Nachdenken über die deutsche Unterschicht



Was tun mit Familien, die ihren Kindern keine Erziehungsinstanz mehr sind? Der Staat hat die Pflicht und das Geld, hier einzugreifen, sagt Inge Kloepfer. Für Wolfgang Schäuble zählt bei aller flankierenden Hilfe auch die Verantwortung des Einzelnen

Die Autorin Inge Kloepfer klagt in ihrem Buch „Aufstand der Unterschicht“ an: Ein sozialer Aufstieg sei in Deutschland kaum mehr möglich, das Heer der Perspektivlosen wachse rasant. 20 Prozent der jungen Generation gebe die Gesellschaft von vornherein verloren – und die Politik schaue tatenlos zu, so ihr Vorwurf. Diese Thesen haben Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) provoziert. Im WELT-Streitgespräch diskutiert er mit der Buchautorin über die sozialen Probleme in Deutschland. Schäuble sieht nicht nur die Politik in der Pflicht.
DIE WELT: Frau Kloepfer beschreibt in ihrem Buch die Misere und die Ausweglosigkeit der Unterschicht anhand eines jungen Mannes. Er wurde von seiner alleinerziehenden Mutter vernachlässigt, ist schlecht ausgebildet, hat wenig Aussichten auf einen Arbeitsplatz und damit auf einen sozialen Aufstieg. Die Unterschicht wächst, die Mittelschicht schrumpft. Herr Schäuble, da haben Ihre Kollegen im Arbeits- und im Familienministerium noch viel zu tun. Wolfgang Schäuble: Nicht nur die. Gesellschaftliche Schieflagen gehen uns alle an. Eine soziale Grundbefähigung stellt schließlich eine Chance für eine langfristig wirksame Eindämmung unterschiedlichster Probleme dar. Wir müssen uns alle damit beschäftigen, dass junge Menschen eine Perspektive bekommen.

Inge Kloepfer: Genau diese Perspektive haben 20 Prozent der jungen Generation heute eben nicht. Diese Kinder und Jugendlichen wachsen in sozial schwachen Schichten auf ohne die Chance, da herauszukommen. Dass ein großer Teil der jungen Menschen in Deutschland keine Möglichkeit bekommt, seine Talente zu entwickeln, um im Erwachsenenalter dann ein Leben in Eigenregie zu führen, ist eine Katastrophe. In erster Linie für die Betroffenen, aber auch ökonomisch und gesellschaftlich. Es ist der große Systemfehler in unserer Gesellschaft. Sie sagen also, die Gesellschaft produziere systematisch eine Unterklasse. Was können wir dagegen tun?

Kloepfer: Ganz früh ansetzen. Bei werdenden oder jungen Eltern und ihren Neugeborenen. Sie brauchen ein Netzwerk von Betreuung und Hilfe. Es kann sehr hilfreich sein, zwei-, dreimal die Woche in Familien hineinzugehen, die in einer prekären Lage leben. Und zwar nicht als Familienhelfer, der erst kommt, wenn sich die Lage zuspitzt, sondern lange bevor eine Krise entsteht. Es muss dazu Angebote geben, bei denen Kinder jene Ressourcen bekommen, die sie in ihrer eigenen Familie aufgrund des Mangels an Geld, Bildung, Kontakten und dem Bewusstsein für Fehlentwicklungen nicht erhalten. Sei es Kraft, Zeit oder Zuwendung. Ein bestens ausgestatteter Ganztagskindergarten bringt da schon sehr viel. Steuern wir jetzt nicht gegen, werden wir immer mehr zu einer Ständegesellschaft: Oberschicht, Mittelschicht, Unterschicht – dort, wo man hineingeboren wird, bleibt man.

Schäuble: Na ja, das ist jetzt aber ein bisschen zugespitzt. Man hat doch sich selber gegenüber eine Verantwortung und muss etwas tun. Eine staatliche Verwaltung wird die Probleme in einer Familie nie lösen können und sollte auch nicht diesen Anspruch haben. Denen, die alleine nicht zurechtkommen, hilft die Solidargemeinschaft. Das ist klar. Aber wir dürfen auch nicht darauf verzichten zu fordern. Fördern und Fordern ist die Prämisse.

