„Jetzt kann Europa zeigen, dass es einen Unterschied macht“



Wolfgang Schäuble in einem Gespräch in der FAZ vom 14.09.2015 über Zeitenwenden, die deutsche Rolle in Europa, Chancen und Grenzen der Zuwanderung, Putin, Tsipras – und den politischen Diskurs.

FAZ: Herr Minister, allenthalben heißt es, die Welt sei aus den Fugen. Ein Beinahekrieg in der Ukraine. Viele Staaten des Nahen Ostens sind zerfallen. Stehen wir vor einer Zeitenwende, vergleichbar mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion?

Wolfgang Schäuble: Diesen Eindruck kann man bekommen. Es gibt aber einen Unterschied: Beim Zusammenbruch der Sowjetunion waren wir uns darin ganz sicher. Es handelte sich um einen der seltenen Fälle in der Geschichte, in dem wir sofort wussten, jetzt beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte. Gleichwohl: Wenn man sich anschaut, durch was für einen Umbruch die islamische Welt geht, kann man wieder den Eindruck von einer Zeitenwende gewinnen.

FAZ: Die Welt ist von einer großen Unruhe erfasst. Neue Akteure treten an, alte verschwinden. In solcher Geschwindigkeit hat es das lange nicht mehr gegeben.

Schäuble: Ja, das sehe ich auch so. Oft frage ich mich, ob es hier Bezüge zur Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung gibt, vor allem in der Kommunikationstechnologie. Anfang der neunziger Jahre, was ja noch nicht so lange her ist, war das Internet eine Sache für wenige Spezialisten. Die technologischen Sprünge verändern die Welt. Als Finanzminister, der die internationalen Finanzmärkte zu beachten hat, nehme ich das besonders intensiv wahr. Dies alles führt dazu, dass Probleme viel stärker und viel schneller als früher globalisiert werden. Alles rückt zusammen und beschleunigt sich. Damit werden auch die Widersprüche schneller für uns spürbar. Auch die Zuwanderungswelle nach Deutschland ist eine Folge. Für uns ist das eine Herausforderung – übrigens auch im Positiven. Die Zuwanderung von Menschen ist eine Chance für unser Land.

FAZ: Zurzeit suchen Hunderttausende Menschen in Deutschland und in ganz Europa eine neue Bleibe. Sie kommen aus Afrika, Syrien, Staaten des westlichen Balkans. Sehen Sie hinter den unterschiedlichen Motiven etwas Gemeinsames? Handelt es sich in Wirklichkeit um eine klassische Völkerwanderung?

Schäuble: Völkerwanderungen im klassischen Sinne hat es immer gegeben, übrigens auch zum Teil aus ähnlichen Gründen wie heute. Nach 1945 wurden auf dem Gebiet der Bundesrepublik ebenfalls Millionen Flüchtlinge und Vertriebene untergebracht.

FAZ: Das waren aber Deutsche.

Schäuble: Das ist wahr, aber die Welt heute ist nun einmal enger zusammengerückt. Der entscheidende Unterschied zu früher ist, dass wir mit den Unterschieden und Ungleichzeitigkeiten einer vernetzten Welt viel stärker und schneller konfrontiert werden. Da wir Deutsche und Europäer international an der Spitze der Wohlstandspyramide stehen, müssen wir das aushalten.

FAZ: Sie haben kürzlich gesagt, die Kosten der Aufnahme von Flüchtlingen seien finanziell für Deutschland verkraftbar. Sind sie auf Dauer verkraftbar?

Schäuble: Ich bin ja zweimal Bundesinnenminister gewesen. Das erste Mal unter Helmut Kohl zu Beginn der neunziger Jahre, auch damals kamen Hunderttausende von Asylbewerbern nach Deutschland. Wir haben das Grundgesetz geändert. Die Herausforderung wurde bewältigt. In meiner zweiten Amtszeit als Innenminister habe ich 2005 die Islam-Konferenz ins Leben gerufen. Ich habe schon damals gesagt, der Islam ist ein Teil unseres Landes. Wir sollten uns darauf einstellen – einstellen wollen. Und denken wir auch daran, die demographische Entwicklung ist das mit Abstand größte Strukturproblem für unser Land, für die Wirtschaft und für die sozialen Sicherungssysteme. Ich weiß gar nicht, wie wir damit klarkommen wollten ohne Zuwanderung. Wir brauchen also Zuwanderung.

