Laudatio auf Osman Kavala als Preisträger des ifa-Preises 2022 am 10. November 2022



Es gilt das gesprochene Wort

Anrede,
wenn wir vor der gegenwärtigen Weltlage die Augen nicht verschließen, sehen wir eine Besorgnis erregende Gleichzeitigkeit veritabler Krisen, die sich gegenseitig verstärken. So haben uns die letzten Jahre darüber belehrt, was die Globalisierung, und der technische Fortschritt, insbesondere im Bereich moderner Kommunikationstechnologien, die wir lange Zeit für eine eher vorteilhafte Entwicklung hielten, tatsächlich auch sind: ein weltweiter Resonanz- und Verstärkungsraum unterschiedlichster Krisen. Um nur die größten zu nennen: Klima, Corona, Krieg in der Ukraine und diejenige, die ich persönlich mit der größten Sorge sehe: die Krise der Demokratie. Wir beobachten sie in Europa, nehmen Sie nur die Halbwertzeit einiger europäischer Regierungen, aber auch in den USA, wo wir es nie für möglich hielten, dass der Wechsel von einem Präsidenten zum anderen in einem veritablen Putschversuch endet. Beiderseits des Atlantiks sahen und sehen wir demokratisch gewählte Regierungen am Werk, die Mittel und Institutionen, die sie ins Amt brachten, auszuhöhlen und zu zerstören suchen. Besonders schmerzlich ist es, solche Prozesse, die auch in der französischen und der deutschen Geschichte – bei uns mit besonders fatalen Folgen – vorgekommen sind, in der ältesten neuzeitlichen Demokratie, den Vereinigten Staaten, mit ansehen zu müssen.

Gleichzeitig sind das Erbe der amerikanischen und der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte, Demokratie – überall auf der Welt Sehnsucht der Menschen und Befürchtung der Mächtigen zugleich. Deshalb führt Putin Krieg, deshalb unterdrückt Xi Hongkong und deshalb zerschlagen die Mullahs im Iran auf brutale Weise den mutigen Protest vor allem der Frauen und der Jungen. Sie wollen keine funktionierende Demokratie – nicht einmal im Ansatz. Dort, wo demokratische Strukturen historisch tiefer verwurzelt sind, geht es nicht ganz so einfach. Dort beginnt es mit der Unterminierung des Wahlrechts, setzt sich fort über eine antiliberale Gesetzgebung und mündet in massiver Repression der freien Meinungsäußerung und Unterdrückung der politischen Opposition. Ich denke da eben auch an die Türkei – ein Land, das zu den ältesten politischen Freunden und Bündnispartnern Deutschlands gehört. Es wird Sie nicht erstaunen, wenn ich dabei weniger an die Waffenbruderschaft des Deutschen und des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg und an den Bau der Bagdadbahn denke. Ich denke vielmehr an die sehr alten und wichtigen Wirtschaftsbeziehungen beider Nationen. Ich denke an die Wissenschaftsbeziehungen zwischen der deutschen und der türkischen Archäologie, für die Ortsnamen wie Didyma, Milet und Pergamon stehen.
Vor allem aber erinnere ich daran, dass in der Zeit des Nationalsozialismus die Türkei ein sicherer Hort vieler deutscher Künstler und Gelehrter war, unter ihnen Erich Auerbach und Eduard Zuckmayer, Alfred Kantorowicz und Friedrich Dessauer – nicht zuletzt Edzard Reuter und sein Vater Ernst, der spätere Oberbürgermeister Berlins, der 1948 im Kampf um Freiheit und Demokratie die Alliierten in die Pflicht nahm und zugleich den Berlinern Mut machte, einem harten Winter in der Blockade zu trotzen: „Ihr Völker der Welt …. Schaut auf diese Stadt“.
Eine Rede, die wie nur wenig andere die Geschichte Berlins prägte. Ankara und Istanbul waren Zufluchtsstätten der Verfolgten, Inseln der Freiheit in einer zunehmend von Diktatur und Terror bedrohten Welt. Werte der Demokratie, im Nachbarland Griechenland zweieinhalb Jahrtausende früher erfunden, überlebten im Exilland Türkei und fanden zum Glück erneut Einzug in die deutsche Nachkriegsgesellschaft.
Anders herum hat die Türkei in der Gegenwart eine bedeutende Stellung im Leben unseres Landes, nicht nur aufgrund der Tatsache, dass sie nach den Deutschen die größte ethnische Gruppe des Landes stellt. Blicken wir neben der rein quantitativen Betrachtung nur kurz auf die türkischstämmigen Leuchttürme der deutschen Gesellschaft: Cem Özdemir, Shermin Langhoff, Denis Yücel, Fatih Akin, Feridun Zaimoglu oder die diesjährige Büchner-Preisträgerin Emine Sevgin Özdamar. Und natürlich die Biontec-Gründer Özlem Türeci und Ugur Sahin. Was wären wir ohne ihre herausragenden Beiträge zu unserer Politik, Kunst und Wissenschaft?
Und auf der anderen Seite des Bosporus? Was wären wir, was wären unsere kulturellen Beziehungen zur Türkei, hätten wir nicht ebenso Freunde und Partner dort? Da denke ich zum Beispiel an den Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk, der erst unlängst in einem Interview in der Türkei die Inhaftierung des Mannes kritisiert hat, wegen dem wir heute zusammen gekommen sind – und dem das Institut für Auslandsbeziehungen seinen Preis für den Dialog der Kulturen verleiht.
Niemand könnte also geeigneter sein, diesen Preis entgegenzunehmen, als der, der ihn heute nicht entgegennehmen kann: der türkische Mäzen und Kulturförderer Osman Kavala.

