Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble bei der 5. Handelsblatt-Konferenz 2008 in Berlin
Es ist eine zentrale Aufgabe unseres Staates, Sicherheit zu gewährleisten. Die Verantwortlichen müssen dieser Aufgabe unter den jeweiligen Bedingungen ihrer Zeit nachkommen. Unsere Zeit ist durch einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel geprägt. Mit der Globalisierung sind wir stark von Entwicklungen in anderen Teilen der Welt beeinflusst. Durch die revolutionsartige Ausbreitung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien, die die Globalisierung weiter vorantreiben und beschleunigen, haben sich die Grundbedingungen, unter denen wir Sicherheit gewährleisten, dramatisch verändert.
Heute werden gesellschaftliche Konflikte, kulturelle Unterschiede, religiöse, wirtschaftliche und politische Differenzen in einem ganz anderen Maße als früher weltweit ausgetragen. Daran haben auch die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien ihren Anteil. So versuchen immer mehr Konfliktparteien, für ihre regionalen Konflikte die Weltöffentlichkeit zu mobilisieren und die Gewalt in andere Länder zu tragen. Das führt dazu, dass im 21. Jahrhundert – das hätte vor 50 Jahren kaum jemand gedacht – religiöse und kulturelle Auseinandersetzungen eine erhebliche Bedeutung für unsere Sicherheit gewonnen haben.
All das und vieles andere lässt uns heute von asymmetrischen Bedrohungen sprechen. Das ist aber etwas anderes als Krieg. In Deutschland glauben manche Menschen, man müsse sagen, dass unsere Soldaten in Afghanistan im Krieg sind. Dagegen möchte ich einwenden, dass wir Deutsche mit dem Begriff „Krieg“ sehr spezielle Erfahrungen verbinden. Deswegen ist es vielleicht doch besser, wenn wir weiterhin von asymmetrischen Bedrohungen reden.
Einige, die glauben, dass das Problem in Afghanistan militärisch nicht zu lösen sei, fordern mehr Polizeiausbildung. So würden wir uns aber vor den wirklichen Problemen drücken. Natürlich brauchen wir auch Polizeiausbildung. Aber es sind eben asymmetrische Bedrohungen, die wir in den bisherigen Kategorien nicht mehr voll erfassen können und die spezielle Anforderungen an militärische Einsätze stellen.
Inzwischen ist es keine Tabuverletzung mehr zu sagen, dass die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Sicherheit durch die neuen asymmetrischen Bedrohungen in einer globalisierten Welt hinfällig geworden ist. Daraus müssen wir die nötigen Konsequenzen ziehen. Deswegen sollten wir die Entscheidung, ob Militär oder Polizei eingesetzt werden, nicht davon abhängig machen, ob der Einsatz innerhalb oder außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland stattfindet. Das muss vielmehr von der Art der Aufgabe und der Bedrohung abhängen. So war das Militär im Kosovo etwa mit den schweren Ausschreitungen vom 18. März 2004 überfordert, weil es eigentlich eine polizeiliche Aufgabe war.
Die alte Trennung ist obsolet geworden. Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, mögen nicht allen gefallen. Es gibt in Deutschland noch Heerscharen von Verteidigern eines alten Denkens, das sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überholt hat. Sie seien darauf hingewiesen, dass der Weltsicherheitsrat – völkerrechtlich keine ganz unwichtige Instanz – mit seiner Entscheidung vom 12. September 2001 den Angriff auf das Word Trade Center als Angriff auf die Vereinigten Staaten von Amerika im Sinne von Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen erklärt hat, und zwar ohne zu wissen, ob der Angriff von außerhalb oder innerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika ausgegangen war.
Auch in Deutschland können wir nicht mehr sinnvoll unterscheiden, ob die Bedrohung von außen oder von innen kommt. Das ist eine Folge aus den gesellschaftlichen, technischen und sozialen Veränderungen in dieser Welt. Das heißt nicht, dass wir nicht an den unterschiedlichen Aufgaben, Anforderungsprofilen und auch an der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit von Polizeien und Militär festhalten sollten, aber eben nicht nach der alten Unterscheidung von außen und innen.