FAZ: Aber die eigentlichen Fluchtursachen sind doch kaum zu beseitigen. Die Menschen in Eritrea wollen nicht abwarten, bis irgendwann deutsche Entwicklungshilfe wirkt.

Schäuble: Natürlich werden wir nicht die Probleme von sieben Milliarden Menschen auf der Welt hier bei uns in Mitteleuropa lösen können. Wir werden aber Menschen, die aus fürchterlicher Not nach Europa kommen wollen, nicht zurückweisen. Wir dürfen sie auch nicht im Mittelmeer ertrinken lassen. Doch den Schlepperbanden müssen wir das Handwerk legen. Daneben müssen wir vor allem daran arbeiten, die Lage in der arabischen Welt zu stabilisieren. Das ist vielleicht die wichtigste Aufgabe, vor der wir stehen.

FAZ: Kürzlich hat der französische Präsident François Hollande gesagt, Europa müsse sich in Syrien stärker engagieren.

Schäuble: Das sagt er ja schon seit geraumer Zeit.

FAZ: Die arabische Welt steht in Flammen. Also hat Hollande doch recht.

Schäuble: Natürlich hat er recht. Das hat auch Konsequenzen für uns. Wir müssen uns in Deutschland daran gewöhnen, noch mehr außenpolitische Verantwortung zu übernehmen. Seit Joachim Gauck im Amt ist, weist er ja auch besonders darauf hin. Die Bevölkerung aber ist da skeptisch, sogar ablehnend, wie manche Umfragen zeigen. Das ist für Deutschland wahrlich kein Ruhmesblatt. Die Bundesregierung muss das zur Kenntnis nehmen, darf sich aber damit nicht zufriedengeben. Deutschland kann sich nicht wegducken. Ich weiß, gerade in der Außenpolitik sind wir seit 1990 einen sehr weiten Weg gegangen. Aber dieser Weg ist noch lange nicht zu Ende. Darauf müssen wir uns einstellen. Hier muss die Politik zeigen, dass sie den Mut hat zu führen, auch wenn die Umfragen eine andere Sprache sprechen.

FAZ: Entwicklungshilfeminister Gerd Müller hat gesagt: „Wenn wir die Probleme nicht vor Ort lösen, kommen die Probleme zu uns.“

Schäuble: In der Politik ist es wie im gewöhnlichen Leben. Niemals können Sie ein Problem zu hundert Prozent lösen. Wir Deutsche sind auch nicht dazu berufen, alle Probleme dieser Welt zu lösen. Wir haben früher mal versucht, anderen unseren Willen aufzuzwingen – mit fürchterlichen Folgen. Wegen unseres Wohlstandes und unserer Größe müssen wir aber mehr als andere Europäer zur Lösung der Probleme beitragen.

FAZ: Haben Sie den Eindruck, dass die Europäer in der Flüchtlingsfrage schon das Optimale aus sich herausgeholt haben?

Schäuble: Nein. Aber die Debatte darüber fängt ja erst so richtig an. Wir haben ja schon lange gesagt, dass wir Griechenland und Italien mit der Aufnahme von Flüchtlingen nicht im Stich lassen dürfen. Je mehr Deutschland seinen Teil zur Lösung des Flüchtlingsproblems beiträgt, desto mehr werden auch andere Länder dazu bereit sein.

FAZ: Doch die Bevölkerung in Deutschland betrachtet die Aufnahme von Flüchtlingen mit einem wachsenden Stirnrunzeln.

Schäuble: Das nehme ich anders wahr. Wir erleben eine Welle der Hilfsbereitschaft. Ich finde es hocherfreulich, dass immer mehr Menschen in Deutschland sagen, wir sollten Flüchtlinge aufnehmen und können das auch bewältigen. Daran müssen wir als Bundesregierung arbeiten. Wir müssen zeigen, dass wir das Notwendige tun. Wir müssen dabei auch Prioritäten setzen. Manch anderes muss dann halt auch einmal zurückstehen. Ich bin aber überzeugt, das schaffen wir. Insofern gibt es Parallelen zur Zeit der Wiedervereinigung Deutschlands, als ebenfalls ganz neue und riesige Aufgaben zu bewältigen waren. Die Menschen in Deutschland haben damals gesagt: Ja, wir packen das. Und so muss das heute wieder sein. Damals in den Monaten der Wiedervereinigung vollbrachte die öffentliche Verwaltung eine Glanzleistung. Heute tut sie das bei der Aufnahme von Flüchtlingen wieder.

FAZ: Eine Wiedereinführung von Grenzkontrollen in der Europäischen Union lehnen Sie also ab?