Wer ist dieser Mensch, wer ist Osman Kavala, und warum ist er heute nicht hier? Seit vierzig Jahren fördert Osman Kavala zivilgesellschaftliche und kulturelle Initiativen, vor zwanzig Jahren gründete er zu diesem Zweck eine Kulturstiftung, Anadolu Kültür. Ihr anfängliches Ziel war es, die anatolische Provinz stärker mit den alten Zentren Ankara und Istanbul zu verbinden und damit eine, wie die FAZ schrieb, „uralte Dichotomie“ zu überwinden. Kavala und seine Stiftung beließen es nicht dabei, den Osten der Türkei mit den Metropolen des Westens zu vernetzen. In enger Kooperation mit städtischen Initiativen und NGOs unternahm es Anadolu Kültür, die Bewohner grenznaher Städte des Ostens wie Kars mit den armenischen oder Diyabarkir mit den kurdischen Wurzeln ihrer Kultur bekannt zu machen. Auch die materiellen Zeugnisse dieser Kulturen auf türkischem Boden versuchte die Stiftung zu schützen und zu erhalten.

Anadolu Kültür förderte literarische Ereignisse und Kunstausstellungen, Musik und Theater, unterstützte die Arbeit von Künstlerinnen und Künstlern und die Ausbildung von Kindern aus armen Verhältnissen – insofern ist es auch nur folgerichtig, dass die finanzielle Förderung im Rahmen des Preises einer Organisation zugutekommt, die sich für Rechte und Freiheiten von Kindern und Jugendlichen einsetzt!
Im Zentrum der Stiftungsarbeit stand dabei immer das friedliche Zusammenleben mit den verschiedenen Ethnien innerhalb der türkischen Nation und an ihren Rändern: den Griechen, den Armeniern, den Kurden, den Jesiden. In einem Umfeld, in dem Kulturen – in Verbindung mit Religionen – eine so eminent politische und zum Teil agonale, einander bekämpfende Bedeutung haben wie auf dem Boden der Türkei, kann Kulturförderung nicht unpolitisch sein.
Denn wo doch schon in freien Ordnungen der Gleichklang aus staatlicher und privater Kulturförderung so unerlässlich ist für den demokratischen Diskurs, da ist der Beitrag von Mäzenen wie Kavala nicht hoch genug zu schätzen, in einem System, das Kunst und Kultur denn oft für sich und seine propagandistischen Zwecke zu vereinnahmen sucht. In diesen repressiven Systemen sind die private Förderung von Kunst und Kultur mehr denn je gefragt als Nährboden für mündiges, kritisches und freies Denken. Wie schön, dass wir heute auch noch das Lied „Die Gedanken sind frei“ hören werden …
Zu den Orten, an denen Anadolu Kültür Kulturförderung betrieb, hatten auch die Gefängnisse der Türkei gehört, sogar die gefürchteten Hochsicherheitsgefängnisse des Typs „F“. Auch die Insassen von Haftanstalten sollten, so Kavala, nicht Isolation erfahren, sondern Partizipation. Seit fünf Jahren, seit dem 18. Oktober 2017, befindet sich Osman Kavala selbst in türkischer Haft, die längste Zeit davon in Untersuchungshaft, in Folge einer rechtsstaatlichen Farce aus Freilassung und Wiederverhaftung unter fadenscheinigen Gründen, bis Kavala zuletzt erneut wegen versuchten Umsturzes der Regierung im Jahr 2013, zu lebenslanger Haft ohne Möglichkeit der Bewährung verurteilt wurde. