Der Bundesfinanzminister in einem Interview mit der Bild am Sonntag (BamS) vom 27. Juli 2014 über Sanktionen gegen Russland, Antisemitismus, seinen ersten Haushalt ohne neue Schulden und über Sterbehilfe.
BILD am SONNTAG (BamS): Herr Minister Schäuble, Sie sind der deutsche Spitzenpolitiker mit der größten Erfahrung. Als Sie 1972 in den Bundestag gewählt wurden, war Nixon noch US-Präsident, im Kreml herrschte Breschnew, zwischen beiden der Kalte Krieg. Sind wir bald wieder so weit?
Wolfgang Schäuble: Leider ist mit dem Ende des Kalten Krieges nicht der ewige Frieden ausgebrochen. Die Welt ist nicht stabiler und sicherer geworden. Es gibt neue Formen von Konflikten und Auseinandersetzungen.
BamS: Wie düster sind die Aussichten für Europa?
Schäuble: Die Krise um die Ukraine zeigt, dass die Anforderungen an Europa größer werden. Ohne die transatlantische Partnerschaft mit den USA wird uns das aber nicht gelingen. Umgekehrt braucht aber auch Amerika Europa als verlässlichen und starken Partner. Die Stabilisierung der Welt lässt sich nicht nur durch militärische Überlegenheit herstellen. Die Europäer müssen handlungsfähiger werden. Dafür braucht es Einigkeit.
BamS: Erst die Krim-Besetzung, dann Bürgerkrieg in der Ost-Ukraine, jetzt der Abschuss von Flug MH 17 Wie kann der Westen Putin stoppen?
Schäuble: Wir müssen Europa zusammenhalten und brauchen eine gemeinsame Antwort mit den Amerikanern. Das ist eine Gratwanderung: Auf der einen Seite wollen wir mit Russland eine möglichst konstruktive Partnerschaft, aber die Voraussetzung dafür ist auch, dass man sich an die Regeln hält, nationale Souveränitäten achtet und nicht Konflikte und Gewalttätigkeiten schürt. Terroristische Aktivitäten zu fördern, ist der falsche Weg. Das muss man Russland wieder und wieder sagen.
BamS: Glauben Sie, es beeindruckt Putin, dass 72 seiner Wirtschaftsfreunde vorübergehend nicht in die EU einreisen dürfen?
Schäuble: Tatsache ist: Der Rubel verliert an Wert, das Haushaltsdefizit Russlands steigt, die wirtschaftliche Entwicklung ist schlecht. Das sieht auch der russische Präsident.
BamS: Sind die Sanktionen des Westens ausreichend, oder sollte man, wie es die USA fordern, nachlegen?
Schäuble: Es ist leicht, Sanktionen zu fordern, die nicht die eigene Wirtschaft betreffen. Einige europäische Staaten hängen zu 100 Prozent von Öl- und Gaslieferungen aus Russland ab. Trotzdem gilt: Niemand in Moskau darf den Eindruck gewinnen, Russland könne mit seinem Vorgehen am Ende erfolgreich sein. Dazu gehört auch, die Verlässlichkeit der Nato zu betonen.
BamS: Unterstützen Sie Sanktionen, die eventuell der deutschen Wirtschaft schaden und damit auch Ihrem Haushalt?
Schäuble: Wirtschaftsinteressen haben nicht oberste Priorität. Oberste Priorität hat die Wahrung von Stabilität und Frieden. Wenn der deutsche Finanz- oder Wirtschaftsminister sagen würde: ,Vorsicht, Sanktionen schaden unseren Wirtschaftsinteressen“, dann hätte die Kanzlerin den falschen Wirtschafts- oder Finanzminister. Eine Beeinträchtigung von Frieden und Stabilität wäre im Übrigen die größte Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung.
BamS: Wie sehr besorgt Sie der Antisemitismus in Europa angesichts des Krieges im Gazastreifen?
Schäuble: Den gegenwärtigen Antisemitismus finde ich besorgniserregend. Nach der deutschen Katastrophe darf es für Antisemitismus hierzulande nie wieder Platz geben. Zur Integrationspolitik in Deutschland und Europa gehört auch, die geschichtliche Erfahrung des Holocaust zu vermitteln. Natürlich darf man auch die israelische Politik kritisieren, aber was soll Israel denn tun, um sicherzustellen, dass nicht ständig Raketen auf das Land abgeschossen werden? Gerade in der jetzigen Auseinandersetzung, in der selbst Ägypten Israel unterstützt, warne ich vor allzu leichtfertigen Urteilen und Kommentaren. Es ist Teil der deutschen Staatsräson, dass wir unter keinen Umständen Antisemitismus dulden.