Schäuble: Wir sollten das Maß an Freiheit bewahren, das wir in Europa erreicht haben. Andererseits darf die Niederlassungsfreiheit nicht dazu führen, dass wir unbegrenzt unsere hohen Sozialleistungen zur Verfügung stellen. Übrigens wenden sich alle Regierungen der Länder des westlichen Balkans dagegen, dass ihre Staatsbürger deutscher Sozialleistungen wegen ihre Länder verlassen. Wenn sie in Deutschland Arbeitsplätze finden, können sie gerne kommen. Wenn nicht, sollten wir ihnen auch keine Anreize bieten.

FAZ: Ist das allein ein Problem für Deutschland?

Schäuble: Nein, das sehe ich als europäische Angelegenheit an. Die europäischen Institutionen, voran Kommission und Parlament, sind gefordert. Jetzt kann Europa zeigen, dass es einen Unterschied macht. Der Umgang mit der Flüchtlingskrise wird auch erweisen, ob wir Europäer untereinander Solidarität leben. Wir müssen als Ganzes gemeinsame Lösungen finden, selbst wenn sie über nationale verfassungsrechtliche Regelungen hinaus gehen.

FAZ: In solchen Zeiten wäre es hilfreich, ein vernünftiges Verhältnis zu Russland zu haben. Wird das erst nach der Amtszeit Wladimir Putins möglich sein?

Schäuble: Das hoffe ich nicht. Es war eine große Leistung, dass in der Ukraine-Krise die Europäer und der Westen insgesamt beieinander geblieben sind – bei allen Schwierigkeiten. Wir haben Sanktionen verhängt und zugleich Kooperation angeboten. Ich kann nicht sagen, wie lange Russland braucht, um einzusehen, dass es vom Westen nicht bedroht wird und dass es von einer Zusammenarbeit mit dem Westen nur Vorteile erzielen kann.

FAZ: In der russischen Öffentlichkeit werden immer mehr antiwestliche und antiamerikanische Stimmungen sichtbar.

Schäuble: Das ist vielfach doch bloß Rhetorik und Stimmungsmache. Und immer wieder hat die Kanzlerin gesagt: Wir jedenfalls werden nicht in die alten Muster des Verhaltens von Nationalstaaten im 19. Jahrhundert zurückfallen. Aber wir werden auch nicht akzeptieren, dass Russland gegenüber der Ukraine das Völkerrecht einseitig gebrochen hat. Zugleich werden wir aber immer kooperationsbereit sein. Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich Russland wieder besinnt.

FAZ: Sehen Sie Putin als Alleinherrscher an, oder ist er von einem konfessionell geprägten russischen Nationalismus getrieben?

Schäuble: Es wird an beidem etwas dran sein. Aber selbst diejenigen, die sich für Alleinherrscher gehalten haben, waren das ja stets nur eine Zeitlang. Eines muss man jedoch auch sehen: Das Verhalten des Westens Russland gegenüber nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kann nicht als ein reines Ruhmesblatt bewertet werden. Als Russland erkennbar schwach war, hätte der Westen seine eigene Stärke nicht so sehr ausspielen müssen. Der vermeintlich Stärkere muss dem Schwächeren gegenüber großzügig sein. Der Westen hat Anlass, über sein eigenes Verhalten kritisch nachzudenken.

FAZ: Ist der Westen schuld am russischen Vorgehen gegen die Ukraine?

Schäuble: Natürlich nicht. Russische Fehler darf man nicht mit Fehlern begründen, die im Westen gemacht worden sind. Dennoch brauchen wir die Zusammenarbeit mit Russland, wie man das etwa bei den Atomverhandlungen mit dem Iran gesehen hat.

FAZ: Mit China ist eine neue Weltmacht entstanden. Stellt das den Führungsanspruch und die Führungsfähigkeit Amerikas in Frage?

Schäuble: Nur in einer kurzen Phase nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende der Sowjetunion gab es mit den Vereinigten Staaten eine einzige Weltmacht. Dieser Zustand konnte nicht von Dauer bleiben. Das war damals schon vorhersehbar. Eine Weltordnung, die nur auf einer Supermacht beruht, kann nicht stabil sein. Das heißt aber, dass wir stärker auf kooperative Strukturen in der Welt hinarbeiten müssen – auch um verbrecherische Regime in ihre Schranken zu weisen und den „Islamischen Staat“ bekämpfen zu können. Europa wiederum darf den Amerikanern schon aus eigenem Interesse nicht alles in der Weltpolitik überlassen. Anzumerken aber bleibt auch: China ist politisch und ökonomisch nicht ganz so stabil, wie es manchmal den Anschein hat. Die chinesische Führung ist sich dessen bewusst und reagiert entsprechend.

