– Es gilt das gesprochene Wort –
„Vom Ende der Geschichte“ schrieb Francis Fukuyama 1990 über den Triumph der freiheitlich-rechtstaatlichen Demokratie, die in der so unwiderstehlich erscheinenden Erfolgsgeschichte des westlichen Modells der Nachkriegszeit eng mit der sozialen Marktwirtschaft verbunden war. 30 Jahre später ist davon wenig geblieben. Fast überall in dieser westlichen Welt schwindet das Vertrauen in Parteien und staatliche Institutionen. Weltweit wirken zentralistische Konzentrationen effizienter und innovativer, ob in der staatlichen Allmacht oder in anderer Überlegenheit von monopolistischen oder oligopolistischen Strukturen. Die Verschiebungen in der globalen Weltordnung werden durch die jüngste Konferenz und Erweiterung der BRICS-Staaten ausgedrückt.
„Quellen des deutschen Antikapitalismus“ – das erinnert daran, dass Konservative in Deutschland schon in der Kaiserzeit und in der Weimarer Republik kulturelle Präferenzen für den Osten und eben nicht für den Westen hatte. Das änderte sich zwar gegen Ende des 2. Weltkriegs mit der brutalen Reaktion von Stalin und der Roten Armee auf die unsäglichen Verbrechen von Hitler-Deutschland; aber selbst Adenauers historische Leistung von europäischer Einigung und Westintegration war nur so lange unbestritten, wie die Blockkonfrontation dauerte. Und ohne den bald Weltwirtschaftswunder genannten wirtschaftlichen und sozialen Wideraufbau unseres Landes wäre die Schaffung einer stabilen rechtsstaatlichen Demokratie wohl auch nicht so leicht gelungen.
Da ist es gut, sich zu bemühen, alte Geister zu verstehen. Die Freiburger Schulen und der Freiburger Kreis, das ist entstanden als Lehre aus dem Scheitern der Weimarer Republik, und dies führte von Röpke über Walter Eucken und Müller Armack bis zu Ludwig Erhard und damit zur sozialen Marktwirtschaft.
Die Grundeinsicht war, dass eine menschengerechte Ordnung auf menschliches Engagement und Ehrgeiz setzen muss, weil freiwillig die Menschen sehr viel leistungsbereiter und erfindungsreicher sind. Darauf beruht am Ende die Überlegenheit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu der Entwicklung in der DDR. Und zugleich muss eine solche den Menschen gerecht werdende Ordnung eben auch auf sozialen Zusammenhalt setzen, auf Grenzen und Regeln, vor allem auch auf wettbewerbssichernde Regeln, damit sich diese freiheitliche Ordnung nicht durch wettbewerbsbeschränkende Kartelle oder ein Übermaß an Unternehmenskonzentration selbst zerstört. Die SPD hatte in ihrem Wahlkampfaufruf 1949 die soziale Marktwirtschaft noch als sinnloses Wort bezeichnet, seit dem Godesberger Programm 1959 übernahm sie aber zunehmend Elemente davon und heute ist die soziale Marktwirtschaft im freien Teil Europas und auch in der Weltwirtschaft weitestgehend unbestritten, ohne dass über die konkrete Ausgestaltung Einigkeit besteht.
Noch einmal: Der Grundgedanke, die Verbindung von marktwirtschaftlicher Freiheit und Effizienz und sozialem Zusammenhalt, so hat es der Nestor der katholischen Soziallehre Oswald von Nell-Breuning genannt, wird der menschlichen Natur am besten gerecht, weil es den Menschen moralisch weder über- noch unterfordert, was ja im Übrigen dem Verständnis der Protestanten von der Doppelnatur des Menschen – zu Gutem begabt und zugleich im Bösen verhaftet – ähnelt. Wenn in christdemokratischen Grundsatzprogrammdebatten vom christlichen Menschenbild gesprochen wird, dann ist genau dies gemeint. So also liegt soziale Marktwirtschaft in der Mitte zwischen reiner kapitalistischer Marktwirtschaft einerseits und staatlichen Dirigismus oder sozialistischer Gleichmacherei andererseits. Maß und Mitte, wie das in den politischen Grundsatzdebatten heißt, und dafür steht neben den ökonomischen Theoretikern von der Ordnungspolitik bis zur sozialen Marktwirtschaft vor allem Ludwig Erhard, der übrigens schon 1965 mit seinem Apell zum Maß halten eher Spott als Zustimmung fand.