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Beistand erfuhr Osman Kavala über die Jahre hinweg von unterschiedlichen Personen und Institutionen, vom Ministerkomitee des Europarats über Vertreter mehrerer deutscher Mittlerorganisationen und Stiftungen bis hin zu den zehn Botschaftern der Vereinigten Staaten, Kanadas, Neuseelands und verschiedener europäischer Staaten, die Kavalas sofortige Freilassung forderten. Auch Außenministerin Annalena Baerbock fand nach dem Urteil vom April dieses Jahres zurecht deutliche Worte, als sie die rechtsstaatlichen Standards der Türkei als Mitglied des Europarats anmahnte.
Und Kavalas Anwälte beim EGMR verweisen ebenfalls richtigerweise darauf, dass sein Fall zum Lackmustest des Ansehens der Türkei in Europa geworden ist – gar nicht zu sprechen vom einmal avisierten EU-Beitritt.

Wir sollten uns denn auch im Verhältnis zur Türkei unter Erdogan keinen Illusionen mehr hingeben: EU-Beitrittsperspektiven oder selbst privilegierte Partnerschaften scheinen aktuell in weiter Ferne. Man muss anerkennen, welche Leistung die Türkei bei der Unterbringung und Versorgung Millionen Geflüchteter erbringt; das gibt es für Europa aber auch nicht zum Nulltarif. Ansonsten ist das Verhältnis belastet durch innenpolitische Repression und außenpolitisches Säbelrasseln gegenüber einem NATO Verbündeten. Ein Zeichen der Stärke, die Freilassung Kavalas im Sinne der Rechtsprechung des EGMR, könnte aber zumindest wieder einen Fuß in die Tür einer besseren und strategisch so wichtigen Partnerschaft setzen – und die Pfeiler der beidseitig so elementaren Brückenfunktion der Türkei stärken.
Meine Damen und Herren: Ich habe zu Beginn darüber gesprochen, wie sich gegenwärtig verschiedene Krisen überlagern und welche mir persönlich die größten Sorgen macht: die Krise der Demokratie. Mit den Autokraten, die auch in Europa immer mehr den Ton angeben möchten, können wir noch fertigwerden – solange wir die Demokratie wollen. Demokratie gibt es aber nicht zum Nulltarif. Die Bürgerinnen und Bürger, so habe ich an anderer Stelle (FAZ 14. 10. 2022) kürzlich gesagt, müssen sich für die Demokratie einsetzen.

Wir haben nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Demokratie ohne Demokraten geht nicht. Bitte belehren Sie mich, wenn ich mich irre, aber ich verstehe den ifa-Preis für den Dialog der Kulturen in erster Linie als einen Preis für die Demokratie und für diejenigen, die sich mit Mut und Überzeugung für sie einsetzen. Wenn Sie mir in dieser Interpretation Ihres Preises folgen, dann fahre ich fort und sage: Sie hätten ihn keinem Würdigeren verleihen können als Osman Kavala.