Rede von Bundesminister Dr. Schäuble beim DRK-Rettungskongres
Die Schriftstellerin Juli Zeh hat einmal gefragt: „Wie wollen wir denn nun sein – stark, schön und erfolgreich oder edel, hilfreich und gut?“[1] Dahinter steht die grundsätzliche Frage: Wollen wir Egoisten oder Altruisten sein? Ich glaube nicht, dass uns diese Alternative, dieser Kontrast zwischen stark und gut wirklich weiterbringt. Wir können als Gesellschaft nur helfen, wenn wir stark sind und weil wir stark sind. Dazu können auch egoistische Motive ihren Beitrag leisten. Sie dürfen aber in einer Gesellschaft freier Bürger nicht die einzigen Kräfte sein.
Unsere Medien haben in den letzten Tagen und Wochen sehr viel über die Finanzkrise, den Einsturz des Kölner Stadtarchivs und den Amoklauf von Winnenden berichtet. Diese Ereignisse haben die Menschen stark bewegt und tun es immer noch. Bei aller Unterschiedlichkeit stellen diese Ereignisse grundsätzliche Fragen zur Verantwortung des Einzelnen und zur Hilfe durch Staat und Gesellschaft.
Wenn der Staat Banken stützt und Milliardenhilfen gewährt, macht er das, weil diese Hilfe im Interesse aller ist, auch wenn ein klar benennbares Fehlverhalten einzelner Banken vorliegt. Der Gesamtschaden wäre ungleich größer, wenn diese Banken Pleite gingen und andere Banken und viele weitere Unternehmen, die auf Kredite angewiesen sind, mit in den Untergang reißen. Deswegen muss der Staat helfen – und es kann auch nur der Staat in diesem Fall wirksam helfen, weil die Möglichkeiten innerhalb des Bankensystems ausgereizt sind. Aber wir müssen zugleich Sorge tragen, dass der jetzt aufgespannte Rettungsschirm nicht dazu führt, dass die Banken sich auch in Zukunft auf staatliche Hilfe verlassen und so weiter machen wie bisher. Dafür müssen wir Regelungen finden.
Viele von Ihnen werden bei ihrer Arbeit schon erlebt haben, dass das Vertrauen auf Hilfe dazu führen kann, dass Einzelne leichtsinniger werden und größere Risiken eingehen, als wenn sie wüssten, dass sie allein für die Folgen gerade stehen müssten. Es ist ein Grundproblem jeder Form solidarischer Hilfeleistung, dass die Risikobereitschaft eher steigt und das Verantwortungsgefühl für das eigene Wohl und das anderer eher sinkt. Das gilt nicht nur für die Handelnden, sondern auch für die Beobachter, die zum Teil selbst dann nicht aktiv werden, wenn sich Bedenkliches direkt vor ihren Augen abspielt. Viele vertrauen darauf, dass es das System schon richten wird. Das muss uns bewusst sein, und deshalb muss alles, was der Staat an Hilfen leistet, immer zurückgebunden bleiben an die Eigenverantwortung des Einzelnen. Staatliche Hilfe kann es erst geben, wenn der Einzelne oder Zusammenschlüsse von Einzelnen es nicht mehr schaffen, sich selbst zu helfen.
Der Amoklauf von Winnenden hat uns gezwungen, in einen menschlichen Abgrund zu blicken. Das, was passiert ist, zeigt, wie wichtig schnelle polizeiliche Reaktion, Notfallversorgung und psychologische Hilfe sind. Und es stellt die dringende Frage, an welcher früheren Stelle dem Amokläufer zu helfen gewesen wäre, wo Prävention hätte ansetzen können. Es wäre nun aber falsch, dafür allein den Staat in die Pflicht zu nehmen. Natürlich lasse ich prüfen, ob wir beim Waffengesetz, das bereits sehr streng ist, noch etwas ändern können. Wir brauchen eine gründliche Prüfung, unter Einbeziehung der Ermittlungsergebnisse und auch der Anliegen der Länder. Aber ich sehe nicht wirklich, wie staatliches Handeln diese Tragödie hätte verhindern können. Hier geht es im Kern nicht um die Frage, was die Politik versäumt hat, sondern darum, was die Gesellschaft versäumt hat. Der Ruf nach dem Staat birgt die Gefahr, dass sich alle anderen von der Verantwortung freigesprochen fühlen. So ist es aber nicht: Jeder hat die Verantwortung, sich um das zu kümmern, was in seinem Umfeld passiert.