Und doch sind sich heute viele, die sich in Wissenschaft und öffentlicher Debatte mit der Analyse der krisenhaften Zuspitzung befassen, einig, dass die Übertreibungen in jede Richtung immer das eigentliche Problem seien. Zu dem ökologischen Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen ist das weitgehend unbestritten, obwohl es immer schwierig wird, wenn es um konkrete Schlussfolgerungen geht. Für die Pharmakologen ist die Waage Symbol, also Maß und Mitte, für Justitia übrigens auch. Wer mag da nicht gleich an Michael Kohlhaas denken? Und von „fiat iustitia et pereat mundus“ ist es dann auch nicht weit zu unserem nur noch durch Satiriker und Kabarettisten zu erfassenden bürokratischen Perfektionismus.
Menschlicher Fortschritt, technologische Innovation ist immer Segen und Fluch zugleich, seit Prometheus das Feuer zu den Menschen brachte. In dem Film Oppenheimer wird das Dilemma der Kernenergie, das schon ihre Entdecker gequält hat, gerade wieder eindrücklich beschrieben. Und wer an die Sorgen gerade der avantgardistisch Kommunikationsexperten denkt, dass die künstliche Intelligenz sich von menschlicher Kontrolle und Beherrschung ablösen könnte, der spürt auch da wieder, das uralte Dilemma. Das gilt übrigens für Sorgen und Ängste auch, wie wir spätestens seit Webers Maschinenstürmer wissen oder auch seit den Prognosen, dass London in absehbarer Zeit im Pferdemist ersticken werde, wenn die Zunahme der Kutschen sich so fortsetze. Fußballanhänger fürchten, dass die Exzesse durch investorenbeherrschten professionalisierten Fußball alles zerstören könnten, und ein ehemaliger Finanzminister grübelt noch immer darüber, wie man verhindern könnte, dass entfesselte globale Finanzmärkte völlig außer Kontrolle geraten. Wohin man auch schaut – Übertreibung bis zur Perversion in jede Richtung. „Nichts im Übermaß“, Gnothi seauton, steht seit rund zweieinhalbtausend Jahren am Apollontempel zu Delphi geschrieben. Orakel und Menetekel zugleich.
Noch einmal zurück zu der Beobachtung, dass Ordnungsökonomie im Freiburger Kreis aus der Erfahrung mit der Perversion der totalitären Ideologien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer den Menschen gemäßen sozialen Marktwirtschaft entwickelt wurde. Jede freiheitliche politische Ordnung braucht als Stabilitätsgrundlage Zugehörigkeit, Identität. Ohne die wird das Mehrheitsprinzip nicht akzeptiert. „One man, one vote“ als Grundlage einer gewaltfreien globalen Ordnung nicht einmal ein Traum, zumal man weiß, dass das Mehrheitsprinzip allein keine Grundlage für eine stabile Freiheitsordnung ist, schon weil es auf die Rechte Einzelner oder Minderheiten keine Rücksicht nimmt. Deshalb ist das Föderale, das subsidiäre Bauprinzip für eine freiheitliche Ordnung dem zentralistischen Ansatz überlegen. Aber auch das kann man durch Übertreibung zerstören, wie der Zustand unserer bundesstaatlichen Ordnung, wie unsere kommunale Selbstverwaltung derzeit eindringlich beweist.
Und das führt schon zum nächsten Dilemma menschlicher Ordnung. Schutz von Leben und Menschenwürde für jeden Flüchtling und gleichzeitig auch Bewahrung von Aufnahmebereitschaft, Toleranz und Bekämpfung von ausländerfeindlichen Ressentiments, damit plagt sich deutsche und europäische Asyl- und Migrationspolitik seit fast einem halben Jahrhundert noch immer ohne wirklich überzeugendes Ergebnis herum.
„Begreifst du aber wie unendlich leichter andächtig Schwärmen als gut Handeln ist“, sagte Lessings Nathan zu seiner Tochter. Gesinnungsethik oder Verantwortungsethik, Max Weber lässt grüßen, und in Zeiten von Putins Überfall auf die Ukraine muss nicht nur Rolf Mützenich, sondern selbst die EKD ihre Position zum Pazifismus neu überdenken.
Wenn die Stärke der sozialen Marktwirtschaft darauf gründet, dass sie der Eigenart des Menschen gerecht wird, bleibt zum einen die Frage, wie sich das im globalen Wettbewerb behaupten kann. Heiner Geißler meinte einst, wenn müssen wir eben die soziale Marktwirtschaft weltweit einführen, konnte aber die Frage nach dem „wie“ natürlich auch nicht überzeugend beantworten.
