Silvester-Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung



Silvester-Interview Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble (CDU) –
Neue Osnabrücker Zeitung (Tobias Schmidt)

Im aktuellen Silvester-Interview der Neuen Osnabrücker Zeitung spricht Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble u.a. über die Verantwortung von Politik, Ärzteschaft, Wissenschaft und Ethikern sowie das Dilemma komplexer globaler Zusammenhänge in der Pandemie-Bekämpfung, die beim notwendigen Schutz des Lebens schwierige Abwägungsprozesse erfordert.

Herr Schäuble, das Corona-bedingte Trubel-Verbot an Weihnachten sei vielleicht auch eine Chance zu mehr Intensität, haben Sie gesagt: Wie hat der Parlamentspräsident mit seiner Familie das Fest verbracht?

Wir hätten es uns anders gewünscht und gerne die ganze Familie um uns gehabt, aber es war in diesem Jahr nicht möglich. Meine Frau und ich haben zu Hause in Offenburg mit zwei Kindern und zwei Enkeln gefeiert, auch das war ein großes Glück! Wir haben dabei an diejenigen gedacht, die nur alleine feiern konnten oder arbeiten mussten, etwa im Krankenhaus oder bei den Impfvorbereitungen. Hier wird ein großer Solidaritätsdienst geleistet, für den ich sehr dankbar bin.

Auch der Jahreswechsel kann nicht mit Freunden gefeiert werden. Das ist gerade für viele junge Menschen ein großes Opfer, oder?

Es ist gerade für junge Menschen schmerzlich, dass sie nicht ausgelassen das neue Jahr begrüßen können. Ich selbst kann das Böller-Verbot gut verkraften, aber auch für mich waren Silvesterfeiern oft ein Höhepunkt im Jahr. Mein Eindruck ist trotzdem: Die meisten verstehen, dass Zurückhaltung hilft, dass die Reduzierung von Kontakten eine wirksame Maßnahme zur Pandemie-Bekämpfung ist, und sie sind bereit, die Beschränkungen zu ertragen. Wenn es gut läuft, können wir Silvester 2021 wieder anders feiern. Wir sollten in diesen Tagen an diejenigen denken, die es viel schwerer haben. Und wir können zuversichtlich sein, denn der Impfstoff bringt Hoffnung. Vor allem sollten wir den Pflegekräften und Ärzten dankbar sein, die sich bis zur Erschöpfung und vielfach darüber hinaus um die vielen Corona-Patienten kümmern.

Auch das neue Jahr wird noch lange von Corona geprägt werden. Oder halten Sie es für möglich, dass der Impfstoff eine rasche Eindämmung und damit eine Rückkehr zur Normalität ermöglicht?

Mein Rat: Wir sollten uns vor zu großen Erwartungen hüten und es nehmen, wie es kommt. Vor allem sollten wir für alle Eventualitäten bestmöglich gewappnet sein. Es ist jedenfalls eine frohe Botschaft, dass sich die große Mehrheit der Bevölkerung impfen lassen will. Ich habe Respekt vor denjenigen, die dem Impfstoff mit Skepsis begegnen. Gleichwohl sollten auch sie akzeptieren, dass es nicht nur auf das eigene Empfinden, sondern auf den Gemeinsinn ankommt, wenn wir die Pandemie überwinden wollen, und das Impfen ist dafür notwendig. Natürlich werde auch ich mich impfen lassen, sobald ich an der Reihe bin!

Die Dosen werden noch lange nicht für alle reichen. Nun werden Vorwürfe erhoben, die Bundesregierung habe bei der Impfstoffbeschaffung zu sehr auf die EU vertraut, zu wenig den nationalen Ellenbogen eingesetzt…

Ich kann die Kritik zwar nachvollziehen, aber ich halte sie dennoch für falsch. Die Krise überwinden wir nur mit Solidarität, in Europa und auch darüber hinaus. Darin liegt eine große Chance. Wir können unsere Ungeduld nicht zum Maß aller Dinge machen und den Menschen in ärmeren Weltregionen den Impfstoff wegschnappen. Es war richtig, dass Gesundheitsminister Jens Spahn den europäischen Weg gewählt hat und wir in Europa gemeinsam vorgehen. In der Krise wächst die EU zusammen, dazu tragen auch die finanziellen Hilfen bei. Das ist enorm ermutigend.

Dennoch: Wird das Warten auf den Impftermin nicht zur Zerreißprobe für die Gesellschaft?

