Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble im Deutschlandfunk-Interview der Woche
Stephan Detjen: Herr Minister, es ist Sommer. Für deutsche Urlauber ist das die Reisezeit, in einem ganz anderen Sinn auch wieder für Zehntausende verzweifelte Afrikaner: Unsere Nachrichten vermelden in diesen Tagen wieder – fast routinemäßig – Tote, Ertrunkene, Gestrandete vor den Küsten Europas.
Vier Tote, mehr als zwei Dutzend Vermisste vor Lampedusa, vier Tote vor der Kanareninsel La Gomera, vierzehn Tote vor der Küste von Motrill in Südspanien – das sind nur ein paar der Meldungen, die uns allein in der vergangenen Woche erreicht haben. Hierzulande, das ist mein Eindruck, scheint es niemanden mehr wirklich aufzuwühlen. Geht Ihnen das anders?
Wolfgang Schäuble: Nein, jeder Mensch, der ertrinkt, ist einer zu viel. Die sind alle Opfer schlimmer, krimineller Schleuserbanden, denn wenn Sie sich einmal anschauen, welche Seelenverkäufer aus organisierten Verbrecherbanden die Menschen da anlocken, um sie auf eine ungewisse Reise – sei es über den Atlantik auf die Kanarischen Inseln, sei es über das Mittelmeer – zu bringen, dann ist das gewissenlose organisierte Kriminalität.
Die Menschen ertrinken ja nicht, weil sie nicht in Europa landen können, sondern weil sie sich auf einen unsicheren Weg machen. Wir können ja nicht sagen, es können alle Menschen aus aller Welt nach Europa kommen, sondern das muss ja geregelt sein, wir haben Visa-Bestimmungen und dergleichen. Und das organisierte Verbrechen, die Schleuserbanden versuchen, das zu umgehen, und opfern gewissenlos die Menschen.
Wir retten, wo wir können. Wir haben auch Hubschrauber der Bundespolizei bei Frontex-Operationen im Einsatz, die haben den klaren Auftrag, wo immer geholfen werden kann, zu helfen, zu retten. Es ist klare Politik aller europäischen Innenminister, Menschen nicht ertrinken zu lassen, aber gleichzeitig die illegale Einwanderung und die Schleuserkriminalität zu bekämpfen.
Detjen: Aber es nicht nur ein Phänomen von Kriminalität. Das ist die Situation, in der wir mit dem Armutsgefälle in der Welt konfrontiert sind. Es ist noch nicht allzu lange her, da haben wir in Europa fast hochmütig auf die Grenze zwischen den USA und Mexiko geschaut, wo das Problem seit Jahrzehnten Gang und Gäbe ist – ein Armutsgefälle und die sich daraus ergebende Migrationsströmung.
Schäuble: Wir haben natürlich ein Armutsgefälle in der Welt. Wir haben 800 Millionen Menschen, die bittere Not leiden, die wirklich arm sind. Wir führen hier ganz andere Armutsdiskussionen in Deutschland. In Deutschland ist man arm nach der Statistik, wenn man 40 Prozent des Durchschnittseinkommens hat. In der Welt ist man arm, wenn man nicht mehr als einen Dollar am Tag zur Verfügung hat. Und davon gibt es 800 Millionen Menschen, nur die können wir nicht alle in Europa aufnehmen. Und deswegen ist Entwicklungszusammenarbeit wichtig, deswegen ist es wichtig, dass wir uns gegen die Veränderung des Weltklimas, die neue Katastrophen verursachen, wehren. Deswegen ist es wichtig, dass die globale wirtschaftliche Entwicklung vorangeht, dass wir an dem Welthandel teilnehmen.
Aber deswegen wird natürlich auch die Energie knapper. So hängt das zusammen, da müssen wir unsere Beiträge leisten. Aber Menschen, die ertrinken, die sind Opfer von kriminellen Schleuserbanden. Die weltweite Armut und die ungleiche Verteilung von Wohlstand in der Welt sind Probleme der Weltpolitik insgesamt. Da können wir uns gar nicht genügend engagieren, das ist wahr. Aber es gibt keinen unmittelbaren Bezug dazu, dass Menschen, die von kriminellen Schleuserbanden auf illegale Weise nach Europa gebracht werden sollen, zu Tode kommen. Das ist kriminelles Verhalten.