Wir brauchen eine Stärkung des Verantwortungsgefühls bei Menschen, die sich und andere erheblichen Risiken aussetzen – das ist eine Lektion aus der Finanzkrise. Wir brauchen ein aufmerksames Umfeld, das hinsieht und bei Fehlentwicklungen eingreift – das wird vermutlich eine Lektion aus dem Amoklauf von Winnenden sein. Und wir brauchen Helfer, die gut und zügig arbeiten, ohne sich selbst zu gefährden. Was wir aus dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs lernen können, betrifft weniger das Handeln der Helfer als die Medien und die Erwartungen der Medienkonsumenten. Ich hätte mir manchmal etwas mehr Verständnis für die schwierige Situation der Helfer gewünscht, die wissen, dass ihnen die Zeit davonläuft, die aber erst dann die Rettungsarbeit aufnehmen können, wenn die Einsatzstelle für sie selbst sicher ist.
In Köln hat das Deutsche Rote Kreuz mit 175 Einsatzkräften und 25 Rettungshunden geholfen. In Winnenden waren täglich bis zu 220 Helfer des DRK im Einsatz, um Verwundete zu versorgen und um psychosoziale Unterstützung zu leisten. Einige sind immer noch dort. Ich danke allen Helferinnen und Helfern herzlich für ihre gute Arbeit. Sie wurden als Erste und am stärksten mit dem konfrontiert, was uns als Gesellschaft schockiert und bestürzt hat.
Die hauptamtlichen und ehrenamtlichen Kräfte des Deutsche Roten Kreuzes und auch der anderen Hilfsorganisationen in Deutschland sind immer zur Stelle, wenn Menschen in Not geraten. Allen Helferinnen und Helfern im Rettungsdienst zu Boden, zu Wasser und in der Luft möchte ich danken und sie aufrufen, in ihrem Wirken zum Schutz der Menschen nicht nachzulassen.
Der Schutz der Bevölkerung ist eine Aufgabe, die alle betrifft. Deswegen müssen die Bürgerinnen und Bürger wissen, wie sie sich selbst schützen können. Aber es gibt auch Situationen, in denen der Einzelne und sein Umfeld nicht viel machen können. Dann müssen staatliche Stellen und Hilfsorganisationen wie das Deutsche Rote Kreuz gemeinsam aktiv werden.
Wir stehen heute beim Bevölkerungsschutz vor einer Reihe neuer Herausforderungen. Zur Zeit des Kalten Krieges mussten wir uns vor allem auf die Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung einrichten. Der klassische Verteidigungsfall ist aber zum Glück sehr unwahrscheinlich geworden. Dafür sind neue Handlungsfelder in den Vordergrund getreten.
Dazu gehört im Zeitalter des Klimawandelns der Schutz vor Naturkatastrophen. Wir erinnern uns alle noch an das Elbehochwasser 2002. Mit der zunehmenden Technisierung bekommt auch der Schutz kritischer Infrastrukturen, zum Beispiel unserer Wasser- und Energieversorgung, eine noch größere Bedeutung. Ein 24-stündiger flächendeckender Stromausfall könnte viele Menschenleben gefährden. Der Schutz der Bevölkerung und unserer Infrastrukturen vor Terroranschlägen hat nach dem 11. September 2001 eine neue Dringlichkeit bekommen. Ebenso müssen wir auf große Unfälle oder Epidemien vorbereitet sein.
Die Bandbreite der Gefahren ist groß. Vieles kann man nicht genau vorhersehen, die Risiken und Folgen sind schwerer zu kalkulieren, die Bedrohungslage ist diffuser als noch vor 15 oder 20 Jahren. Diese Entwicklungen fordern neue Antworten. Weder Hochwasser noch Epidemien machen an Zuständigkeitsgrenzen halt. Deswegen sind wir vor allem auf gute Zusammenarbeit angewiesen – in einem ganz pragmatischen Sinn: als partnerschaftliches Zusammenwirken über föderale Grenzen hinweg.
Unser Hilfeleistungssystem ist subsidiär angelegt. Nach der föderalen Ordnung unseres Grundgesetzes ist die allgemeine Gefahrenabwehr Sache der Kommunen und Länder.Der Bund hat im Bevölkerungsschutz eine eng begrenzte Aufgabe. Er trägt – so die geltende Verfassungsrechtslage – Verantwortung allein für den Schutz der Bevölkerung vor kriegsbedingten Gefahren.
Neben den staatlichen Einrichtungen spielen nicht-staatliche Organisationen eine ganz entscheidende Rolle. Das daraus erwachsende Verbundsystem, um das uns viele andere Länder – man darf es ruhig sagen – beneiden, sorgt für ein hohes Sicherheitsniveau. Nur so können wir unser jetziges engmaschiges Hilfsnetz aufrechterhalten. Eine zentralstaatliche Organisation würde nicht mehr Sicherheit bringen, denn sie könnte nicht so flächendeckend präsent sein. Und nichts ist in Notfällen wichtiger als schnelle Hilfe. Umgekehrt gilt aber auch: Wo keine zentrale Lenkung ist, brauchen wir eine sinnvolle, zeitgemäße Aufgabenverteilung und eine effiziente Koordination der Beteiligten im Krisenfall. Die linke Hand muss wissen, was die rechte Hand tut.