Unter den asymmetrischen Bedrohungen, den neuen Formen der Konfliktaustragung ist aktuell der Missbrauch der Religion durch den islamistischen Terrorismus am gefährlichsten. Es muss aber keineswegs für alle Zeiten und auch nicht in diesem Jahrhundert so bleiben, dass sich der Missbrauch von Religion durch gewaltbereite Fundamentalisten auf den Islam beschränkt.
Die Herausforderung durch den islamistischen Terrorismus betrifft uns heute unmittelbar. In den letzten Tagen haben wir eine neue Videodrohung von Al Qaida erhalten. Wir sind neben anderen Ländern Europas und der westlichen Welt ein Ziel dieser Bedrohung.
Bei der Abwehr dieser Gefahren gewinnt Information eine noch weit größere Bedeutung, als sie es immer schon hatte. Hier sind wir auf die Leistungsfähigkeit unserer Nachrichtendienste und insbesondere unseres Auslandsnachrichtendienstes, des Bundesnachrichtendienstes, existentiell angewiesen.
Auch die präventive Gefahrenabwehr durch die Polizeien wird umso wichtiger, als die herkömmlichen Formen von Abschreckung bei Terroristen nicht funktionieren. Generationen von Juristen mussten schon im ersten Semester Strafrecht die Unterscheidung zwischen Generalprävention und Spezialprävention lernen. Spezialprävention bedeutet, dass man den Täter ins Gefängnis sperrt, wo er keine neuen Straftaten verüben kann. Die Generalprävention basiert auf der abschreckenden Wirkung einer solchen Strafe für andere Menschen, die nicht ins Gefängnis kommen wollen und deswegen lieber keine Straftaten begehen. Selbstmordattentäter kann man aber nicht ins Gefängnis stecken. Und nach unserer Strafprozessordnung muss ein Ermittlungsverfahren oder ein Strafprozess eingestellt werden, wenn der Beschuldigte tot ist. Das heißt, wir können innere Sicherheit gegenüber terroristischen Bedrohungen nur dann gewährleisten, wenn wir vorher wissen, was geplant ist.
In den öffentlichen Diskussionen entsteht bisweilen der Eindruck, als würde unser freiheitlich verfasster Rechtsstaat die Bürgerrechte bedrohen. Mit Verlaub, ich halte das für falsch. Ich stehe als Innenminister mit ganzer Überzeugung dafür ein, dass für meinen Verantwortungsbereich das Gegenteil zutrifft. Unsere Aufgabe ist es, Sicherheit zu gewährleisten, also die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger zu sichern, die unsere Verfassung besonders schützt. Deswegen sehe ich den angeblichen Gegensatz zwischen Sicherheit und Freiheit nicht. Freiheiten in unserer modernen Welt, wie immer in der Menschheitsgeschichte, brauchen auch die Gewährleistung dieser Freiheitsrechte.
Weil wir angesichts der Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus auf Informationen angewiesen sind, müssen wir unter engen Voraussetzungen, strikten Begrenzungen und Kontrollen, auf einem hohen datenschutzrechtlichen Niveau in der Lage sein, nicht nur im Ausland Informationen zu bekommen, sondern notfalls auch im eigenen Land. Über die Begrenzungen muss man im Einzelnen diskutieren. Das ist ein immer währendes Ringen, das ich überhaupt nicht klein reden will. Wir dürfen aber dabei nicht übertreiben. Manche halten schon Telefonbücher für eine schwere Gefahr, weil sie große Datensammlungen sind. Wir dürfen nicht so weit kommen, dass wir in Deutschland Datensammlungen an und für sich für eine Bedrohung von Freiheitsrechten halten.