Detjen: Die Reaktion Europas, das ist – Sie haben es angesprochen – Frontex. Das steht für eine mit polizeilichen und militärischen Mitteln durchgeführte Sicherung der Grenzen, der Außengrenzen Europas. Es sind in der Tat in diesem Jahr auch weniger Armutsflüchtlinge, Migranten, die versuchen, nach Europa zu kommen. Möglicherweise werden es auch weniger Tote sein in diesem Jahr, weil Europa sich erfolgreich eingemauert hat.
Schäuble: Nein, das ist nicht richtig. Frontex ist auch nicht eine militärische Absicherung europäischer Grenzen, sondern der Tatbestand ist anders. Wir kontrollieren innerhalb Europas an Grenzen nicht mehr. Ende vergangenen Jahres haben wir die letzten Grenzkontrollen an deutschen Landgrenzen abgeschafft – an der polnischen und tschechischen Grenze. Das heißt, Sie können heute von Portugal bis Finnland ohne eine Grenzkontrolle in Europa reisen. Das ist ein riesiger Fortschritt.
Detjen: Um so massiver aber werden die Kontrollen an den Außengrenzen.
Schäuble: Nicht massiver, nicht massiver. Sondern natürlich muss an den Außengrenzen kontrolliert werden, da wir ja noch nicht weltweit keine Grenzkontrollen mehr haben. Das, was wir bisher an Binnengrenzen in Europa gemacht haben, wird an Außengrenzen gemacht, nicht mehr und nicht weniger. Und Frontex sorgt dafür, dass diejenigen, die Außengrenzen kontrollieren – etwa Polen an der Grenze zur Ukraine -, das auf dem Standard macht, auf dem wir bisher die deutsch-polnische Grenze kontrolliert haben – ein einheitlicher Standard, dass auch Polen alle Informationen hat: Wer hat ein Visum nach Spanien oder nach Deutschland, nicht nur nach Polen?
Es ist nicht eine militärische Absicherung Europas, wir bauen keine „Festung Europa“, das ist einfach ein falsches Bild. Europa bleibt offen, aber die Menschen in Europa erwarten schon, wie die Menschen in allen Teilen der Welt, dass diejenigen, die die staatliche Verantwortung haben, einen gewissen Einfluss darauf haben – wer darf rein und wer darf nicht rein. Das heißt, wir steuern Zuwanderung, wir haben eine Visa-Politik. Das ist weltweit überall dasselbe.
Frontex hat lediglich die Aufgabe, ein einheitliches Niveau der Außenkontrollen zu sichern, nicht etwa, die Kontrollen an der Außengrenze zu verstärken. Das ist bei der Natur der europäischen Außengrenzen ja auch gar nicht möglich.
Detjen: Es gibt aber immer wieder die Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen, von Flüchtlingshilfsorganisationen, dass im Rahmen der von Frontex ja nur koordinierten Missionen, vor allen Dingen im Mittelmeer, eben nicht nur kontrolliert wird, sondern dass Flüchtlinge zum Teil mit rigiden Mitteln wieder zurückgewiesen werden, dass ihnen Nahrung genommen wird, dass ihnen Treibstoff genommen wird und sie einfach wieder zurückgeschickt werden in die Heimat, anstatt sie zu retten.
Sie haben eben gesagt: Wir tun alles, um zu gewährleisten, dass gerettet wird. Was konkret tun sie da?
Schäuble: Also, natürlich versuchen wir, zu verhindern. Wir versuchen, das ist gemeinsame europäische Politik, den Schleuserbanden das Geschäft schwerer zu machen. Das heißt, wir versuchen, durch Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern zu verhindern, dass so viele Menschen auf so unverantwortliche Weise aufs Meer gebracht werden. Wir wissen ja gar nicht in Wahrheit, wie viele umkommen. Die Dunkelziffer mag hoch sein.
