Widerspruch wie Verteidigungspolitiker bei ihren Bemühungen, Verteidigungsfähigkeit, also Abschreckungspotentiale sicherzustellen. Ebenso erging es jedem Versuch, eine seriöse Diskussion über eine Anpassung völkerrechtlicher und nationalgesetzlicher Regeln an die Erfordernisse asymmetrischer Kriegführung etwa beim targeted killing, anzustoßen. Nach der weltweiten Veröffentlichung der Bilder, wie Obama die live-Übertragung von Osama bin Ladens Ausschaltung beobachtete, blieb der früher reflexhafte Aufschrei dann allerdings aus.
Jedenfalls, Gewalt ist in der von Menschen gestalteten Welt Bestandteil unserer Gesellschaft, regional, national, global. Und Gesellschaft, Geschichte ist immer ein Wettstreit um Einfluss, um unterschiedliche Interessen und Vorstellungen von Macht und Gestaltung. Heiner Geißler hat als CDU-Generalsekretär oft den Satz zitiert: „Nicht die Taten bewegen die Menschen, sondern die Worte über die Taten.“
Unbeschadet der Tatsache, dass er das Zitat wohl fälschlich Aristoteles zugeschrieben hat, führt der Satz zur zentralen Bedeutung politischer Kommunikation. Wie viele Schlachtenerfolge werden in den Geschichtsbüchern demjenigen zugeschrieben, der im Wettstreit der Narrative schneller war. Alexander der Große soll das schon gewusst haben. Generationen von Latein-Schülern haben sich an Caesars „De bello gallico“ abgearbeitet. Napoleon war wohl auch darin ein Meister, und derzeit können wir das tagesaktuell verfolgen, wobei ganz abgesehen von Putin auch Donald Trump mit der Hemmungslosigkeit im Umgang mit fake news eine neue Dimension erschlossen hat.
Immer haben Narrative mit Zuspitzung und Komplexitätsreduzierung zu tun, und so gewinnen Mythen und Symbole und eben auch Attentate ihre weit über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung.
Ich will der Versuchung widerstehen, den Auswirkungen der Informations- und Kommunikationstechnologien auf Gesellschaft und politische Kultur nachzuspüren. Viele, ich auch, halten die Gefährdung unseres Modells westlicher Demokratie, die Krise von öffentlichen Institutionen und unserer politischen Parteien, ohne die repräsentative Demokratie bislang nicht geht, für vielleicht unsere größte unter den vielen aktuellen Sorgen: Jedenfalls wenn es um Gewalt als Teil menschlicher Existenz und ihre Begrenzung geht, dann muss über die Ursachen von Gewalt diskutiert werden. Oftmals ist sie Ausdruck tiefer liegender Konflikte. Weil ich Julius Caesar schon erwähnt habe: Seine Ermordung an den Iden des März hatte wohl viel mit dem Ringen um den Erhalt der überlieferten römischen Ordnung zu tun. Das Attentat von Sarajewo fügt sich in den langen Ablösungsprozess hierarchischer Adelsordnungen aus dem Mittelalter und war in dem Zerfallsprozess der Imperien, vom zaristischen Russland über das Ottomanische Reich, Habsburg, das wilhelminische Deutschland und zeitlich abgesetzt Frankreich und das Britische Empire, nicht Ursache, sondern auslösender Funke für die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Über den 20.Juli 1944 und seine rechtliche Einordnung haben wir als Gymnasiasten noch in den 50er Jahren Besinnungsaufsätze geschrieben.
Dabei hatte das Grundgesetz in Art.24 Abs.4 die Frage klar beantwortet: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Aber nicht alle wollten das noch in den 50ger Jahren verstehen, so wie für viele Wehrmachtsoffiziere im Widerstand der auf Hitler geleistete Eid ein schwer überwindbares Hindernis war.