Die Politik hat über Jahrzehnte durch ein sehr enges soziales Netz das Fordern völlig vernachlässigt. Wie soll jemand den Anreiz haben, sich anzustrengen, wenn er von ganz klein auf lernt, dass Geld vom Staat kommt und nicht durch eigene Arbeit und Leistung? Schäuble: Es ist der Weg in die falsche Richtung, den Menschen zu suggerieren, sie seien für ihre Lebenssituation nicht selbst verantwortlich. Wir müssen zwei Dinge tun: Erstens, mehr hinschauen und engagieren bei Problemfällen. Aber wir dürfen es nicht so machen, dass die Menschen noch mehr unterfordert werden. Denn dann kriegen wir noch mehr von den Problemen. Deshalb mein zweiter Punkt. Wir müssen den Menschen sagen: Du muss dich auch selbst anstrengen! Und da die richtige Balance zu finden, das ist das Problem. Noch dazu in der Anonymität von Großstädten.

Kloepfer: Der junge Mann, den ich für mein Buch begleitet habe, war doch sogar im Fußballverein. Aber er hatte nie gelernt, sich an Regeln zu halten, und die Trainer waren überfordert, als sie ihm Grenzen. aufzeigen wollten.

Schäuble: Dann hat er bedauerlicherweise Pech gehabt. Wäre er an einen Trainer geraten, der ihn so richtig gefordert hätte, wäre er vielleicht auf einen prima Weg gebracht worden.

Kloepfer: Genau hier liegt der Systemfehler. Die Chance auf Erfolg im Leben hängt in erster Linie vom Glück ab, auf wen man trifft und in welche Schicht man hineingeboren wird. Wenn er das Glück gehabt hätte, in einer intakten Familie aufzuwachsen, dann hätte er mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit auch nicht den falschen Weg eingeschlagen. Er hätte vom ersten Tag an die Erfahrung gemacht: Streng dich an, dann hast du Erfolg, egal ob bei den ersten Schritten oder später in der Schule. Jetzt gibt es aber bestimmte Schichten, in denen diese Art der Erziehung gar nicht stattfindet. In denen Mütter und Väter selbst nie gelernt haben, dass man sich über den Erfolg eines Kindes freuen und sie permanent motivieren muss. Dieses Erziehungsunvermögen ist charakteristisch für bestimmte sozial schwache Schichten.

Also muss die Gesellschaft die Elternrolle übernehmen, weil die leiblichen Eltern komplettversagen?

Kloepfer: Wir sollten uns eingestehen, dass es Schichten gibt, die man wieder in die Lage versetzen muss, ihre Erziehungsaufgabe wahrzunehmen. Es gibt leider Familien, für deren Kinder der frühestmögliche Aufenthalt in einer Krippe ein Segen wäre. Allerdings kann man nicht verfugen, dass alle Kinder mit sechs Monaten in eine Kinderkrippe müssen. Da hätte ich was dagegen, wenn es mich persönlich dann trifft. Schäuble: Genauso wenig werden Sie sagen wollen, jede 16-jährige alleinerziehende Mutter muss unter ständige staatliche Betreuung gestellt werden.

Kloepfer: Nein, aber wenn ihr das Umfeld fehlt, wäre es schon sehr gut, dort jeden Tag vorbeizugehen und ihr bei der Erziehung zu helfen.

Schäuble: Im Zweifel wird staatliche Reglementierung die Probleme dieser Familien noch vergrößern. Was wir vielmehr brauchen, ist eine viel stärkere öffentliche Wahrnehmung. Was uns zu denken geben muss, ist doch die Tatsache, dass das, was Sie in Ihrem Buch schildern, kein Einzelschicksal ist.

Aber nur eine erhöhte Sensibilität für die Probleme sozial schwacher Familien hilft auch nicht weiter.

Schäuble: Nach meiner Überzeugung müssen wir schon früh öffentliche Einrichtungen anbieten. Das können staatliche oder kirchliche sein. Natürlich als Angebot an die Eltern.

Kloepfer: Aber diese Angebote müssen wahrgenommen werden. Aus Sicht der Kinder wäre es sicher gut, die Sozialhilfe der Familie damit zu verbinden, dass die Eltern die Kinder in einen Kindergarten schicken. Ein womöglich überfälliger Paradigmenwechsel. Schäuble: Das kann man so vermutlich nicht reglementieren. Aber man kann Einfluss nehmen und so den Kindern Chancen eröffnen. Kloepfer: Wie wollen Sie Einfluss nehmen? Eine sehr früh ansetzende Bildungsbeteiligung müsste eine Bedingung für den Empfang von Sozialtransfers sein. Um das umzusetzen, muss sich die Politik etwas einfallen lassen.