Ich sage noch einmal, wenn man sich solcher Seelenverkäufer, auf die die Menschen gebracht werden, einmal genau anschaut, dann sieht man, wie menschenverachtend diese Kriminellen sind. Das müssen wir tun, indem wir illegal Zugewanderte möglichst schnell wieder zurück bringen in ihre Heimatländer. Denn dann werden die nächsten sich solchen kriminellen Organisationen nicht mehr anvertrauen. Dann versuchen wir auch darauf hinzuwirken, dass die Küstenstaaten kontrollieren, dass die Leute nicht illegal aufs Meer gehen. Wenn sie erst einmal auf dem Meer sind, muss man sie retten. Man kann sie nicht zurückweisen und die Gefahr eingehen, dass sie ertrinken.
Wenn sie illegal an Land kommen, lässt man sie natürlich nicht ins Land, sondern man sistiert sie, weil man sie ja wieder zurückführen will. Andernfalls könnten wir sie ja aufgeben und sagen: Na ja, wer kommen will nach Europa, soll kommen. Aber wir haben sechseinhalb Milliarden Menschen auf der Welt. Davon lebt ein Großteil nicht in solchen Wohlstandsverhältnissen wie wir. Wenn die alle nach Europa kommen, das wäre völlig unerträglich.
Also, wir brauchen schon eine gemeinsame europäische Politik der Steuerung legaler Migration, auch der Hilfe für Flüchtlinge, aber eben der Bekämpfung illegaler Migration. Auf diesen drei Säulen beruht unsere gemeinsame europäische Politik. Ob die von jedem Mittelmeeranrainer genau so exekutiert wird, wie ich das hier sage, kann ich letztlich nicht sagen. Ich weiß, wenn wir uns an Frontex-Aktionen etwa mit Hubschraubern der Bundespolizei beteiligen ist die klare Auftragslage – und daran halten sich die Polizisten der Bundespolizei – wo immer sie können retten sie Menschenleben.
Und ich bin mir auch mit allen Landesinnenministern einig, dass die dann auch notfalls in Deutschland aufgenommen werden, dass wir nicht etwa sagen: Um Gottes Willen, lasst uns die nicht retten, sonst müssen wir die nachher nach Deutschland nehmen, weil Malta sagt, wir haben schon so viele Flüchtlinge oder so.
Detjen: Sie sagen aber, Sie können nicht gewährleisten, dass das wirklich alle europäischen Staaten – und Frontex ist ein europäisches Projekt – so durchführen. Im Augenblick ist ja nicht mal gewährleistet, dass Seeleute, dass zivile Kapitäne die Schiffbrüchigen aus den Schlauchbooten, aus den überfüllten Booten aus dem Mittelmeer fischen, vor Strafverfolgung sicher sind.
In Italien steht seit mehr als zwei Jahren der ehemalige Chef der deutschen Hilfsorganisation Cap Anamur, Elias Bierdel, vor einem Strafgericht und muss sich gegen den Vorwurf des Menschenschmuggels verteidigen, weil er Schiffbrüchige auf seinem Schiff aufgenommen hat.
Schäuble: Na ja, ich will mich nicht in ein Verfahren einmischen. Ganz so einfach ist es auch nicht. Man muss schon sehen, dass diejenigen, die gewissermaßen sagen „Wir bringen euch nach Italien“ oder so, aus der Sicht der italienischen Justiz natürlich Beihilfe zu dem leisten, was man illegale Migration oder auch Schleuserbanden nennt.
Ich bin gar nicht sicher, ich dachte, das Verfahren sei abgeschlossen gegen Herrn Bierdel. Aber ganz richtig ist es wohl auch nicht gewesen, was Cap Anamur damals gemacht hat. Es gab ja auch viele interne Diskussionen in der Organisation. Ich habe nur gesagt, ich kann keine Garantie dafür übernehmen, dass jeder italienische oder griechische Polizist sich so verhält. Dafür trage ich nicht die Verantwortung. Ich bin für die Bundespolizisten verantwortlich, und ich kann garantieren, dass deutsche Polizisten, auch die der Länder, sich an Recht und Gesetz halten. Auch da kommt es vor, da wir alle Menschen sind, man gegen Gesetze verstößt.