Natürlich wird das eine große Geduldsprobe, gerade für jene, die das Virus persönlich fürchten. Aber auch hier gilt: Es ist zum Besten Aller, wenn wir nicht nur uns selbst sehen. Das gilt auch für die schwierige Debatte über Privilegien für diejenigen, die immun sind. Eine Vorzugsbehandlung für Geimpfte birgt die Gefahr der Spaltung der Gesellschaft. Zwischen bereits Geimpften und Nicht-Geimpften dürfen wir keinen Keil treiben. Das Tempo bei der Impfstoffentwicklung war absolut beeindruckend. Daher können wir auch hoffen, dass es bei der Produktion noch schneller gehen wird. Jetzt ist jedenfalls nicht der richtige Zeitpunkt, um über Privilegien für die ersten Geimpften zu streiten, dazu wissen wir noch zu wenig über Dauer und Umfang der Impfwirkung.

Am 5. Januar wollen Bund und Länder beraten, wie es mit dem Lockdown weitergeht. Der Lebensschutz könne nicht die alleinige Maxime der Politik sein kann, so haben Sie es im ersten Lockdown im Frühjahr formuliert. Die Katastrophenmedizin folgt der Maxime, dass diejenigen mit den größten Überlebenschancen die größten Ressourcen erhalten. In der Corona-Katstrophe werden die Lebenschancen der Jugendlichen für die nächsten Jahrzehnte durch den Shutdown, die Schulschließungen und die gewaltige Schuldenaufnahme womöglich sogar reduziert…

Sie sprechen ein Dilemma an, mit dem wir seit Beginn der Pandemie umgehen müssen. Meine Grundüberzeugung ist, dass die Politik diese Abwägung nicht komplett per Verordnung oder Gesetz auflösen kann, sondern dass die Verantwortung auch in den Händen der Ärzteschaft, von Wissenschaft und Ethikern liegt. Die Ressourcen strikt nach verbleibenden Lebensjahren zu verteilen, wäre unbarmherzig den Älteren gegenüber. Das ist nicht mein Verständnis von Menschenwürde, wenngleich ich als 78-Jähriger nicht ganz unparteiisch in dieser Frage bin. Gleichwohl plädiere ich dafür, dass wir statt alles gesetzlich regeln zu wollen mehr Zutrauen in die Verantwortung des Einzelnen, also vor allem die der Ärzte, setzten sollten.

Mehr Verantwortung des Einzelnen, hieße das auch weniger Zwangsmaßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung, raus aus dem Lockdown?

So einfach ist es nicht. Ich spreche von mehr Verantwortung für diejenigen, die für diese existenziellen Fragen qualifiziert sind, auch moralisch. Die grundsätzlichen Maßnahmen müssen von Bund und Ländern beschlossen werden. Dabei bleibt es zentral, dass die Exekutive die Verantwortung des Einzelnen fest im Blick hält und auf so viel Freiheit wie möglich setzt. Es ist schier unmöglich, per Gesetz jeden Corona-Todesfall zu verhindern. Die Vereinten Nationen und in Deutschland die Welthungerhilfe warnen im Übrigen vor Millionen von Unterernährung und Hungertod bedrohten Menschen durch die Folgen der Pandemiebekämpfung. Gesperrte Häfen, geschlossene Märkte und unterbrochene Lieferketten treffen Bauern hart. Sie können ihre Ernte nicht mehr verkaufen und es fehlt ihnen an Dünger und Saatgut, die Nahrungsmittelpreise steigen dadurch massiv. Das zeigt die komplexen Zusammenhänge: Wir können nicht um jeden Preis jedes Leben schützen und alles andere muss dahinter zurücktreten.

Wie gelingt der Politik diese so schwierige Balance?

Es braucht weiterhin den offenen Umgang mit den schwierigen Abwägungsprozessen und das flexible Vorantasten, denn niemand weiß alleine, wie es am besten geht. Es gibt auch keinen Wissenschaftler, der den Stein des Weisen besäße. Wir leben ein Stück weit im Ungewissen. Das gehört zum Leben dazu. Mein Eindruck ist aber, dass in Deutschland die Abstimmung zwischen den Bundesländern nach manchen Verstimmungen, die nicht ausbleiben können, nun so gut gelingt, dass ausgewogene und vernünftige Entscheidungen getroffen werden.

Hat das Virus zu viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, geraten andere Herausforderungen aus dem Blick, vor denen wir im neuen Jahr stehen?

