Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich des Symposiums „Bekämpfung des Islamistischen Extremismus“ in Berlin
Auch in Deutschland haben wir leider Erfahrung mit Terrorismus. Trotzdem erleben wir das, was seit dem 11. September 2001 geschieht, als neue Dimension. Die Täter gehen äußerst brutal nicht nur gegen Einzelne, die eine herausgehobene Funktion innehaben, vor, sondern gegen die ganze Bevölkerung, Staat und Gesellschaft. Sie berufen sich auf eine der großen Weltreligionen und ermorden doch bedingungslos so viele Menschen wie sie nur können. Zivilisatorische Fortschritte der Menschheit wie die Erklärung der Menschenrechte lehnen sie ab. Wenn es aber um die Verbreitung ihrer Lehren oder die Vorbereitung von Anschlägen geht, setzen sie auf die modernste Technik.
Ohne die Errungenschaften der modernen Kommunikation hätte Al-Qaida es wohl nicht geschafft, sich gegen den Verfolgungsdruck der Sicherheitsbehörden zu behaupten. Das Terror-Netzwerk ist heute internationaler aufgestellt als je. Seine Führer haben gelernt, Aktivisten und Sympathisanten durch netzbasierte Kommunikation an sich zu binden. Das Internet bekam so eine zentrale Bedeutung für die islamistische Bewegung – insbesondere in unseren modernen, westlich geprägten Gesellschaften.
Auch wenn uns die Mischung aus rückwärts gewandter Ideologie und fortschrittlicher Technik zunächst paradox vorkommen mag: Das Web ist eine ideale Plattform für extremistische Kräfte, die den status quo gegen den Willen einer Mehrheit verändern wollen. Ob Rechtsextremisten, Linksextremisten oder Islamisten, ob gewalttätig, gewaltbejahend oder gewaltlos: sie alle sind im Netz aktiv. Sie nutzen es, um ihr Zielpublikum an sich zu binden, Angst und Schrecken zu verbreiten. So wollen sie politische Entscheidungen erzwingen. Aktuell erleben wir das mit den Drohbotschaften gegen Deutschland. Gelingen wird ihnen das aber nicht.
Das World Wide Web ist ein kostengünstiger, verlässlicher und vielseitig einsetzbarer Kommunikationskanal. Und es ist ein Raum, der staatlicher Kontrolle weitgehend entzogen ist. So dient das Netz zugleich als Bibliothek, Schulungszentrum und Rechercheinstrument, etwa um Ziele auszukundschaften. Es hilft Terroristen, sich Fähigkeiten und Informationen anzueignen, die früher nur Staaten besaßen. Von Bauplänen für Bomben und Zünder über Satellitenfotos bis hin zu passwortgeschützten Chat-Räumen: Die in modernen Zeiten beispiellose Privatisierung der Gewalt, wie wir sie seit 2001 erleben, wäre ohne die Informationsrevolution kaum denkbar.
Wie prägend das Netz für die Vorgehensweise islamistischer Extremisten geworden ist, zeigen viele Biographien von Menschen, die radikalisiert wurden. Weil radikale Islamisten es heute schwerer haben, mit klassischen Mitteln in der Öffentlichkeit zu werben, spielt das Internet eine immer größere Rolle bei der Indoktrinierung und Rekrutierung von Sympathisanten. Das Netz wird als Massenmedium genutzt, über das sich Interessenten ansprechen und beeinflussen lassen. Propaganda-Videos – z.B. aus Afghanistan, Irak oder Tschetschenien – stacheln zu Hass und Gewalt auf. Sie legitimieren Terror als Gegengewalt – gegen einen Feind, der angeblich weltweit Muslime unterdrücke. Dazu vermengen sie dann Kriege und Konflikte in muslimisch geprägten Gesellschaften mit Szenen angeblicher oder tatsächlicher Diskriminierung von Muslimen im Westen. Dschihad-Webseiten und Internet-Foren liefern dann die Anleitung zum Terror. Und Chat-Räume stellen Kontakt zu Gleichgesinnten und zu erfahreneren Aktivisten her. In einem der aktuellen Drohvideos wird zum Beispiel erklärt, wie die Fehler, die die Attentäter bei den versuchten Kofferbomben-Anschlägen gemacht haben, zu vermeiden sind.