Demokratie, nationale Souveränität und globale ökonomische Integration – freier Wettbewerb und offene Grenzen -, das Rodrik-Trilemma besagt, dass man nur zwei der drei miteinander vereinbaren können. Da die Sehnsucht nach der Geborgenheit in nationalem Zusammenhalt in Zeiten weltpolitischer Instabilität offenbar wächst, stößt die globale ökonomische Integration an zunehmend engere Grenzen.
Und zum anderen will bedacht sein, wie Menschen und menschliche Gesellschaften entwickeln. „Schlaraffenland abgebrannt“ lautet der Titel des nächsten Buches von Michel Friedman, in dem er die von ihm gesehene, gesellschaftliche Angst vor der Zukunft beschreibt. Man muss seine Tonart nicht teilen. Aber der Befund, dass es unsere Nachkriegsgeneration zu lange zu geht ging, so dass wir im internationalen Vergleich zurückfallen, für den spricht viel. Die jüngsten Leichtathletikweltmeisterschaften waren davon mehr als nur ein Symptom. Und wirtschaftlich sind sich inzwischen auch nahezu alle einig, dass wir wieder auf den Weg zum „kranken Mann“ nicht nur in Europa, sondern zunehmend auch in der Weltwirtschaft sind. Und dazu passt eben dann auch der Leistungsstand unserer Schüler. Neben allen unbestreitbaren sozialen und sonstigen Ursachen, die in vergleichbaren Ländern gewiss auch nicht völlig anders gegeben sind, ist schon bedrückend, dass in fast allen Stufen unseres Bildungssystems das kulturelle Basiswissen – lesen, schreiben, rechnen bis zu den MINT-Fächern eher mäßig mit abnehmender Tendenz ist. Stattdessen gewinnen geringere Wochen- und Lebensarbeitszeit immer mehr Attraktivität. Und mit der Höhe unserer öffentlichen Sozialbudgets sinken Leistungsfähigkeit der Systeme wie Zufriedenheit der Leistungsempfänger fast im gleichen Tempo. Verkehrte Welt?!
Michael Sandel erzählt in seinem „Unbehagen in der Demokratie“ nicht nur die immerwährende Auseinandersetzung in der amerikanischen Verfassungsgeschichte zwischen liberaler und republikanischer Freiheit, also der Freiheit, möglichst viel für sich selbst entscheiden zu können oder der Freiheit an gemeinsamen Entscheidungen einen möglichst großen Anteil zu haben. Und an dieser Erzählung hat mich besonders beeindruckt, wie sehr schon für die amerikanischen Gründungsväter und seitdem immer wieder die Inhalte von Bildung und Erziehung gerade auch in dieser Debatte wichtig waren, weil für den Zustand jeder Generation eben die vorangegangenen auch Verantwortung tragen. Es wird Zeit, dass wir Älteren heute auch darüber nachdenken.
„Nichts ist schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen“ sagt der Volksmund. Ich habe gelegentlich spekuliert, wie lange es dauern würde, bis uns im sogenannten Schlaraffenland die sprichwörtlich gebratenen Tauben zum Hals heraushängen würden. Knappheit nur bestimmt den Wert, Überfluss zerstört. Grundlage jeder Ökonomie von Angebot und Nachfrage.
Also ohne Grenzen und Regeln keine Freiheit. Ich habe in meinem Buch „Grenzerfahrungen – was wir aus Krisen lernen können“ dies auszuleuchten. Von Hans Maier, dem großen alemannischen Politikwissenschaftler und bayerischen Kultusminister erinnere ich einen Beitrag in einer bildungspolitischen Bundestagsdebatte, dass man den Gänsen den Brotkorb höher hängen müsse, damit sie lernten die Hälse zu strecken.
Und damit sind wir auch bei der Finanzpolitik. Bei Geld, Währung am Ende materialisiertes geronnenes Vertrauen ist, bleibt Geldwertstabilität kein Fetisch, sondern Grundlage einer leistungsfähigen Wirtschaftsordnung. Und deshalb sind Schuldenbremse oder schwarze Null nicht Ausdruck mangelnder Innovations- oder Gestaltungskraft, sondern im Gegenteil Grundlage für Nachhaltigkeit, wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Gerechtigkeit. „5% Inflation wären ihm lieber als 5% Arbeitslosigkeit“ sagte Helmut Schmidt im Wahlkampf 1972. Da hat er nicht Recht behalten, weil eben die mangelnde Geldstabilität alsbald zu nachlassender Wirtschaftskraft und damit zu wachsender Arbeitslosigkeit führte. Und weil ich jetzt schon am Anfang meiner gut 50 Jahre Bundestagszugehörigkeit bin, bin ich am besten auch am Ende meines Einführungsimpulses angelangt.