Generell, Frontex, das ist eine europäische Agentur, die eigentlich nur berät, auch kontrolliert einen einheitlichen Standard, die nicht die exekutiven Befugnisse hat. Es muss jedes Land selbst seine Außengrenzen kontrollieren.
Detjen: Bei der Kontrolle der gemeinsamen Außengrenzen ist Europa einig und auch stark, bei der Vereinbarung gemeinsamer Asylstandards und -verfahren dagegen nicht. Bei der Innenministerkonferenz in Cannes vor wenigen Tagen wurde die an sich für 2010 geplante Einführung eines gemeinsamen Asylstandards noch einmal auf das Jahr 2012 verschoben. Ist Europa gemeinsam handlungsfähig wenn es darum geht, ein menschliches Gesicht zu zeigen?
Schäuble: Ja. Ich meine, wir haben ja einen gemeinsamen Asylstandard. Wir haben die Genfer Flüchtlingskonvention. Die gilt für alle und die setzt den Maßstab. Wir haben ja auch in den neunziger Jahren unser Grundgesetz auch an den Schutzstandard der Genfer Flüchtlingskonvention angepasst. Insofern ist die materiell-rechtliche Grundlage in Europa für alle Mitgliedsstaaten die gleiche.
Wir haben unterschiedliche Anwendungen, das ist wahr. Und darüber haben wir uns vereinbart in Cannes. Etwa Flüchtlinge oder Asylbewerber aus Tschetschenien haben ganz unterschiedliche Anerkennungsraten in den einzelnen europäischen Mitgliedsstaaten. Und da haben wir gesagt, das kann ja eigentlich nicht richtig sein. Und deswegen wollen wir Informationen austauschen, sowohl die der Entscheidungen zugrunde liegenden Information über die politischen Verhältnisse, die Lageeinschätzung.
Das war schon immer auch in Deutschland eine Debatte. Wie beurteilt das Auswärtige Amt die Lage in irgendeinem afrikanischen Land, wo die Menschen hier herkommen und sagen, sie seien politisch verfolgt. Sind die Verhältnisse so? Und wir wollen auch zwischen denjenigen, die entscheiden, auch den Gerichten, einen stärkeren Austausch, damit wir ein einheitliches Niveau der Entscheidungen stärker erreichen. Aber wie gesagt, die materiell-rechtliche Grundlage ist die Genfer Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen. Die gilt für alle.
Detjen: Deutschlandfunk, das Interview der Woche mit Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble. Herr Minister, in Deutschland öffnen sich die Grenzen oder werden sich die Grenzen noch mal ein Stück weiter öffnen für begehrte Arbeitskräfte.
Sie haben in der zurückliegenden Woche gemeinsam mit Arbeitsminister Olaf Scholz einen Aktionsplan vorgestellt, der die Einwanderung dringend benötigter Fachkräfte, zum Beispiel von Ingenieuren nach Deutschland erleichtern soll. Sie wollen der Wirtschaft helfen. Die Wirtschaft aber sagt, das reicht noch gar nicht. Das ist nicht mutig genug. Wir brauchen noch mehr Fachkräfte, wir brauchen auch noch mehr Auszubildende aus dem Ausland, weil wir den Bedarf auf dem deutschen Arbeitsmarkt gar nicht füllen können.
Schäuble: Ja gut, man muss ein bisschen unterscheiden. Dort, wo wir wirklich einen Mangel haben, dort öffnen wir ja auch. Aber wir haben immer noch bei allen großen Erfolgen, die wir am Arbeitsmarkt erzielt haben, drei Millionen Arbeitslose.
Und deswegen haben wir ja auch verabredet, wenn es wirklich Bedarf gibt, das wollen wir in Zukunft ein bisschen genauer anschauen, da ist der Arbeitsminister dafür zuständig, dann werden wir es auch weiterhin tun. Aber natürlich wollen wir nicht aufhören, die Wirtschaft so zu beeinflussen, dass die drei Millionen Menschen, die in Deutschland einen Arbeitsplatz suchen oder auch diejenigen, die in den letzten Jahren keinen Ausbildungsplatz gefunden haben – wir haben zwar in diesem Jahr für alle Schulabsolventen Ausbildungsplätze, aber wir schieben ja noch eine Bugwelle vor uns her – die zu qualifizieren.