Es ist aber nicht so, dass Rekrutierung im Netz quasi automatisch abläuft. Werber des Terror-Netzwerks spielen eine wichtige Rolle. Jeder Rekrut, der plötzlich in Afghanistan oder Pakistan auftaucht, wurde irgendwann von jemandem instruiert, wo und wie er sich anbieten kann.
Die Biographien zuvor völlig unauffälliger Rekruten werfen aber schon die Frage auf, warum es Islamisten gelingt, im Netz aus Sympathisanten Terroristen zu machen, die oft ihr Leben opfern wollen.
Vielleicht haben wir unterschätzt, in welchem Maße es junge Menschen auch heute reizt, Teil einer revolutionären Bewegung zu sein, die eine gerechtere Welt verspricht. Und die ihnen Anerkennung und Selbstbewusstsein verschafft. Die islamistische Szene im Netz scheint diese beiden Bedürfnisse anzusprechen. Sie verspricht Zugehörigkeit zu einer kompromisslosen, angeblich für Gott kämpfenden Bewegung und damit letztlich einen geheiligten persönlichen Lebenszweck. Für Menschen, die das in der „realen“ Welt vermissen, kann das Netz zu einer ideologischen Gegenwelt werden, die ihr Selbstverständnis, ihr Fühlen, Denken und Handeln prägt. In dieser Welt gelten eigene Gesetze. Es entwickelt sich eine Eigendynamik, in der sich Anhänger durch radikale Äußerungen profilieren, in ein religiöses Sendungsbewusstsein hineinsteigern und gegenseitig zur Gewalt anstacheln.
Damit ist klar, worin die Herausforderung für Staat und Gesellschaft in unseren freiheitlichen Demokratien besteht. Wir dürfen eben nicht zulassen, dass sich das Netz zu einer radikalen Gegenwelt entwickelt. Wir müssen uns aber auch fragen, wie wir junge Menschen erreichen können, bevor sie uns dort verloren gehen.
Also stehen wir in einem doppelten Wettbewerb: in einem technischen und rechtlichen um den Schutz unserer Informations- und Kommunikationsinfrastruktur gegen Missbrauch; aber eben auch in einem politischen Wettbewerb um das Vertrauen der Menschen, die Al-Qaida gewinnen und gegen unsere Gesellschaften instrumentalisieren will. Wir müssen die Auseinandersetzung auf beiden Ebenen annehmen, wenn wir den islamistischen Extremismus eindämmen wollen.
Der Konflikt, in dem wir uns befinden, ist im Kern eine Auseinandersetzung mit den Folgen gesellschaftlicher Modernisierung. Darauf brauchen wir überzeugende, ganzheitliche Antworten. Sonst werden wir diese Bedrohung, oder künftige Herausforderungen durch andere Kräfte, die sich in der modernen Welt nicht zurechtfinden und die Verwundbarkeit offener Gesellschaften ausnutzen, nicht meistern können. Deshalb brauchen wir weiterhin eine Mischung aus hard power und soft power.
Wie gut es uns gelingt, unsere Sicherheit und damit auch unsere Freiheit zu schützen, ist eine der Fragen, die das Zusammenleben in unseren Gesellschaften prägen wird. Nicht alle haben erkannt, wie grundlegend die Herausforderung durch den islamistischen Extremismus ist. Wir sind in Deutschland bislang von terroristischen Anschlägen, zumindest vor gelungenen, verschont geblieben. Das lag an der guten Arbeit unserer Sicherheitsbehörden. Wir hatten aber auch Glück, zum Beispiel im Fall der fehlerhaften Kofferbomben. Die jüngsten Drohbotschaften der Al-Qaida, die erstmals in deutscher Sprache in Netz gestellt wurden, zeigen, dass Anschläge in Deutschland und Europa für Al-Qaida weiterhin eine hohe Priorität haben. Sie wirbt gezielt Muslime in Europa an, um hier Anschläge zu verüben und ihre Ziele durchzusetzen.