Die Sicherheitsbehörden müssen unter den im pluralistischen Streit zu definierenden Voraussetzungen und Begrenzungen in der Lage sein, Informationen zu beschaffen, um Bedrohungen abwehren zu können. Andernfalls werden sie ihre Aufgabe nicht erfüllen können. Das ist der Grund, warum wir beispielsweise die Online-Durchsuchung brauchen.
Zur Abwehr grenzüberschreitend operierender Terrornetzwerke sind wir auch auf die internationale, europäische, atlantische Zusammenarbeit unserer Polizeien lebensnotwendig angewiesen. Dazu brauchen wir einen internationalen Informationsaustausch und daher Regeln für den Austausch von Informationen und einen wirkungsvollen Datenschutz.
Die politisch schwierigste Aufgabe in dieser Legislaturperiode war für mich als Innenminister die Abschaffung der Grenzkontrollen im erweiterten Schengenraum. Dazu war es notwendig, die Bundespolizei, die in Deutschland die grenzpolizeilichen Aufgaben wahrnimmt, umzuorganisieren, ohne die Sicherheitsstandards in den Grenzregionen zu senken. Wir mussten aufpassen, dass die Schengenerweiterung nicht zu antieuropäischen Ressentiments führt. Die Schengenerweiterung ist gut gelungen, sogar besser als die meisten für möglich gehalten haben. Dazu mussten wir aber in Europa die fehlenden Grenzkontrollen dadurch ausgleichen, dass wir Informationen über entsprechende Systeme austauschen. Wer behauptet, europäische Innenminister seien datensammelwütig, hat eines nicht begriffen: Die Verlagerung der Kontrollen an die europäischen Außengrenzen setzt voraus, dass die Informationen, auf die unsere Polizeien früher bei den Kontrollen an unseren Landesgrenzen zugreifen konnten, heute europaweit abrufbar sind. Nur so können wir Freiheit und Sicherheit in der richten Weise miteinander verbinden. Das Schengener Informations System, Eurodac und andere europäische Informationssysteme ermöglichen also mehr Freiheit in einem zusammenwachsenden Europa, in dem es keine Binnenkontrollen mehr gibt.
Wir müssen bei all dem als Europäer und Angehörige der westlichen Wertegemeinschaft wissen, dass wir gemeinsam bedroht sind. Die Auseinandersetzung mit dem islamistischen Terrorismus ist auch eine Auseinandersetzung um die Modernisierung in dieser Welt. Natürlich gibt es dabei innerislamische Aspekte. Aber es ist auch eine Auseinandersetzung mit modernen westlichen Einflüssen in der islamischen Welt. Die Amerikaner sind in diesen Fragen der innerer Sicherheit unsere Verbündeten und nicht diejenigen, die uns bedrohen. Natürlich machen sie – wie andere Länder auch – gelegentlich Fehler. Aber unsere offenen Gesellschaften zeichnen sich durch die Fähigkeit aus, Irrtümer zu korrigieren.
Mit den neuen Bedrohungen, asymmetrischen Auseinandersetzungen, dem Hinfälligwerden alter Unterscheidungen geht einher, dass die alten rechtlichen Ordnungen nicht mehr vollständig passen. Das gilt für unser nationales Recht ebenso wie für das Völkerrecht. Es ist enorm schwierig, die damit verbundenen Probleme zu lösen. Anzuerkennen, dass wir einen Handlungsbedarf haben, ist aber nicht ein Anschlag auf die Rechtsordnung, sondern der Anfang aller Versuche, rechtlich zu regeln, dass wir den neuen Bedrohungen im Rahmen von Verfassung, Recht und Gesetz unter Gewährleistung der Menschenrechte angemessen begegnen können. Auf rechtliche Regelungen zu verzichten, würde bedeuten, die Verantwortung im Ernstfall auf einzelne Soldaten, Polizisten oder auch Minister abzuschieben. Es gibt ja selbst Verfassungsrichter, die uns sagen, wir sollten uns nicht mit dem Undenkbaren beschäftigen. Ich möchte aber, dass staatliche Organe auch bei einem Ernstfall im Rahmen von Recht, Gesetz und Verfassung handeln können und dass sie nicht in rechtsfreien Räumen handeln müssen. Deswegen brauchen wir neue Antworten – gemeinsam mit unseren internationalen Partnern.