Bei der Bund-Länder-Zusammenarbeit gab es einen unübersehbaren Handlungsbedarf – angesichts der neuen, länderübergreifenden Bedrohungen. Darüber waren sich Bund und Länder einig und darüber waren wir uns auch in der Großen Koalition einig. Und es war klar, dass der Bund sich stärker würde engagieren müssen.
Ergebnis der gemeinsamen Diskussionen ist das Gesetz zur Neuordnung des Bevölkerungsschutzes, das voraussichtlich zum 1.4. in Kraft treten wird. Es sichert eine wirksame Katastrophenhilfe des Bundes zugunsten der Länder bei Großschadenslagen. So stellt der Bund die Ressourcen, die er für den Zivilschutz vorhält, den Ländern bei Naturkatastrophen und schweren Unglücksfällen zur Verfügung. Das gilt für das Warnsystem des Bundes wie auch für dessen Kapazitäten für das Informations-, Lage- und Ressourcenmanagement. Das gilt insbesondere aber auch für die Ausstattung, mit der der Bund den Katastrophenschutz der Länder ergänzt. Das Gesetz eröffnet zudem erstmals die Möglichkeit zentraler Koordinierungsmaßnahmen durch den Bund. Das geschieht aber nur, wenn die betroffenen Länder es wollen und anfordern.
Vorgesehen sind ferner eine bundesweite Risikoanalyse, die der Bund zusammen mit den Ländern erstellt, dann eine Beratungs- und Unterstützungsfunktion des Bundes zugunsten der Länder beim Schutz kritischer Infrastrukturen sowie die Entwicklung von Standards und Rahmenkonzepten für großflächige Gefahrenlagen durch den Bund in Abstimmung mit den Ländern.
Das neue Gesetz ist ein wichtiger Baustein in der Sicherheitsgesetzgebung der letzten Jahre. Wir haben einvernehmlich eine neue, solide und moderne gesetzliche Basis für den Bevölkerungsschutz in Deutschland geschaffen.
Der Bund hält seine Mittel für den Zivilschutz für den Verteidigungsfall rund um die Uhr einsatzbereit. Nun unterscheiden sich die Folgen moderner Kriegsführung nicht so sehr von den Folgen großer Naturkatastrophen und Unglücksfälle. Deswegen kann die Ausstattung des Bundes auch bei der Gefahrenabwehr und dem Katastrophenschutz der Länder zum Einsatz kommen.
Hierbei hat der Bund seine Ressourcen an die veränderte Bedrohungslage angepasst. Der Bund zieht sich aus der bisherigen Ergänzung der flächendeckenden Grundversorgung zurück. Dafür konzentriert er sich auf Spezialfähigkeiten mit den Schwerpunkten ABC-Schutz und Bewältigung eines Massenanfalls von Verletzten. Der Bund unterstützt die Länder vor allem bei so genannten Engpassressourcen, die Länder und Kommunen im Rahmen der allgemeinen Gefahrenabwehr nicht vorhalten können. Das bedeutet eine gefährdungsorientierte und somit schwerpunktmäßige Vorsorge für „Sonderlagen“. Insgesamt stellt der Bund den Ländern künftig über 5.000 Fahrzeuge bereit und bezahlt wie bisher deren Betrieb und Unterbringung.
Ein zentraler Bestandteil des neuen Ausstattungskonzeptes des Bundes sind die Medizinischen Task Forces. Sie ergänzen den Sanitätsdienst im Katastrophenschutz der Länder. Damit verfolgt der Bund eine neue Strategie bei der medizinischen Versorgung der Bevölkerung bei Großschadenslagen. Während er bisher ergänzende Mittel für den Katastrophenschutz der Länder zur Verfügung gestellt hat, stellt der Bund in Zukunft eigene Einheiten auf, die den Katastrophenschutz der Länder mit Spezialkräften unterstützen. Diese Einheiten orientieren sich an den neuen Gefahren und werden nach den neuesten katastrophen-medizinischen und technischen Standards ausgestattet. Bundesweit sind 61 Medizinische Task Forces vorgesehen. Das Deutsche Rote Kreuz hat sich an der konzeptionellen Ausgestaltung und Umsetzung der Task Forces ebenso engagiert wie fachkundig beteiligt.