Wir glaubten, in unserem demokratischen Rechtsstaat dieses Problem nicht mehr zu haben. Aber spätestens seit dem Putschversuch der Trump-Anhänger bei der Amtsübergabe auf den neuen Präsidenten – wir alle erinnern uns an die nicht für möglich gehaltenen Vorgänge im Januar 2021 am Capitol in Washington D.C. – fangen auch bei uns zunehmend fehl geleitete Fanatiker wieder an, diese Ordnung in Frage zu stellen. Und sei es, weil sie eine mit demokratischer Mehrheit entschiedene und gerichtlich überprüfte Impfpflicht nicht akzeptieren wollen. Wer demokratische Entscheidungen nach aller gerichtlichen, auch verfassungs-gerichtlichen Überprüfung nicht respektiert, begibt sich auf eine schiefe Bahn – und da wehren wir besser den Anfängen.
Ohne eine allseits akzeptierte Ordnung für legitimierte und kontrollierte Entscheidung bleibt es bei der durch Gewalt heerbeigeführten Entscheidung. Der Terror der Palästinenser, an den wir uns gerade zum 50. Jahrestag des mörderischen Anschlags auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen erinnern mussten, war aus der Sicht der sich mit den Palästinensern Solidarisierenden, Ausdruck des auch schon bald hundert Jahre dauernden Konflikts um Israel, Jerusalem und Palästina. Und selbst bei den fürchterlichen Bildern am 11. September waren die Reaktionen in großen Teilen der Weltbevölkerung durchaus unterschiedlich.
So verstanden sind also Attentate Elemente der Gewaltausübung im immer währenden Prozess gesellschaftlich-menschlichen Wettbewerbs um Macht und Einfluss. Heutzutage ist viel vom globalen Systemwettbewerb zwischen rechtsstaatlicher Demokratie und wie immer begründeten totalitären Ordnungen die Rede. Viele denken, dass chinesische Effizienz unserer westlichen Überbürokratisierung weit überlegen sei. Wie eine globale Abstimmung über den Systemwettbewerb nach Bevölkerungszahl – one man one vote – ausgehen würde, lasse ich vorsichtshalber dahingestellt; ganz abgesehen davon, dass damit auch nur die Gefahr voraussetzungsloser und unbegrenzter Mehrheitsentscheidungen belegt würde.
Entscheidend ist etwas Anderes: Jede nicht auf das individualistische Menschenbild von der unveräußerlichen Würde jedes Einzelnen gegründete Ordnung muss sich notwendigerweise auf Gewalt zur Stabilisierung ihres Systems stützen. Nur die demokratische Freiheitsordnung beruht auf gewaltfreier, freiwilliger Zustimmung, setzt sie allerdings zumindest in Maßen auch voraus.
Und wenn Gewalt notwendig Teil der irdischen, menschlichen Existenz ist, muss es realistischer Weise um ihre Einhegung gehen. Abschaffen können wir sie nicht; deshalb ist Pazifismus moralisch so wertvoll wie politisch untauglich.

Aber begrenzen können wir Gewalt. Im demokratischen Rechtsstaat durch die rule of law, checks and balances gegen die Versuchung zur Kompetenzüberschreitung, die mit jeder Machtausübung immer auch verbunden ist. Und international – so lange der Traum einer auf ein globales Gewaltmonopol gestützten Weltregierung ein Traum bleibt –durch partnerschaftliche Außenpolitik und Zusammenarbeit, Integration in Europa und wo möglich darüber hinaus und eben Verteidigungsfähigkeit, Abschreckung. Si vis pacem para bellum.
Um Gewalt einzuhegen müssen wir bereit sein, Konflikte gewaltfrei zu lösen. Dazu müssen wir sie erst einmal verstehen und bereit sein, auch den Standpunkt der Gegenseite zu begreifen. Das ist im zivilen wie im öffentlichen Leben der Ausgangspunkt für jeden seriösen Verhandlungsprozess. Et audeatur altera pars, wussten die alten Römer, und im Sachsenspiegel steht – genderpolitisch heute natürlich völlig unkorrekt – „eines Mannes Rede ist keines Mannes Rede“. Und da müssen wir alle, jeder bei sich selbst anfangen. „Ein jeder kehre vor seiner Tür, und sauber ist jedes Stadtquartier“, sagte unser Altmeister Johann Wolfgang von Goethe.