Es kann nicht sein, dass wir aufhören mit den Anstrengungen, den drei Millionen Menschen, die einen Arbeitsplatz suchen, die vielleicht auch Qualifikationsdefizite haben, nicht die Chance zu geben. Wenn wir diese Gelegenheit jetzt nicht nutzen, dann würden wir einen großen Fehler machen. Deswegen öffnen wir behutsam dort, wo wirklich Mangel ist, für qualifizierte Arbeitskräfte. Das machen wir, glaube ich, in einer richtigen Weise. Es ist ja auch so, die einen sagen, es sei nicht großzügig genug, und die anderen sagen, wir sollten ein bisschen aufpassen. Wir hätten sowieso schon zu viel Zuwanderung und zu viele Zugewanderte. Wir sollten da nicht einfach die Schleusen öffnen, was wir auch nicht tun.
Ich glaube, wir haben vernünftig die verschiedenen Gesichtspunkte miteinander zu einem vernünftigen Ergebnis verbunden. Es ist eine maßvolle Öffnung dort, wo wir wirklich Fachkräfte brauchen. Aber es ist nicht die Öffnung für billigere Arbeitskräfte. Denn bei manchen, die sagen, sie bräuchten Hunderttausende qualifizierte Arbeitskräfte, da geht es in Wahrheit darum, die wollen weniger bezahlen. Und dafür sind wir nicht da.
Detjen: Die Kritik, die Sie ansprachen, kam unter anderem von Ihrer Schwesterpartei, von der CSU. War das ein unionsinterner Konflikt, der dazu geführt hat, dass man am Ende nicht weiter geöffnet hat?
Schäuble: Nein. Wir haben eine gemeinsame Linie. Ich bin mit dem Kollegen Scholz völlig einig, im übrigen auch mit dem Kollegen Glos, dem Wirtschaftsminister, mit Annette Schavan, der Forschungsministerin, die ja auch für hochqualifizierte Arbeitskräfte immer wirbt.
Wir haben eine vernünftige Lösung gefunden. Das, was manche Kollegen, Innenminister aus den Bundesländern gesagt haben, auch aus Bayern, „Achtet einmal darauf, dass ihr nicht zu sehr öffnet“ ist genau so richtig wie, dass man dort sagt, dort, wo wir wirklich einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften haben, dort müssen wir auch öffnen. Das hat die Bundesregierung ja vor einem Jahr auf ihrer Klausur in Meseberg so beschlossen, und das haben wir jetzt umgesetzt.
Detjen: Die Öffnung wird ja ohnehin kommen. 2011 tritt auch im Rahmen der EU-Freizügigkeitsvereinbarungen ein Teil der Regelungen in Kraft, die Sie jetzt in Ihrem Aktionsplan beschossen haben.
Schäuble: Innerhalb der Europäischen Union kommt es ohnedies. Da geht es nur um zeitliche Übergangsregelungen. Für Akademiker öffnen wir es insgesamt jetzt schon. Aber natürlich nach 2011 haben wir das Problem der Drittländer. Und da sind wir dann eben bei Menschen aus Afrika oder anderen Teilen der Welt, die auch gerne nach Europa kommen wollen. Insofern verknüpft sich das beides miteinander.
Wir müssen in der Lage bleiben, unsere wirtschaftlichen und sozialen politischen Verhältnisse so zu gestalten, dass wir weiterhin in der Lage sind, unseren Beitrag zu einer besseren Entwicklung in der Welt zu leisten. Das muss ja auch immer politisch durchgesetzt werden. Aber dazu müssen wir wirtschaftlich und sozial in der Lage bleiben. Wir dürfen auch unsere Sozialsysteme nicht völlig überfordern. Und wir wissen, dass wir da auch wegen der demografischen Entwicklung ziemliche Probleme haben.
Detjen: Immerhin, bei diesem Thema funktioniert die große Koalition.
