Laudatio anlässlich der Verleihung der „Goldenen Verdienstmedaille für Versöhnung und Verständigung unter den Völkern“ der Senioren-Union der CDU an Lech Walesa am 26. September 2022 in Berlin



Anrede,

Lech Walesa ist eine der prägenden Figuren, die das friedliche Ende des Kalten Krieges bewirkt haben. Das 20. Jahrhundert mit seinen zwei Weltkriegen, dem mörderischen Ringen zwischen dem Nationalsozialismus und dem totalitären Sozialismus, der Ost-West-Teilung und der Abwesenheit von heißem Krieg jedenfalls unmittelbar zwischen den Weltmächten durch die gegenseitig gesicherte atomare Vernichtung – MAD – wie sollte das ohne eine die Menschheit auslöschende Katastrophe je zu Ende gehen?

Wir Deutsche denken an Gorbatschow und an das Wunder der friedlichen Revolution, aber die Ursachen reichen weiter zurück. Der 17. Juni 1953 mag noch ein Sonderfall sein, weil Deutschland nach der bedingungslosen Kapitulation in vier Besatzungszonen aufgeteilt war. Der Aufstand der Ungarn wurde 1956 durch die Truppen der roten Armee der Sowjetunion brutal niedergeschlagen. Die Polen waren genauso rebellisch, aber sie vermieden die militärische Intervention. Ahnten sie schon damals, dass in dieser weltpolitischen Konstellation Befreiung nur unblutig, also am Ende durch die richtige Balance zwischen Widerstand und Verhandlung, gelingen konnte? Abgefunden mit der nationalen Unfreiheit haben sie sich jedenfalls nie. Der Prager Frühling 1968 und die Niederschlagung, an der sich die Polen wie die Nationale Volksarmee der DDR auf Druck Moskaus beteiligen mussten, führten zur Verkündung der Breschnew Doktrin, mit der die Souveränität sozialistischer Länder begrenzt wurde, in dem sich die Sowjetunion militärisches Eingreifen bei Gefährdung der sozialistischen Alleinherrschaft vorbehielt. Gierek, Gomułka, Jaruzelski, die sozialistischen Machthaber in Polen, alle versuchten sie dann auch irgendwie, die sozialistische Alleinherrschaft ohne militärische Intervention und ohne Bürgerkrieg zu sichern. Dauerhafte Stabilität gab es kaum.

Walesa, 1943 geboren, arbeitete seit 1967 bei der Danziger Werft und nahm schon an den Streiks und Protesten 1970 teil. Nach deren Niederschlagung hoffte Walesa wohl, durch Verzicht auf radikale Zuspitzung und Zusammenarbeit mit der Staatsmacht die Lebensbedingungen und die Arbeitnehmerrechte zu verbessern. Er gab das bald auf, aber es hat ihm später schwere Verdächtigungen eingetragen, er sei ein Agent des Sicherheitsdienstes gewesen. Vielleicht hat er zu lange versucht, es geheim zu halten. Aber Historiker haben rekonstruieren können, dass sich Walesa jedenfalls nichts Verräterisches zu Schulden kommen ließ.

1978 wurde Kardinal Wojtyła Papst, und das ist die andere große historische Figur aus Polen in dieser Zeit. Seine Pilgerreise durch Polen 1979 veränderte nicht nur sein Heimatland.

Und dann war alles bereitet für die große Streikbewegung in Danzig im August 1980, und der charismatische Arbeiterführer Lech Walesa betrat die Bühne nicht nur der nationalen, sondern der Weltpolitik. 1976 war er wegen Beteiligung an Streikaktionen fristlos entlassen worden – obwohl er eigentlich als Betriebsrat unkündbar war. Nun war seine Wiedereinstellung eine der Forderungen der Streikbewegung, und er trat an die Spitze der überregionalen Streikkomitees. Am 13. Dezember 1981 verhängt die Staatsführung überraschend landesweit das Kriegsrecht; an die Stelle des Dialogs und Ausgleichs tritt eine Repressions- und Verhaftungswelle, in deren Zentrum die Repräsentanten der Solidarność stehen. Walesa wird unter Hausarrest gestellt und kommt erst Ende 1982 wieder frei.
Eine angebotene Kooperation mit den Machthabern um General Jaruzelski lehnt Walesa ab. Im Juli 1983 wird er von Papst Johannes Paul II. während dessen zweiter Polenreise zum Gespräch empfangen. Im Jahr 1983 bekommt Walesa den Friedensnobelpreis verliehen; an der Verleihungs-zeremonie in Oslo nimmt er nicht teil, sondern bleibt in Polen, um eine Ausbürgerung nicht zu riskieren. In der Begründung des Nobelpreiskomitees heißt es: „Bei dieser Entscheidungsfindung hat das Komitee Walesas Beitrag mit einbezogen, der durch beträchtliches persönliches Opfer entstanden ist, um das Recht der Arbeiter auf Gründung ihrer eigenen Organisationen zu gewährleisten.

