Haben Sie Freude am neuen Amt, Herr Schäuble?
Ja.
Gibt es ein Erlebnis aus den ersten Monaten, das sich bei Ihnen besonders eingeprägt hat?
Da muss ich ein bisschen passen. Ich bin ein so altgedienter Parlamentarier, dass ich mich nicht wirklich einarbeiten musste. Neu ist, dass ich jetzt eine andere Verantwortung habe und dass es sechs Fraktionen im Bundestag gibt – so viele wie nie zuvor.
Wie wirkt sich der Einzug der AfD in das Parlament aus?
Die Debatten sind grundsätzlicher und streitiger geworden. Das hat auch etwas Positives, was die Qualität und die Lebendigkeit der Auseinandersetzung angeht. Übrigens sagt die AfD von sich selbst, dass sie sich noch finden muss.
Wie nehmen Sie den anhaltenden Streit zwischen den Unionsparteien wahr, ob der Islam zu Deutschland gehört?
Die Union hat in ihrer Geschichte reichlich bewiesen, dass sie keine andere Partei braucht, um sich zu streiten. Ich habe noch eine lebhafte Erinnerung an 1976 und den Beschluss der CSU von Kreuth, die Fraktionsgemeinschaft aufzukündigen. Ich halte es für klug, dass Horst Seehofer nun die Islamkonferenz wiederbeleben will, die ich 2006 als Innenminister gegründet habe. Ich habe damals als erster Regierungspolitiker gesagt: Der Islam ist ein Teil unseres Landes. Das hat gar nicht so viel Aufregung ausgelöst, weil es eigentlich eine Tatsachenbeschreibung ist. Wenn ich sage, das Wetter ist heute grau, dann ist das auch eine Tatsachenbeschreibung.
Die Frage ist doch, ob die beschriebene Tatsache wünschenswert ist.
Darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein.
Sagen Sie uns Ihre.
Wir liegen immer falsch, wenn wir die Veränderungen, die stattfinden, nicht akzeptieren wollen. Wir müssen mit den Veränderungen leben und versuchen, sie zu gestalten. Wir können nicht den Gang der Geschichte aufhalten. Alle müssen sich damit auseinandersetzen, dass der Islam ein Teil unseres Landes geworden ist.
Bedeutet konkret?
Die Muslime müssen sich klarmachen, dass sie in einem Land leben, das nicht von muslimischen Traditionen geprägt ist. Und der Rest der Bevölkerung muss akzeptieren, dass es in Deutschland einen wachsenden Anteil von Muslimen gibt. Wir brauchen gesellschaftlichen Zusammenhalt und Regeln, die auf den Werten des Grundgesetzes beruhen. Es geht um friedliches Miteinander und das Respektieren von Unterschieden. Das ist eine riesige Gestaltungsaufgabe. Eine freiheitliche Gesellschaft bleibt nur stabil, wenn sie ein hinreichendes Maß an Zugehörigkeit und Vertrautheit vermittelt.
Was ist mit Muslimen, die ihre Religion über das Grundgesetz stellen – und Normen wie die Gleichberechtigung der Frau nicht akzeptieren? Gehören auch sie zu Deutschland?
Es gibt Menschen ganz unterschiedlicher Religionszugehörigkeit, die unsere Regeln nicht akzeptieren wollen. Deswegen haben wir übrigens die Polizei, die Justiz und sogar Gefängnisse. Damit sich alle in unserem freiheitlichen Staat sicher fühlen können, müssen die Regeln für alle gelten. Aber natürlich gehören auch die Rechtsbrecher und die Gefängnisinsassen zu Deutschland.
Wie beurteilen Sie jene, die Judenhass zur Schau tragen?
In den muslimischen Gemeinschaften gibt es viele, die ein starkes Engagement gegen Antisemitismus zeigen. Und in der Geschichte sind Judenpogrome in der islamischen Welt nicht so ausgeprägt gewesen wie in anderen Regionen – um auch das mal zu sagen. Doch gibt es in der Tat die wachsende Sorge, dass radikale Muslime in Europa einen auch vom Antizionismus gespeisten, irrationalen Hass auf Juden verbreiten. Das geschieht besonders in Frankreich, aber auch in Deutschland. Dagegen muss man mit aller Entschiedenheit vorgehen.
Worauf wollen Sie hinaus?
Antisemitismus ist kein speziell muslimisches Problem. Antisemitismus gibt es in Europa seit Jahrhunderten, gerade in Deutschland mit der entsetzlichen Folge des Holocaust – aber jetzt wird er auch durch Migration und durch den von radikalen Kräften in der islamischen Welt geschürten Hass auf Israel wieder stärker. Das zeigt, wie groß die Aufgabe für freiheitliche Gesellschaften ist, Errungenschaften wie Toleranz und Religionsfreiheit unter den Bedingungen des schnellen Wandels und dieser gewaltigen Migration durchzusetzen. Das ist der große Stresstest für die westlichen Demokratien. Und wir in Deutschland können Antisemitismus weniger als jedes andere Land dulden. Die Bekämpfung von Antisemitismus gehört geradezu zum Gründungskonsens der Bundesrepublik Deutschland…
… dem sich am rechten und linken Rand des politischen Spektrums jedenfalls nicht alle verpflichtet fühlen. Teilen Sie die Ansicht, dass große Koalitionen die Extreme stärken?
Ich bin nie ein Anhänger großer Koalitionen gewesen. Man muss sie machen, wenn es keine andere Mehrheit gibt. Ich hoffe, dass diese Regierung die nächsten vier Jahre gut gestalten wird. Die Veränderungen werden so atemberaubend sein wie in der vergangenen Wahlperiode.