Wenn wir das verhindern wollen, müssen wir wissen, wo und wie sich Radikalisierung im Netz vollzieht und wer dabei welche Rolle spielt. Deshalb haben wir Anfang 2007 ein Gemeinsames Internetzentrum (GIZ) von Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt, Militärischem Abschirmdienst, Bundesnachrichtendienst und Generalbundesanwalt eingerichtet. Es beobachtet ständig einschlägige Internetseiten, Internet-Foren und Chats um Anwerbungsversuche und Anschlagsvorbereitungen möglichst frühzeitig zu erkennen.
Mit diesen Erfahrungen haben wir während unserer EU-Ratspräsidentschaft auch das Projekt „check the web“ initiiert. Daraus ist inzwischen ein Portal bei EUROPOL entstanden, über das die Mitgliedsstaaten ihre Erkenntnisse austauschen können. So bündeln wir unser Wissen, um mit den sehr knappen Ressourcen, die wir haben, möglichst viel errreichen. Es macht ja auch wenig Sinn, wenn sich alle Sicherheitsbehörden auf die Suche nach den gleichen Inhalten machen oder Botschaften aus einem seltenen arabischen Dialekt übersetzen.
Check the web zeigt beispielhaft das enorme Potential europäischer Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich. In vielen Bereichen sollten wir die Informationen, die wir in der Europäischen Union und auch darüber hinaus haben, besser vernetzen. In jedem Konflikt kommt es entscheidend auf Informationen an. Das gilt erst Recht im digitalen Zeitalter. Deshalb werden wir auf allen Ebenen die Kooperation mit unseren Partnern weiter ausbauen.
Wenn unsere Sicherheitsbehörden Radikalisierung und Anschlagsvorbereitungen rechtzeitig erkennen sollen, brauchen sie aber auch die notwendigen Befugnisse. Das neue BKA-Gesetz schafft die Voraussetzungen, damit wir in den vom Bund bearbeiteten schweren Fällen rechtzeitig die notwendigen Erkenntnisse bekommen, um Schlimmeres zu verhindern. Dafür braucht das Bundeskriminalamt das Instrument der Online-Durchsuchung – nicht weil es sich für die Festplatten der Bürgerinnen und Bürger interessiert. Es ist eben so: Jedem Anschlag geht intensive Kommunikation voraus. Nur wenn wir diese Kommunikation rechtzeitig nachvollziehen, können wir eingreifen, bevor etwas passiert.
Das gilt genauso auch für andere Anschlagsvorbereitungen. Die glücklicher Weise gescheiterten „Kofferbomben-Attentate“ von 2006 haben vielen deutlich gemacht, dass Handlungsbedarf besteht. Mit dem neuen Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten wollen wir künftig besser gegen Einzeltäter vorgehen können, die Kontakt zu Al-Qaida oder anderen aufnehmen, um sich für den Heiligen Krieg ausbilden zu lassen. Auch wer im Internet oder anderswo Anleitungen zur Vorbereitung schwerer Gewalttaten verbreitet, macht sich künftig strafbar – wenn die Informationen geeignet sind, andere zu Gewaltverbrechen anzustacheln. Damit beseitigen wir eine wichtige Lücke im Staatsschutzrecht.
Die Diskussion darüber ist symptomatisch für die Herausforderung unserer Rechtssysteme in den freiheitlichen Demokratien. Es ist ja ein Gemeinplatz, dass wir es mit einer asymmetrischen Bedrohung zu tun haben und dass die Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit hier allenfalls eine theoretische Unterscheidung ist. Die virtuellen Räume des Internet sind so zentral für Terroristen und Kriminelle geworden, dass wir nicht einfach die Hände in den Schoss legen und die Asymmetrie zu unserem Recht oder zur Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden hinnehmen können.
Dort, wo das Netz rechtsfreie Räume schafft, müssen wir neue Instrumente suchen. Das gilt für das nationale Recht, aber auch darüber hinaus. Vielleicht sollten wir uns auch grundsätzliche Gedanken darüber machen, ob nationalstaatliches Recht noch ausreicht. Ich bin mir gar nicht sicher, ob wir uns mit dem Internet überhaupt noch im nationalen Rechtsrahmen bewegen. Darüber nicht nachzudenken, ist kein Beitrag zum Schutz unserer Freiheit, sondern untergräbt die Souveränität freiheitlicher Demokratie. Ohne Sicherheit kann es auch keine Freiheit geben. Die Bürgerrechte schützen wir nicht, in dem wir Rechtslücken hinnehmen, sondern in dem wir sie mit Augenmaß beseitigen. Für mich bedeutet das, das Recht und auch die Instrumente zur Rechtsdurchsetzung so fortzuschreiben, dass sie nicht alle Internet-Nutzer ins Visier nehmen, sondern ausschließlich diejenigen, die sich aktiv und vorsätzlich am Terror beteiligen.