BamS: Zum ersten Mal seit 1969 sieht der Haushalt für 2015 keine Neuverschuldung vor. Ist die „schwarze Null“ eigentlich eine Leistung der Regierung oder ist es eine Folge der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank? Sie haben in den letzten fünf Jahren allein 41 Milliarden durch die niedrigen Zinsen eingespart…
Schäuble: Aufgrund der hohen Gesamtverschuldung Deutschlands, der demografischen Entwicklung und der derzeit guten wirtschaftlichen Lage wäre es unverantwortlich, weiter neue Schulden aufzunehmen. Da die Wirtschaft wächst, sinkt so auch die Gesamtverschuldung. Die niedrigen Zinsen haben uns geholfen, doch für sichere Anlagen sind sie gar nicht so niedrig, sondern liegen wie üblich nur knapp über der Preissteigerungsrate. Bei 3 Prozent Zinsen und 3 Prozent Inflation meckert keiner, aber bei 1 Prozent Zinsen und 1 Prozent Inflation wird geschimpft.
BamS: Neben den niedrigen Zinsen profitiert der Finanzminister von den sprudelnden Steuereinnahmen.
Schäuble: Der Finanzminister profitiert von morgens bis abends…
BamS: Denn noch nie haben die Deutschen so viel Lohn und Einkommensteuer bezahlt wie 2014.
Schäuble: Bei einer normalen wirtschaftlichen Entwicklung steigen die Einnahmen von Jahr zu Jahr. Diese Betrachtung der absoluten Zahlen ist aber schräg: Relevant ist die Steuerquote – also wie viele Steuern insgesamt im Vergleich zur gesamtwirtschaftlichen Leistung bezahlt werden. Diese Quote liegt seit vielen Jahren konstant zwischen 22 und 23 Prozent. Also: Wenn die Wirtschaft wächst, steigen die Steuereinnahmen. Und deswegen verstehe ich auch die Klagen meiner Kollegen in den Ländern nicht, die zu rund 50 Prozent von den steigenden Steuereinnahmen profitieren.
Bams: Unsere Frage lautet: Wenn es jetzt keine Steuerentlastungen gibt, wann denn dann?
Schäuble: Vor einem Jahr hätten Sie noch gewettet, dass wir es niemals schaffen würden, die Steuern nicht zu erhöhen und keine neuen Schulden zu machen. Aber wir haben es im Wahlkampf versprochen, in den Koalitionsvertrag geschrieben und jetzt sogar umgesetzt! Und schon fragen Sie nach Steuersenkungen.
BamS: Wo bleibt der Plan der Union, zumindest die kalte Progression abzubauen?
Schäuble: Für die Steuergesetzgebung brauchen wir eine Mehrheit im Bundesrat. Die Ministerpräsidenten wollen aber Mehreinnahmen und sind nicht bereit, eine Entscheidung zu treffen, die für sie Mindereinnahmen bedeutet. Mein Gesetzentwurf zur kalten Progression ist seit vergangenem Jahr fertig in der Schublade, aber wegen der Blockade der Bundesländer gibt es nicht den Hauch einer Chance, ihn durchzusetzen.
BamS: Der Vorschlag von Verkehrsminister Dobrindt zur Pkw-Maut wird gegenwärtig von der SPD kritisiert. Bewegt sich diese Kritik noch im Rahmen des Koalitionsvertrages, der die Einführung der Maut vorsieht?
Schäuble: Der Koalitionsvertrag gilt auch in Sachen Pkw-Maut. Der Vorschlag von Alexander Dobrindt sollte jetzt sorgfältig geprüft und nicht zerredet werden. Unter dem Strich muss sich der Verwaltungsaufwand für eine Pkw-Maut aber noch lohnen. Sonst macht sie keinen Sinn.
BamS: Der EKD-Ratsvorsitzende Schneider hat vergangene Woche gesagt, er würde seiner krebskranken Frau aus Liebe auch gegen seine Überzeugung bei einer Selbsttötung beistehen. Die Kirchen in Deutschland lehnen Sterbehilfe ab. Was sagen Sie als gläubiger Protestant?
Schäuble: Ich war sehr tief bewegt darüber, was Nikolaus Schneider und seine Frau gesagt haben. Egal, welche Meinung man zu Sterbehilfe hat, ich habe höchsten Respekt vor der Haltung des Ehepaares Schneider. Es geht um Barmherzigkeit. Ich wünsche beiden viel Kraft. Als ich vor ein paar Jahren im Krankenhaus lag, hat Nikolaus Schneider mich besucht und mir Mut gemacht.
BamS: Ihre beiden Brüder sind 2011 und 2013 nach schwerer Krankheit gestorben, Sie selbst wurden durch das Attentat 1990 lebensgefährlich verletzt. Haben Sie in Ihrer Familie je über Sterbehilfe gesprochen?
Schäuble: Als mein älterer Bruder an Krebs erkrankt war und gewusst hat, dass er bald sterben wird, habe ich mich von ihm verabschiedet – kurz bevor er gestorben ist. Mein jüngerer Bruder hat aus heiterem Himmel einen Herzinfarkt erlitten. Wir waren Gott sei Dank nicht in der Situation, dass wir über Sterbehilfe reden mussten. Die Medizin ist heute zu vielem in der Lage, aber das Leiden bleibt uns nicht erspart.
Das Interview führten Roman Eichinger und Nicolaus Fest.