Lech Walesas Aktivitäten waren gekennzeichnet von einer Entschlossenheit, die Probleme seines Landes durch Verhandlungen und Kooperation zu lösen, ohne auf Gewalt zurückzugreifen. Er hat versucht, einen Dialog zwischen der von ihm vertretenen Organisation – Solidarność –, und den Autoritäten herzustellen. Das Komitee betrachtet Walesa als einen Verfechter der aktiven Sehnsucht nach Frieden und Freiheit, die trotz ungleicher Bedingungen unbesiegt in allen Völkern dieser Welt besteht.“

Das unerschütterliche Eintreten für Freiheit und Selbstbestimmung und zugleich die Weitsicht zu verhandeln und der Mut zum Kompromiss – das ist das Besondere an Lech Walesa, das durch das Nobelpreiskomitee zu Recht gewürdigt worden ist, und von dem wir in der friedlichen Revolution in der DDR und der Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit profitiert haben – aber das war eben schon zu Zeiten von Michail Gorbatschow, und es gab keine Breschnew Doktrin mehr.

Dass Mazowiecki und Walesa ab 1990 nicht mehr zueinander fanden und dass Walesa als Präsident von 1990 bis 1995 nicht seine Vorstellungen verwirklichen konnte, so dass schon 1993 im Parlament und 1995 bei der Präsidentschaftswahl die Postkommunisten die Mehrheit erzielten, das ändert am historischen Verdienst Walesas so wenig wie an der zentralen Rolle Polens für die europäische Einheits- und Freiheitsgeschichte. So wie es Lech Walesa in seiner Nobel-Lecture ausgedrückt hatte:
„Ich gehöre einer Nation an, die in den letzten Jahrhunderten viele Schwierigkeiten und Rückschläge erlebt hat. Die Welt reagierte mit Stille oder bloßem Mitgefühl, als polnische Grenzen von einmarschierenden Armeen überquert wurden und der souveräne Staat brutaler Gewalt erliegen musste. Unsere nationale Geschichte hat uns so oft mit Bitterkeit und dem Gefühl der Hoffnungs-losigkeit erfüllt. Aber das war vor allem eine große Lektion in Hoffnung. Ich danke Ihnen für diesen Preis und möchte zu allererst meine Dankbarkeit und meine Überzeugung zum Ausdruck bringen, dass es der Stärkung der polnischen Hoffnung dient. Die Hoffnung derjenigen Nation, die sich während des 19. Jahrhunderts nicht einen Moment lang mit dem Verlust der Unabhängigkeit abgefunden und für ihre eigene Freiheit und gleichzeitig für die Freiheit anderer Nationen gekämpft hat.“

Walesa – der Freiheitskämpfer für Nation und Europa – kann nur aus der Geschichte seines Heimatlandes verstanden werden. Und das gilt auch heute.

Putins Überfall auf die Ukraine hat endlich auch im Westen Vielen die Augen geöffnet für die Gefahr, dass sein Gerede vom Zerfall der Sowjetunion als der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts in Wahrheit blutiger Ernst war. Jetzt endlich müssen wir auf unsere Partner im Osten hören. Schon nach dem Überfall auf Georgien sagte der damalige polnische Staatspräsident Lech Kaczyński „erst Georgien, dann die Ukraine, dann Moldawien und dann die baltischen Staaten und danach Polen“. Und wir haben es nicht ernst genommen. Die frühere Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer sagte nach dem Überfall auf die Ukraine zurecht: „Ich bin so wütend auf uns.
Wir haben alles gewusst, und wir wollten es nicht sehen. “Gegen den Widerstand unserer europäischen, auch amerikanischen Partner haben wir nicht nur mit Nord Stream 1 und 2 unsere Abhängigkeit von russischen Energielieferungen immer weiter erhöht. Auch die Klage unserer osteuropäischen Partner in der EU, dass sie sich nicht auf gleicher Augenhöhe wahrgenommen sehen, sollten wir ernst nehmen. Wir kennen das aus unserem vereinten Deutschland mit den neuen Ländern. Ministerpräsident Morawiecki sprach kürzlich von einer Oligarchie in Europa, und er meinte damit neben Brüssel vor allem Deutschland und Frankreich. Dabei leistet Polen – wie andere Osteuropäer – jedenfalls im Vergleich zu anderen EU-Mitgliedern in der Unterstützung der Ukraine und der Hilfe für Ukrainer Vorbildliches. Wenn Europa einen festen Kern braucht, was ich schon vor fast 30 Jahren mit meinem kürzlich verstorbenen Freund Karl Lamers gefordert habe, dann gehört neben Frankreich und Deutschland ganz bestimmt Polen dazu, so wie wir uns das eigentlich schon im Weimarer Dreieck vorgestellt hatten.
Wie schon gesagt: Deutschland und Europa verdanken Polen viel in der jüngeren Vergangenheit und schon lange zuvor in der Geschichte. Auch das können wir von Lech Walesa lernen. Niemals aufgeben, und doch auch zu gewaltfreier Zusammenarbeit immer bereit sein. Sicherheit und Entspannung, Abschreckung oder Verteidigungsfähigkeit und Bereitschaft zur Partnerschaft, neu ist das nicht, aber so aktuell wie eh und je. Nur so werden Frieden und Freiheit zu dauerhafter Stabilität. Dazu brauchen wir Polen, und deshalb ehren wir heute Lech Walesa.