Diese Unterscheidung ist wichtig, weil sie deutlich macht, dass der Staat nicht willkürlich in die Privatsphäre seiner Bürger eindringt, sondern seiner Verpflichtung nachkommt, die Grundrechte zu schützen. Das ist die Aufgabe aller staatlichen Gewalt.
Es muss uns gelingen, diese Debatte sachlich zu führen. Denn alle Befugnisse helfen wenig, wenn die Sicherheitsbehörden nicht auch von der Gesellschaft dabei unterstützt werden, Radikalisierung zu erkennen und zu unterbinden. Das gilt „online“ genauso wie „offline“. So brauchen wir zum Beispiel auch eine enge und professionelle Zusammenarbeit mit den Internet-Providern. Wir müssen gemeinsam Wege finden, wie wir ihre Netze und Web-Hosts besser gegen Missbrauch schützen. Es kann zum Beispiel nicht sein, dass Suchmaschinen dazu genutzt werden, extremistische Seiten prominenter zu platzieren. Wir müssen den Zugang zu gefährlichen, in Deutschland verbotenen Inhalten erschweren. Wie das mit möglichst geringen Eingriffen geschehen kann, müssen wir gemeinsam klären.
Einen intensiven Dialog brauchen wir auch mit allen, die sich für die Integration von Muslimen engagieren. Das sind in erster Linie die Repräsentanten der Muslime selbst. Dieser Dialog ist nicht immer einfach. Aber er führt über Zeit zu mehr Verständnis und auch zu gemeinsamen Haltungen. Die von mir ins Leben gerufene Deutsche Islam Konferenz hat uns in nun gut zwei Jahren in wichtigen Fragen vorangebracht – zum Beispiel bei der Einführung von Islamunterricht. Die Islamkonferenz ist übrigens auch ein gutes Beispiel dafür, wie Staat und Zivilgesellschaft das Internet nutzen können, um für ein gutes Miteinander zu werben. Die Islamkonferenz hat eine eigene Internetseite, auf der sie sachlich über den Islam und die Muslime in Deutschland informiert. Sie macht unsere Debatten in der Konferenz transparent und gibt den Bürgern Gelegenheit, mitzudiskutieren.
Solche Diskussionen sind alleine schon deshalb wichtig, weil wir alle durch den islamistischen Extremismus bedroht werden und nicht zulassen dürfen, dass er unsere Gesellschaft spaltet. Deshalb freue ich mich auch, dass an diesem Symposium Vertreter einer breiten Vielfalt muslimischen Lebens in unseren drei Staaten teilnehmen. Es ist wichtig, die Stimmen von Betroffenen zu hören, die selbst ja am meisten darunter leiden, dass Islamisten ihre Religion politisch instrumentalisieren.
In der Auseinandersetzung mit dem islamistischen Extremismus erleben wir alle etwas, das charakteristisch für unsere globalisierte Welt geworden ist: Es gibt nur gemeinsame Lösungen. Entweder wir arbeiten zusammen, oder kein Staat, keine gesellschaftliche Kraft, kein Bürger wird in der Lage sein, eine globale Herausforderung wie die des Islamismus zu bewältigen. Es kann eben nicht jeder alles leisten. Wenn Großbritannien, die Niederlande und Deutschland heute und morgen ihre Experten an einem Ort zusammenbringen, dann ist das auch ein Beispiel für enge europäische Zusammenarbeit. Hundertprozentige Sicherheit werden wir auch gemeinsam nicht schaffen können. Aber wir können voneinander lernen und gemeinsam Vertrauen schaffen. Je besser uns das gelingt, desto schwerer haben es Extremisten und Terroristen, unser Gemeinwesen zu bedrohen. Und deshalb hoffe ich, dass von diesem Symposium kräftige Impulse für die Arbeit unserer drei Staaten ausgehen.