Schäuble: Die große Koalition funktioniert, aber die große Koalition ist eine Ausnahme von dem Prinzip des politischen Wettbewerbs. Sie ist aufgrund der Wahlentscheidung 2005 richtig gewesen. Sie ist erfolgreich. Schauen Sie die Erfolge, die wir am Arbeitsmarkt, in der Integration, in der inneren Sicherheit, in der Außen- und Europapolitik erzielt haben, in der Überwindung der schweren Krise unserer öffentlichen Haushalte. Wir haben viele Erfolge.
Aber es ist ein Bündnis auf Zeit. Die Normalität unseres demokratischen Systems ist der politische Wettbewerb. Und da sollten die beiden großen politischen Parteien nicht eine Art Kartell machen müssen, sondern sie sollten Wettbewerber sein, der eine als Regierung und der andere als Opposition. Jeder will natürlich lieber Regierung sein und sagt, der andere sollte lieber Opposition machen.
Detjen: Wenn man sich die Umfragen anschaut, dann wäre das nach der nächsten Wahl unter Umständen gar kein Bündnis mehr zwischen zwei Großen. Es könnte sein, dass die SPD so zusammen schrumpft, dass es schon fast wie eine normale Koalition zwischen einer größeren und einer doch erheblich geschrumpften Partei werden könnte.
Schäuble: Ja, das zeigt aber natürlich auch, dass große Koalitionen natürlich immer auch bei den Anhängern der beiden Partner zusätzliche Schwierigkeiten verursachen. Das spielt ja da mit hinein. Im übrigen, Umfragen sind das eine, Wahlergebnisse sind das andere. Jetzt haben wir noch ein Jahr Arbeit vor uns. Wir arbeiten ganz gut. Das haben wir in der vergangenen Woche auch wieder – Sie haben es angesprochen – unter Beweis gestellt. Die Erfolge sind auch vorhanden. Nächstes Jahr führen wir Wahlkampf gegeneinander, und dann hofft jeder, dass er gewinnt, und der Wähler hat zu entscheiden.
Detjen: Die Wahlkampfzeit wird ja schon unmittelbar nach der Sommerpause beginnen, dann mit Blick auf die anstehenden bayerischen Landtagswahlen.
Schäuble: Da hat sie schon begonnen. In Bayern ist doch jetzt schon richtig was los.
Detjen: Das schärft auch den Blick auf die Umfragen. Da muss es Sie doch eigentlich beunruhigen, dass die Union von der derzeitigen Schwäche der SPD nicht profitieren kann.
Schäuble: Ja, wahrscheinlich gibt es auch da ein Stück weit das Problem, dass Umfragen noch einmal anders sind als Wahlkampfsituationen. Ich glaube, dass in Bayern die CSU eine gute Chance hat, wieder ein Ergebnis klar über 50 Prozent zu erzielen. Aber das muss erst erkämpft werden. Die haben einen Führungswechsel im letzten Jahr bewältigen müssen. Das ist alles nicht ganz einfach. Und außerdem, über Jahrzehnte absolute Mehrheiten zu halten ist ja auch eine besondere Herausforderung.
Und was die Bundestagswahl anbetrifft und damit was die CDU/CSU anbetrifft, das ist wahr, im Augenblick haben wir auf der einen Seite zu Recht ein hohes Ansehen der Bundeskanzlerin, nicht so gute Zahlen für die Parteien. Das geht ein bisschen auseinander. Ich glaube, wenn es stärker auf die Wahl zugeht, wird das persönliche Element stärker, auch für die Wahl, für die Werte der Parteien, weil wir ja sehen – auch in anderen Ländern – Wahlen werden immer mehr zu einer Auseinandersetzung auch zwischen den jeweils führenden Persönlichkeiten. Und da haben wir natürlich für das nächste Jahr mit Angela Merkel eine richtig gute Ausgangsposition. Das ist ja das Problem der SPD.
Detjen: Ihr brandenburgischer Kollege, der brandenburgische Innenminister Schönbohm, erklärt die Schwäche der CDU auch mit einem Bindungsproblem, das tief an die Basis reicht. Er sagt, die CDU vernachlässigt ihre konservative Klientel, ihre konservativen Werte in der jetzigen Regierung. Ist die CDU überhaupt noch eine konservative Partei?