Der unveräußerlichen Würde jedes Menschen, also der Grundlage unseres freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates, dem sind wir selbst niemals vollständig gerecht geworden. Im Kern ist die Essenz der Bergpredigt ebenso wie der kategorische Imperativ von Immanuel Kant letztlich auch gar nicht hundertprozentig umsetzbar. Schon die Gründungsväter Amerikas hielten für sich selbst noch Sklaven, und die Geschichte des Kolonialismus ist jedenfalls alles andere als eine Werbung für unsere Werte. Die Französische Revolution landete bald im terreur, in Robespierres Schreckensregime, was erst durch Napoleon beendet wurde. Aber soweit brauchen wir den Blick gar nicht schweifen zu lassen. Vor unserer Haustür ist die wachsende soziale Spaltung zu sehen und an den europäischen Außengrenzen die Ursachen und die Folgen der Migration. Die Globalisierung der Märkte beruht oft darauf, dass menschenunwürdige Arbeitsbedingungen oder ökologischer Raubbau an den Lebensgrundlagen künftiger Generationen aus Gründen der Kostenminimierung und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit hingenommen werden. Schon Ludwig Erhard, Vater des Wirtschaftswunders, wurde verspottet, als er bald nach der ersten Wachstumsphase zum Maßhalten riet. Mäßigung aber ist die Voraussetzung gewaltfreier Konfliktlösung oder –begrenzung. Meden agan, Nichts im Übermaß, steht seit über 2 ½ Tausend Jahren am Apollotempel zu Delphi geschrieben.
Und das andere gilt auch. Freiheit ist niemals voraussetzungslos. Ohne Grenzen und Regeln geht sie nicht. Und Demokratie ist kein Supermarkt für Schnäppchenjäger. Wir sind im Verhältnis zu unserem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat nicht Verbraucher, sondern Bürger, nicht nur mit Rechten ausgestattet, sondern auch mit Pflichten. „Demokratie als Zumutung“ lautet der Titel eines jüngst erschienenen lesenswerten Buches von Felix Heidenreich.
Um Gewalt einzuhegen, wenn wir sie denn schon nicht aus unserer irdischen Existenz verbannen können, brauchen wir die Akzeptanz von Instrumenten für Justiz, Polizei und Sicherheitsdienste, zur Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols, Gefahrenabwehr. Übrigens auch das Verständnis für die Unterscheidung von Recht und Gerechtigkeit. „Wir träumten von Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“, klagte Bärbel Bohley. Aber mit der Gerechtigkeit ist es wie mit dem Frieden: Vollständig, ohne Einschränkung ist das mit der menschlichen Eigenart, mit der Begrenztheit unserer irdischen Existenz nicht vereinbar. Deshalb muss im Rahmen der rechtlichen Regeln irgendwann ein Ende sein mit dem Streit, Rechtskraft nennen das die Juristen. Nur so entsteht Rechtsfrieden. Der Westfälische Frieden am Ende des 30jährigen Krieges wusste das. Wir sollten es nicht vergessen, auch wenn immer mehr findige amerikanische Anwälte Generationen von Urenkeln Hoffnung auf Reparationen machen. Schuld und Verantwortung für Unrecht bleiben, auch für künftige Generationen; aber Reparationen, Wiedergutmachung – soweit überhaupt möglich – müssen im rechtlichen Rahmen bleiben. National ist das gesetzlich geregelt, auch durch das Instrument der Verjährung, und international durch Verträge und Konventionen. Auch hier gilt eben die Mahnung „Nichts im Übermaß“.
Was in geregelten Friedensordnungen, sei es national oder auch etwa im europäischen Rahmen, mit rechtsstaatlichem Gewaltmonopol und Gefahrenabwehr geht, setzt nach außen Verteidigungsfähigkeit und Verteidigungsbereitschaft voraus. Das geht, aber nicht zum Nulltarif. Und darauf muss verantwortliche politische Führung bestehen.