Ist der Bundestag mit mehr als 700 Abgeordneten in sechs Fraktionen zu groß geworden? Dringen Sie auf eine Änderung des Wahlrechts wie Ihr Vorgänger Norbert Lammert?
Mein Vorgänger hatte völlig recht, das zu versuchen. Aber eine Änderung des Wahlrechts ist leicht gefordert und schwer erreicht. Der Bundestag ist relativ groß geworden. Unser Wahlrecht ist durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sehr verfestigt, außerdem erfährt es hohe Akzeptanz bei den Wählern. Eine Änderung kommt fast schon der Quadratur des Kreises gleich.
Was schlagen Sie vor?
Ich habe gleich zu Beginn der Wahlperiode mit allen Fraktionsvorsitzenden das Gespräch gesucht, weil jede Wahlrechtsänderung im übergreifenden Konsens beschlossen werden sollte. Unter meinem Vorsitz haben wir eine Arbeitsgruppe gegründet, in die jede Fraktion einen Beauftragten entsandt hat. Aber wer die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein bisschen liest, der sieht, wie schwierig das rein rechtlich wird.
Sprechen Sie in dieser Arbeitsgruppe auch über eine Verlängerung der Wahlperiode?
Nein. Ich persönlich bin auch kein Anhänger einer längeren Wahlperiode. Ich bin ganz zufrieden, dass wir in diesem Jahr nicht schon wieder wählen. (lacht)
Hat es einen Moment seit der Bundestagswahl gegeben, in dem Sie noch gerne Finanzminister gewesen wären?
Nein. Ich bin 75 Jahre alt und war der dienstälteste Finanzminister im G20-Kreis. Alles hat seine Zeit. Die Entscheidung, keine Regierungsverantwortung mehr zu übernehmen, habe ich schon vor der Bundestagswahl getroffen. Das war keine leichte Entscheidung, aber sie war richtig. Ich bereue das nicht.
Was raten Sie Ihrem Nachfolger Olaf Scholz – wie sollte er mit den Ideen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron für eine Reform der Europäischen Union umgehen?
Es ist nicht meine Aufgabe, meinem Nachfolger öffentlich Ratschläge zu geben.
Könnte sich Deutschland überhaupt leisten, Macron vor den Kopf zu stoßen?
Deutschland braucht ein starkes und handlungsfähiges Europa. Die enge Zusammenarbeit zwischen Berlin und Paris ist eine Voraussetzung für europäischen Fortschritt. Die Präsidentschaft von Emmanuel Macron ist eine große Chance für Europa. Keine Gemeinschaft funktioniert ohne Solidarität. Allerdings darf Solidarität nicht dazu führen, dass wir Fehlanreize setzen. Wer für Entscheidungen zuständig ist, muss auch die Folgen verantworten.
Es wenden sich – aus unterschiedlichen Gründen – ganze Nationen von Europa ab…
Die Globalisierung schürt Ängste in der Bevölkerung. Das Votum der Briten für den Brexit ist Ausdruck davon. Auch regionale Bestrebungen nach Autonomie und Unabhängigkeit gewinnen an Bedeutung, das sehen wir gerade in Katalonien. Es wird nicht gut sein, wenn wir diesen Ängsten vor Veränderung einfach nachgeben. Wir müssen die Globalisierung so gestalten, dass die Menschen sich dabei nicht verloren fühlen. Deswegen sind die Spanier gut beraten, das Problem so lösen, dass die Katalanen damit leben können. Und die Briten denken ja schon darüber nach, ob ein Austritt aus der EU wirklich so klug ist. Immerhin haben sie jetzt mit den übrigen Mitgliedstaaten eine Übergangsfrist vereinbart und wollen bis 2020 die Dinge in etwa so lassen, wie sie sind.
Ist der Brexit umkehrbar?
Ich habe durchaus noch Hoffnung, dass die Briten in der EU bleiben. Sie haben nach dem Giftanschlag auf den russischen Ex-Spion in Salisbury gesehen, wie gut es ist, wenn man in der Welt nicht alleine ist. Die Briten erfahren viel Solidarität und fangen an, die Sache etwas differenzierter zu sehen. Sie erkennen: Europa funktioniert.
Und wenn der Brexit trotzdem erfolgt?
Die Tür zur EU bleibt in jedem Fall offen.
Die Katalanen richten eine klare Forderung an Deutschland: Der abgesetzte Regionalpräsident Carles Puigdemont, der in Schleswig-Holstein im Gefängnis sitzt, soll freigelassen werden…
Wir haben die Regeln des europäischen Haftbefehls zu befolgen. Die Entscheidung über Puigdemont scheint alles andere als trivial zu sein. Sie liegt jetzt bei der Justiz, in die ich volles Vertrauen habe.
Wie verbringen Sie die Ostertage, Herr Schäuble?
Wir sind zu Hause in der Familie. Unsere jüngste Tochter wird nicht da sein, weil sie gerade in Amerika lebt. Aber der Rest der Familie wird an Ostern zusammensein. Das ist wunderschön und ein großes Glück. Jetzt muss nur noch das Wetter mitspielen. (lacht)
Was halten Sie von dem Vorschlag, jeden Sonntag politikfrei zu gestalten?
Ach ja. Ich schätze die Sonn- und Feiertagsruhe, sie dient dem Menschen. Allerdings sollten wir nicht zu viel reglementieren. Politiker können einfach Nein sagen, wenn es um Termine am Sonntag geht. Sie gewinnen dadurch unter Umständen sogar mehr Autorität.