Schäuble: Nein, die CDU war nie nur eine konservative Partei. Die CDU war immer eine große christlich-demokratische Volkspartei, die liberale und konservative Elemente in einer möglichst optimalen Form miteinander zu vereinbaren versucht hat. Aber unsere Grundlage ist unser Verständnis vom menschlichen Leben, vom Verhältnis Individuum und Gemeinschaft. Und das ist wertebezogen.
Das macht uns zu der großen, starken Volkspartei der Mitte. Da muss man immer darauf achten, dass man konservative Elemente nicht vernachlässigt. Bewahren ist ja eine urkonservative Aufgabe. Deswegen müssen wir uns um Umweltschutz kümmern. Veränderungen sind nicht deswegen schon besser, bloß weil sie Veränderungen sind. Auch das ist so ein Prinzip. Jörg Schönbohm hat da mit den Mahnungen sicherlich auch ein Stück weit Recht.
Aber das ist ein immerwährendes Austarieren. Und im übrigen muss man auch den Mut haben zur politischen Führung. Eine Partei, die die Mehrheit will, die die Regierung stellt, die die Bundeskanzlerin stellt, muss den Menschen auch erklären, warum Entscheidungen sein müssen. Wir können nicht ersparen. Politische Entscheidungen sind immer auch Abwägungen und sie muten den Menschen auch etwas zu. Wenn wir sagen, wir müssen uns daran beteiligen, dass die Welt nicht aus den Fugen gerät, dass wir das globale Auseinanderdriften bekämpfen, also mehr Entwicklungszusammenarbeit machen, das Klima schützen, sind das alles Entscheidungen, die auch umstritten sind. Sie müssen trotzdem sein im Sinne demokratischer Führung.
Detjen: Aber Herr Minister Schäuble, das Problem, vor dem beide Volksparteien stehen, ist ja, dass die Bindungskräfte, auf die Sie sich jetzt auch bezogen haben als Sie Werte angesprochen haben, christliche Werte im Fall der Unionsparteien etwa genau so wie Milieubindungen im Fall der SPD, dass diese Bindungskräfte, die die Volksparteien einmal groß gemacht haben, in unserer Gesellschaft generell an Bedeutung verlieren.
Die Gesellschaft wird disparat. Das spiegelt sich in unserem Parteienspektrum wider. Wie groß ist eigentlich Ihre Sorge, dass diese Dynamik, die zur Stärkung der Linken am linken Parteienrand geführt hat, auch dazu führen wird, dass die Union in absehbarer Zeit in der Lage sein wird, auch am rechten Rand mit einer neuen, bisher noch gar nicht erkennbare populistischen Bewegung oder Partei konfrontiert zu sein?
Schäuble: Na, die Sorge haben wir ja auch immer wieder. In manchen Ländern haben wir ja rechtsextreme Parteien, sogar im Landesparlament. Das ist auch nicht ganz neu. Wir hatten in Baden-Württemberg zwei Legislaturperioden lang diese ekelhaften Parteien. Das ist wahr.
Detjen: Aber noch nicht als das Phänomen, mit dem sich die SPD jetzt auseinandersetzen muss.
Schäuble: Einverstanden. Ja, die SPD hat ein spezifisches Problem mit ihrem früheren Parteivorsitzenden und mit der Kombination mit der früheren SED. Das ist natürlich noch einmal?.
Detjen: Das kann man nicht nur auf die Person runterbrechen. Das ist ja der Spiegel einer gesellschaftlichen Entwicklung.
Schäuble: Ich glaube, der Kern ist ja der, dass sich unsere Gesellschaft verändert, weil sich Technik, Wissenschaft, die Welt ständig verändert. Wir leben nicht mehr in den gesellschaftlichen Verhältnissen der sechziger Jahre. Deswegen sind die traditionellen Formen von Bindungen schwächer geworden. Das gilt nicht nur für Parteien, das ist bei Kirchen, Gewerkschaften, bei Vereinen und Verbänden – gucken Sie die Sport- oder Gesangvereine – kein Haar anders.
Die junge Generation, das ist eine Folge der neuen Medien, der Informationsmedien. Information, Kommunikation prägt eine Gesellschaft in einem ganz starken Maße. Das verändert sich. Aber deswegen wird übrigens das Bedürfnis – da bin ich ganz zuversichtlich – nach Bindungen, nach Orientierungen nicht verschwinden. Das wird nur ein Stück weit anders sein. Das heißt, wir müssen neue Formen finden.