Ich habe im Gegenteil die Hoffnung, dass uns das Virus hilft, die großen Probleme dieser Welt besser wahrzunehmen und gemeinsam anzugehen. Alles andere wäre ein katastrophaler Fehler! Zu diesen Herausforderungen gehören allen voran der Klimawandel und der Verlust an Artenvielfalt, aber auch der Hunger, das Elend und die dadurch ausgelösten Fluchtbewegungen in der Welt. Die Pandemie hat sich rasend schnell über den Globus verbreitet. Das schärft das Bewusstsein dafür, wie eng wir zusammenleben. Die größte Herausforderung für die Demokratie ist die Tatsache, dass wir vieles nicht mehr im nationalen Alleingang entscheiden und lösen können. Es wird uns selbst nicht mehr lange gutgehen, wenn wir nicht dazu beitragen, dass auch die anderen eine faire Lebenschance haben. Corona hilft uns, das zu begreifen. Diese Chance sollten wir nutzen.

Ihre Partei, die CDU, steht im neuen Jahr vor einem Umbruch. Angela Merkel wird im Herbst von der politischen Bühne abtreten. In gut zwei Wochen wird zunächst ein neuer Parteichef gewählt. Wäre es gut für die CDU, wenn der neue Vorsitzende als jemand wahrgenommen werden würde, der ein Ende der Ära Merkel markiert?

Eine Partei, die nur für das steht, was früher gewesen ist, würde ihrem Auftrag nicht gerecht werden. Das haben weder Angela Merkel noch die CDU jemals so gemacht. Es müssen immer neue Antworten auf neue Fragen gefunden werden. Klar ist: Je näher der Tag rückt, an dem Angela Merkel – wie sie es angekündigt hat – nicht mehr Bundeskanzlerin ist, umso mehr werden wir sie vermissen. Sie gibt in dieser bitteren Pandemie den Menschen ein hohes Maß an Vertrauen und Halt. Das ist ein Glück für unser Land.

So sieht es auch SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz und will als eine Art „Angela Merkel in Rot“ in den Wahlkampf ziehen. Nach der Logik könnte ja auch die CDU auf jemanden setzen, der der Kanzlerin ähnelt…

Wir machen einen Fehler, wenn wir glaubten, wir müssten alles einfach nur so lassen, wie es war – und dann wird alles gut. Stillstand ist Rückschritt und Angela Merkel hat das schon 1999 als CDU-Generalsekretärin klar erkannt – früher übrigens als ihr damaliger Parteivorsitzender. Nun haben wir drei Bewerber für den CDU-Vorsitz. Armin Laschet, Friedrich Merz und Norbert Röttgen sind alle drei für dieses Amt geeignete Persönlichkeiten. Den Kanzlerkandidaten sollten CDU und CSU dann gemeinsam nach Ostern und vor Pfingsten bestimmen. Das reicht völlig aus, damit die Union einen gemeinsamen und überzeugenden Wahlkampf führen kann.

Das sogenannte Erstzugriffsrecht hätte der neue CDU-Chef. Aber ist in Stein gemeißelt, dass der gemeinsame Kandidat ein Parteivorsitzender sein muss, sei es von der CDU oder der CSU?

Dass jemand zum Kanzlerkandidaten bestimmt wird, der kein Parteivorsitzender ist, ist grundsätzlich nicht ausgeschlossen. Ähnliche Diskussionen gab es ja auch bereits früher einmal. Aber ich gebe hier keine neue Nahrung für Personalspekulationen, lassen wir uns überraschen.

Sie selbst wollen 2021 wieder in den Bundestag einziehen, dem Sie seit 48 Jahren angehören. Die Bundestagswahl findet eine Woche nach Ihrem 79. Geburtstag statt. Woher nehmen Sie nur diese Energie?

Ich hoffe, dass sie mir weiter gegeben bleibt. Ich sehe die Kraft, dieses Amt wahrzunehmen und auszuüben, als ein Geschenk an. Ich bin damit in reichem Maße beschenkt. Ob es so bleibt, weiß man nie. Aber auch da zählt die Hoffnung.

Gibt es – außer der Verteidigung Ihres Mandates – ein Ziel, einen Vorsatz, den Sie sich für 2021 gesetzt haben?

Meine Hoffnung ist natürlich, dass wir Deutschen und Europäer dabei helfen, die unglaublichen Herausforderungen, die sich uns stellen, besser zu meistern. Das ist mein großer Wunsch für das Jahr 2021.