Nicht nur zu Land – wo der Bund zur Zeit 280 Krankentransportwagen beschafft –, sondern auch in der Luftrettung hat der Bund seine ergänzende Ausstattung erneuert. Für den schnellen Einsatz von Notärzten und Rettungsassistenten brauchen wir moderne Hubschrauber. Mit den neuen Hubschraubern vom Typ EC 135 T2i verfügen nun alle zwölf Luftrettungszentren, an denen der Bund mitwirkt, über leistungsstärkere Rettungshubschrauber. Diese Luftrettungsflotte, geflogen von den Piloten der Bundespolizei, gehört weltweit zu den modernsten. Sie flog im letzten Jahr rund 17.680 Einsätze für den Luftrettungsdienst – knapp 1.000 Einsätze mehr als im Vorjahr.
Das deutsche Hilfeleistungssystem wird neben den hauptberuflichen Kräften bei den Rettungsdiensten und Feuerwehren getragen durch das ehrenamtliche und bürgerschaftliche Engagement von über 1,6 Millionen freiwilligen Helferinnen und Helfern. Sie sind das Rückgrat des Bevölkerungsschutzes in Deutschland.
Ein solches Engagement ist das Fundament jeder lebendigen Demokratie. Der Staat kann nicht alles regeln, er kann nicht überall erster Helfer in der Not sein. Und selbst wenn er es könnte, wäre es nicht gut für unsere Ordnung. Am Ende ist es das, was eine freiheitliche Gesellschaft ausmacht: nicht alles durch den Staat regeln zu wollen, sondern vieles freiwillig zu machen. Deshalb unterstützt der Staat das bürgerliche Engagement nach Kräften.
Wir müssen die Bereitschaft zu ehrenamtlicher Hilfe in einer Zeit, in der gewachsene Bindungen sich immer mehr auflösen, stets neu fördern, stets neu dazu aufrufen. Dazu gehört auch, dass sich die Hilfsorganisationen, die Feuerwehren und das THW verstärkt um junge Menschen und um die Einbindung von Menschen mit Migrationshintergrund bemühen. Ein weiteres Anliegen sollte sein, die Zahl der ehrenamtlich wirkenden Frauen zu erhöhen.
Wir wollen die Leistungen der Ehrenamtlichen künftig noch stärker würdigen. Dazu habe ich einen Förderpreis Bevölkerungs- und Katastrophenschutz initiiert. Er soll helfen, die Leistung der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer in der Öffentlichkeit noch bekannter zu machen. Dabei geht es nicht allein um den Bevölkerungs- und Katastrophenschutz. Es geht auch um die wichtige gesellschaftliche Bedeutung des ehrenamtlichen Engagements in den Hilfsorganisationen. Ihre Jugend- und Nachwuchsarbeit vermittelt jungen Menschen nicht nur fachliche Fähigkeiten, sondern auch die Fähigkeit, Verantwortung in der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft zu übernehmen. An vielen Orten hilft sie jungen Leuten, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.
Ein Bevölkerungs- und Katastrophenschutz, der in der Mitte der Gesellschaft verankert ist, kann dringende Not lindern und er kann Menschen in unserem Land einander näher bringen. Ich möchte Ihnen dazu eine Geschichte erzählen, die mich persönlich beeindruckt hat. Als 1997 quasi über Nacht die Oderregion unter Wasser stand, fuhren viele tausende Helfer aus ganz Deutschland nach Brandenburg und packten an. Viele waren noch gar nie dort gewesen. Die Betroffenen waren ganz gerührt. 1999 kam dann das große Donau-Hochwasser in Bayern. Eine Gruppe junger Menschen aus Frankfurt an der Oder wollte etwas von der erfahrenen Hilfsbereitschaft zurückgeben und fuhr nach Neustadt an der Donau. Unternehmer gaben ihnen Geld mit, der örtliche Anglerladen lange Gummihosen. Vor Ort wurden sie dann mehreren Familien zugeteilt, denen sie einige Tage lang halfen. Bis heute gibt es einen freundschaftlichen Kontakt.
Bestimmt kennen viele von Ihnen ähnliche Geschichten – oder haben sie selbst erlebt. Für die Zukunft des Bevölkerungs- und Katastrophenschutzes wünsche ich mir, dass wir Professionalität und menschliche Zuwendung weiterhin so gut verbinden. Dann schützen wir nicht nur die Menschen in Deutschland, sondern halten unsere Gesellschaft auch in schwierigen Zeiten zusammen.
[1] Juli Zeh: Euer Sündenbock-Spiel nervt. In: Der Spiegel 21/2005 (Zeh schreibt in dem Artikel über Managergehälter und die Auswüchse des Kapitalismus).