Die Erfahrung zeigt, dass unilaterale Entscheidungen uns nicht weit bringen. Wer aber unilaterale Entscheidungen nicht will, wer auf multilaterale Entscheidungen setzt, muss sich engagieren. Es fällt nicht weiter schwer zu sagen, dass Guantanamo nicht die richtige Lösung ist. Auch die Amerikaner haben das inzwischen erkannt. Aber die Debatte um geeignete Alternativen, die wir auch im Kreis der Innenminister diesseits und jenseits des Atlantiks führen, ist damit nicht beendet, sondern erst eröffnet.
Wir brauchen überzeugende Antworten in diesem weltweiten Konflikt um Modernisierung. Sonst werden wir die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus und womöglich in Zukunft auch durch andere Kräfte, die sich in der modernen Welt zu kurz gekommen fühlen und die Verletzlichkeit unserer modernen Gesellschaft ausnützen, um sich gegen die Moderne zu wehren, nicht bewältigen können. Ich bin mir sicher, dass wir die Bedrohung mit Hard Power alleine nicht meistern werden. Wir brauchen Soft Power, das heißt: überzeugende Antworten, um die wir immer wieder ringen müssen. Das heißt nicht, dass wir auf Hard Power verzichten können. Vielmehr brauchen wir beides in der richtigen Kombination. Dazu müssen wir mehr für eine gerechtere Weltordnung und mehr für Entwicklungszusammenarbeit tun. Wir müssen aber auch in unseren eigenen Gesellschaften vorhandene Defizite im Umgang mit der modernen Welt und bei der Integration besser lösen. Das ist für Deutschland wie auch für andere Länder eine große Aufgabe, für die wir vor allem Soft Power brauchen.
Das bedeutet auch anzuerkennen, dass der Islam in Deutschland eine relevante Religion geworden ist. Rund 3 bis 3,5 Millionen Muslime leben in Deutschland. Der Islam ist ein Teil unseres Landes, unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit geworden und deswegen haben wir die Islamkonferenz und einige andere Integrationsinitiativen begonnen. Sie sollen den Muslimen zeigen, dass es in Europa auch Raum für den Islam gibt – auf der Grundlage unseres europäischen Verständnisses von Freiheit und wertegebundener Freiheitsordnung, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, Pluralismus und Toleranz. Die Muslime in unserem Land müssen sich diese Ordnung zu Eigen machen. Anders geht es nicht.
Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland das Prinzip der wehrhaften Demokratie. Es ist gewonnen aus der Erfahrung des Scheiterns von Weimar und dem Missbrauch durch die Nationalsozialisten. Wir dürfen niemandem unsere Freiheitsordnung als Instrument überlassen, um sie zu beseitigen. Deswegen erfolgt die Einladung, an unserer Freiheitsordnung mitzuwirken, auch in dem Bewusstsein, dass wir selbst vieles lernen müssen und dass Toleranz in unserer offenen Gesellschaft voraussetzt, dass wir selbstbewusst sind, aber auch hinreichend offen für andere.
Wir dürfen Verschiedenheit nicht als Bedrohung empfinden. Fremdheit ist eine Bereicherung. Zugleich gibt es aber klare Prinzipien, auf denen unser Zusammenleben beruht, für die es sich lohnt, in Europa und darüber hinaus einzutreten. Für diese Prinzipien setzen sich diejenigen ein, die der inneren wie der äußeren Sicherheit verpflichtet sind: die Soldaten unserer Armeen, die Polizisten, die politisch Verantwortlichen und alle diejenigen, die sich an der öffentlichen Debatte darüber beteiligen.