FAZ: Sprechen wir über Europa und die deutsche Rolle, die zuletzt sogar als Hegemonie beschrieben wurde. Wir nehmen an, Sie teilen diese Rollenzuschreibung nicht.

Schäuble: Das 20. Jahrhundert liegt hinter uns. Im neuen Jahrhundert geht es um andere Dinge. Bleiben wir bei den Fakten: Ja, wir sind im Augenblick wirtschaftlich stark, wir sind das bevölkerungsreichste Land, wir haben unsere zentrale Lage in Europa und damit die Zentralrolle. Deswegen haben unsere Nachbarn, in Polen und in den baltischen Staaten zum Beispiel, so große Erwartungen an uns. Aber wir sind nicht ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat, wir sind keine Nuklearmacht, und die deutsche Gesellschaft will auch nicht diese Art politischer Führung übernehmen. Aber wir müssen einen Teil der Führungsverantwortung übernehmen. Deswegen ist es klug, vieles mit Frankreich gemeinsam zu tun. Noch besser wäre es, wenn Großbritannien da mitmachte, aber zu meinem Bedauern hält sich London etwa bei der Bewältigung der Ukraine-Krise sehr zurück. Wir müssen unseren Teil an Verantwortung in Europa wahrnehmen, aber wir können es nicht alleine führen.

FAZ: In einigen EU-Ländern wurde das Auftreten der Bundesregierung in Sachen Griechenland so wahrgenommen, dass Deutschland und der deutsche Finanzminister die Führungsrolle überzogen.

Schäuble: Das glaube ich nicht. Wir waren in der Euro-Gruppe einig. Bis unmittelbar vor dem jüngsten EU-Gipfel waren 18 Mitglieder immer völlig einer Meinung. Es gab Nuancen, aber keine gravierenden Unterschiede.

FAZ: Was steht beim Thema Griechenland wirklich auf dem Spiel?

Schäuble: Wer das verstehen will, muss die tieferen Zusammenhänge sehen. Jedes Land heutzutage muss beweisen, dass es in der Lage ist, den Anpassungsprozess zu bewältigen, der notwendig ist, um in der globalisierten Weltwirtschaft zu bestehen. Modernitätsverweigerung hilft gar nicht, nirgendwo; dieser Anpassungsprozess ist notwendig und unausweichlich. Und in einer Währungsunion liegen die Dinge noch schwieriger. Ob man diesen Anpassungsprozess lieber als Mitglied in einer Währungsunion macht, bei der das Instrument der externen Abwertung nicht zur Verfügung steht, ist eine Frage, die sich die griechische Gesellschaft stellen muss. Die Regierung Samaras war auf einem guten Weg. Herr Tsipras hat die verständliche und wachsende Unruhe in der griechischen Bevölkerung wegen der Anpassungslasten ausgenutzt und den Griechen versprochen: Wir bleiben im Euro – aber ohne Programm und ohne Anpassung. Das war ein Versprechen, das Tsipras selbstverständlich nicht halten konnte. Dann hat er ein halbes Jahr gebraucht, um das Gegenteil zu machen. Das ist die Geschichte der ersten sechs Monate. Der zweite Teil der Antwort ist der: Solange wir in Europa nicht die Bereitschaft haben, den europäischen Institutionen wesentliche Teile staatlicher Souveränität zu übertragen, liegt die Verantwortung bei den Nationalstaaten. Und es bedarf Regeln, die wir einhalten sollten. Ohne Vertrauen, dass Absprachen eingehalten und umgesetzt werden, geht es in Europa nicht voran.

FAZ: Die Linke Sahra Wagenknecht sagt, der Euro beerdige die Demokratie in Europa, weil die nationale Handlungsautonomie beschnitten oder ausgeschaltet werde. Ist da etwas dran?

Schäuble: Nicht alles, was man polemisch formulieren kann, ist hilfreich. Eigentlich braucht eine Währungsunion auch eine politische Union. Nun bekommt man in Europa perfekte Lösungen nicht am Anfang, sondern allenfalls in einer mühsamen Entwicklung. Dennoch sind wir gut vorangekommen. Wir leben in einer Art Mehrebenensystem: Wir entscheiden auf europäischer Ebene, und wir entscheiden auf der nationalen Ebene. Damit müssen wir vernünftig umgehen.