Schäuble: Es ist unumstritten, dass wir uns allein aus demografischer Sicht keine Bildungsdefizite leisten können. Und auf dem Bildungsgipfel in Dresden haben wir zum Beispiel auch beschlossen, dass es bis 2012 eine bedarfsgerechte Sprachförderung vor der Einschulung geben wird.

Es gab seit Gründung der Bundesrepublik vor 60 Jahren lange die Perspektive auch für die Familien ganz unten, dass man aufsteigen kann. Die Eltern hatten immer die Aussicht, ihre Kinder so zu erziehen, dass sie es einmal besser haben werden als sie selbst. Das ist heute offenbar nicht mehr so. Es fehlt die gesellschaftliche Entwicklungsperspektive. Wie kann man diese wieder schaffen, ohne dass der Staat überreglementiert?

Kloepfer: Lassen Sie es mich an einem Beispiel erklären: Wenn sozial schwache Kinder Hausaufgabenpaten bekommen, bleiben sie weniger häufig sitzen. Wenn dann Mitbürger und Staat gemeinsam am Ball bleiben, mit privatem Engagement auf der einen und einem faireren und moderneren Schulsystem auf der anderen Seite, dann stehen die Chancen auf einen sozialen Aufstieg der Kinder ganz gut.

Schäuble: Wahrscheinlich muss man bei vielen Eltern schon Versäumnisse aus deren eigener Kindheit nachholen. Es ist daher wichtig, dass wir institutionelle Anstöße geben, um die Verbindung zu den Generationen wiederherzustellen. Und zwar nicht nur in den Familien, sondern auch zwischen Jüngeren und Älteren ganz allgemein. Egal, ob es der Hausaufgabenpate oder der Fußballtrainer ist. Es gibt doch genügend Arbeitslose oder Rentner, die klagen, sie wüssten nicht, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen. Daraus könnte viel entstehen. Das kann nur nicht alles der Staat administrieren. Kloepfer: Es gibt viele Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren. Und es könnte noch viel mehr passieren. Warum gehen Gymnasiasten nicht zum Beispiel mal in Grundschulen in sozial schwache Gebiete und geben Nachhilfe? Trotzdem: Der Staat bleibt in der Verantwortung, er hat die Gestaltungsmöglichkeiten und das Geld. Für Sie, Herr Schäuble, muss es doch eine bittere Erkenntnis sein, dass die Familie in weiten Teilen der Gesellschaft kein sich selbst tragendes Unternehmen mehr ist. Ihr muss von außen auf die Sprünge geholfen werden.

Schäuble: Ich bin kein Freund von Verallgemeinerungen. Sicher, unsere Gesellschaft verändert sich. Aber wir haben die Debatte längst hinter uns, bei der man nicht für Ganztagskindergärten und -schulen sein darf. Wir brauchen mehr Einrichtungen, die die Familien ergänzen. Nur darf das nicht alles der Staat machen. Die Gesellschaft muss sich dafür selbst verantwortlich fühlen. Genauso, wie den Betroffenen selbst klar werden muss, dass sie auch in der Pflicht sind. Frau Kloepfer schaut in ihrem Buch ins Jahr 2020. Die Unterschicht ist dermaßen verarmt und auch so groß geworden, dass sich ein bürgerkriegsähnlicher Zustand zusammenbraut. Sind wir in elf Jahren wirklich an diesem Punkt?

Schäuble: Nein. Indem Fehlentwicklungen sichtbar werden, wachsen die Gegenkräfte doch schneller, als man glaubt. Schauen Sie nur meine eigene Partei an. Es gab die größten Widerstände gegen Ganztagsschulen. Mittlerweile befürworten wir sie. Manchmal dauert es halt ein wenig länger, bis Veränderungen greifen. Aber es bewegt sich doch. Ich blicke immer positiv in die Zukunft. Ich glaube nicht an ein negatives Szenario im Jahr 2020, gerade weil solche Bücher wie das von Frau Kloepfer die Gesellschaft wachrütteln.

Das Gespräch moderierten Louis Posern und Thomas Schmid. forum@welt.de

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