Wenn Sie sehen, in Amerika ist die Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen im letzten Jahrzehnt permanent gestiegen. Bei der letzten Präsidentschaftswahl vor jetzt knapp vier Jahren hatten sie eine Wahlbeteiligung von 60 Prozent. Das hatten die nie. In Frankreich bei der letzten Präsidentschaftswahl war die Wahlbeteiligung sensationell hoch. Das heißt, möglicherweise werden die Persönlichkeitselemente in den Wahlen stärker, was ich vorher gesagt habe, warum ich ganz optimistisch für unsere Chancen bin, ein Argument dafür.
Aber die Art, dass man gewissermaßen 30 Prozent Stammwähler hat, die, egal was ist, von vorneherein zur Wahl gehen und CDU oder SPD wählen, das ist rum, man muss sich von Wahl zu Wahl seine Mehrheit neu erarbeiten unter neuen Bedingungen von Kommunikation. Das sind neue Herausforderungen. Es gibt aber auch neue Chancen.
Ich habe kürzlich mal gesagt, wer hätte denn geglaubt, dass die CDU mal in Hamburg bis vor kurzem mit absoluter Mehrheit regiert. Das war völlig unvorstellbar. Das geht auch. Es sind also nicht nur Risiken, es sind auch Chancen. Man muss sie nur nutzen. Ich finde, dass die Welt sich verändert, das macht eigentlich Leben interessant. Das ist Forschritt. Das sollte man nicht immer mit Sorgen begleiten, sondern eher als Herausforderung und als Chance begreifen.
Detjen: Aber muss nicht gerade ein Politiker, der so wie Sie doch auch sehr stark das politische System der alten Bundesrepublik noch mit erlebt hat, von ihm geprägt ist, diese Entwicklung, die Sie beschreiben, doch als etwas zutiefst Beunruhigendes empfinden?
Der Journalist Gustav Seibt hat in der vergangenen Woche in der „Süddeutschen Zeitung“ eine interessante Analyse geschrieben, in der er gesagt hat, das Beunruhigende ist gar nicht die Zersplitterung des Parteiensystems, sondern – so Seibt – das Beunruhigende ist der Tonwechsel in der deutschen Politik, den er an der Person Oskar Lafontaine fest macht. Seibt nennt das ‚die Rückkehr der Wut‘, der politischen Affekte auf die politische Bühne, die ja auch mit der Personalisierung verknüpft ist, die Sie jetzt gerade beschrieben haben.
Schäuble: Na gut, ich glaube, Lafontaine ist ein bisschen ein Sonderproblem. Der hat seine Auseinandersetzung mit der SPD und der nützt seine demagogischen Gaben ein wenig im Übermaß. Ich finde, das macht mich bei manchen Intellektuellen gelegentlich ein bisschen ratlos. Warum soll man eigentlich gesellschaftlichen Wandel, den wir gemeinhin als Fortschritt betrachten, immer nur unter dem Gesichtspunkt der Sorge betrachten?
Natürlich war die alte Bundesrepublik, in der ich lange gelebt habe, auch schön. Und wir werden ja, je älter wir werden, auch ein bisschen nostalgisch. Aber ist es nicht viel toller, in einem wiedervereinten Deutschland ohne Mauer in Berlin zu leben? Ist es nicht viel toller, in einem Europa, wo wir doch zusammenwachsen, wo wir Schritt für Schritt Teile staatlicher Souveränität an gemeinsame europäische Institutionen abgibt? War wirklich die Zeit der beiden Weltkriege in Europa so, dass wir uns nostalgisch daran zurückerinnern sollten? Ist es nicht besser, wir kümmern uns um Menschen, die in Afrika Not und Hunger leiden, in einem stärkeren Maße.
Wir haben so viele Aufgaben und Chancen. Ich neige nicht zum Klagen sondern eher zur Zuversicht.
Detjen: Ein optimistischer Bundesinnenminister. Herr Dr. Schäuble, vielen Dank für das Interview.