FAZ: Hat denn Ihr mittlerweile 20 Jahre alter Vorschlag von einem Europa der zwei Geschwindigkeiten noch Relevanz?

Schäuble: Der Vorschlag von Karl Lamers und mir ist im Prinzip immer noch richtig. Damals lautete die Frage: erst Ost- Erweiterung oder erst Vertiefung der Institutionen? Wir waren der Auffassung, wir müssten beides gleichzeitig machen, mit Hilfe eines Kerns, der alles zusammenhält, weil nicht alle zum gleichen Zeitpunkt die gleiche Integrationsstufe erreichen wollen oder können. Unser Ziel war nie, Europa zu teilen, sondern wir wollten Europa mit einer gewissen Flexibilität voranbringen. Die Währungsunion und das Schengen- Abkommen folgen diesem Prinzip. Künftig werden wir verstärkt über das Verhältnis der Währungsunion zu den EU-Partnern nachdenken müssen, die ihr nicht angehören. Hier werden wir vor allem Lösungen mit unseren britischen Freunden finden müssen. Eine EU ohne Großbritannien ist nicht vorstellbar – und schon gar nicht in deutschem Interesse.

FAZ: Haben Sie eine Erklärung für das Phänomen Wutbürger, für die Wut auf das Establishment?

Schäuble: Das ist eine Minderheit, die breite Mehrheit der Bevölkerung denkt nicht so. Aber es ist interessant: Zu den Protestgruppen gegen Stuttgart 21 gehörten viele ältere, gutsituierte Leute aus den gehobenen Wohngegenden der Stadt, die zum Teil ihr Leben lang CDU oder FDP gewählt haben und die sich dann in diese Sache hineingesteigert haben. Tatsächlich interessieren sich die meisten Leute nicht sehr für Politik. Nehmen Sie meine Heimat Baden-Württemberg; dort sind immer weniger Leute bereit, das Amt des Bürgermeisters zu bekleiden.

FAZ: Woher kommt der Hass gegen Politiker und gegen die Medien?

Schäuble: Das Umfeld für Politik hat sich dramatisch verändert. Das Internet ist ein Treiber dieser Veränderungen und wirkt dabei nicht immer als ein Segen. Im Gegenteil. Wir erleben auch, dass der Niveaulosigkeit keine Grenzen gesetzt sind. Die Anonymität des Netzes lädt offenbar dazu ein, andere zu beleidigen und herabzuwürdigen. Es gibt den Effekt des Herdengetrampels. Noch haben wir keine abschließende Antwort, wie die Umbrüche in der Kommunikationstechnologie unsere Gesellschaft sowie unsere wirtschaftlichen und politischen Strukturen verändern werden. Die Dinge sind im Fluss. Viele hergebrachte Schnittmuster funktionieren aber definitiv nicht mehr.

FAZ: Sie gehören dem Bundestag seit 1972 an, so lange wie kein anderer. Was hat sich verändert im politischen Betrieb?

Schäuble: Es geht uns gut heutzutage. Wir empfinden nicht mehr diese existentiellen Herausforderungen. Viele glauben, alles soll am besten so bleiben, wie es ist. Das eigentliche demokratische Prinzip dagegen, der demokratische Wettbewerb, ist nicht so furchtbar beliebt. Diese Stabilität hat aber auch unbestreitbare Vorteile. Im Unterschied zu uns geht es in anderen westlichen Demokratien bei der Mehrheitsbildung, vorsichtig formuliert, weitaus turbulenter zu. Man kann ja mit einem gewissen Entsetzen den amerikanischen Vorwahlkampf beobachten. Politische Stabilität ist übrigens auch ein hoher wirtschaftlicher Standortfaktor. Weil diese Regierung und diese Bundeskanzlerin sind, wie sie sind, haben wir ein Maß an Stabilität, das der Wirtschaft nicht unbedingt schadet.

FAZ: In wenigen Wochen jährt sich die deutsche Wiedervereinigung, an der Sie maßgeblich beteiligt waren, zum 25. Mal. In welchem Zustand sehen Sie das Land? Wie steht es um den Zusammenhalt der Gesellschaft? Schwindet der?

Schäuble: Ich bin Optimist. Wenn ich auf die Flüchtlingskrise blicke, dann bin ich mir sicher, dass wir das meistern werden. Wenn wir begreifen, vor welchen Aufgaben wir stehen, werden wir sie auch annehmen und meistern.