Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland über die Deutsch-Französischen Beziehungen



Herr Schäuble, Emmanuel Macron hat seinen Staatsbesuch in Deutschland abgesagt. Bedauern Sie das?

Die Entscheidung ist angesichts der Unruhen in Frankreich verständlich. Die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland sind auf allen Ebenen so eng, dass der Ausfall des Staatsbesuchs kein Drama ist. Es wäre eine Gelegenheit für Deutschland und Frankreich gewesen, sich gegenseitig über ihr Verhältnis zu vergewissern. Präsident Macron und Bundeskanzler Scholz sehen sich aber nahezu wöchentlich, gerade erst beim Europäischen Rat.

In diesem Verhältnis hat es in den vergangenen Jahren an allen möglichen Stellen geruckelt, in der Europa- und der Rüstungspolitik zum Beispiel. Gehört das dazu?

Ich finde nicht, dass solche Verstimmungen normal sein sollten. Deutschland und Frankreich sind die engsten Partner in Europa, mit einer besonderen gemeinsamen Verantwortung. In der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik kommt beiden Ländern eine Führungsrolle zu. Angesichts von Putins Überfall auf die Ukraine gilt das mehr denn je. Deswegen stört es, wenn der Eindruck entsteht, dass die Regierungen in wichtigen Fragen nicht übereinstimmen.

Was hätte konkret anders laufen müssen?

Es wäre gut gewesen, wenn der Bundeskanzler den Vorschlag von Macron aufgenommen hätte, gemeinsam nach China zu fahren. Ein gemeinsamer Auftritt wäre ein starkes europäisches Zeichen gewesen. Und es wäre nötig gewesen, dass Macron auf seine Rede an der Sorbonne 2017 aus Deutschland eine ausreichende Antwort bekommen hätte. Da hat er deutlich gemacht, wie sehr er für Europa brennt. Die Parlamente beider Länder haben dann auf Initiative von Abgeordneten hin eine gemeinsame Kammer, die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung, ins Leben gerufen – das habe ich als Bundestagspräsident gemeinsam mit meinem französischen Kollegen auch sehr unterstützt. Es ersetzt aber nicht das Handeln der Regierung.

Was hätten Sie von Macrons Rede am Dienstag in Dresden erwartet?

Mit Erwartungen sollte man sich zurückhalten, insbesondere in der Rolle, die ich habe, aber: Ich freue mich immer, wenn Macron erneut auf mehr Dynamik in der europäischen Einigung drängt. Er betont oft die Strahlkraft Europas. Diese Dynamik und diesen Enthusiasmus brauchen wir dringend. Europa ist mehr als nur die Europäische Union. Es hat eine wichtige Stabilisierungsaufgabe für ganz Europa, also auch für den westlichen Balkan. China versucht, seinen Einfluss auszubauen. Dem müssen wir etwas entgegensetzen und dem Westbalkan den Weg in die EU ebnen. Das ist der einzige Weg, um in ganz Europa den Frieden zu sichern. Und Europa muss auch seine Rolle weltweit wahrnehmen. Schon einer der Begründer der Europäischen Einigung, Robert Schuman, hat vor rund 70 Jahren beschrieben, dass Europa eine Verantwortung für Afrika hat. Das ist das richtige Verständnis Europas, auch im Jahre 2023.

Macron war jüngst bei Scholz an dessen Wohnort in Potsdam zu Gast, ein quasi privater Besuch. Beide waren in Paris zusammen essen. Hilft das?

Der Bundeskanzler genauso wie der französische Präsident bemühen sich erkennbar, den Eindruck von Irritationen abzubauen. Das sind Anzeichen dafür, dass beide das Problem erkannt haben. Gute persönliche Beziehungen, das persönliche Verständnis und das vertrauensvolle Miteinander sind wichtige Voraussetzungen in der Politik. Sie ersetzen nicht die sachlich richtigen Entscheidungen. Aber es hilft, wenn es unterschiedliche Meinungen und Interessen gibt. Wir sollten jedenfalls nicht versuchen, unsere Position gegen Frankreich durchzusetzen, sondern französische und europäische Interessen zum Gegenstand unserer Politik machen.

Ist der deutsch-französische Motor tatsächlich noch das Zentrum? Oder müssen da andere andocken?

In bestimmten Bereichen, insbesondere in der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, muss die Führung Europas auch von Polen übernommen werden, als wichtigster und größter Vertreter Osteuropas. Deswegen ist es wichtig, dass das Weimarer Dreieck wiederbelebt wurde. In einer Gemeinschaft von derzeit 27 oder womöglich demnächst über 30 Staaten kommt den Größeren eine besondere Verantwortung zu. Und Polen ist neben Deutschland und Frankreich ein unverbrüchlicher Teil des europäischen Kerns.

Gleichzeitig gibt es aber durchaus auch Fliehkräfte in Europa – und in vielen Mitgliedsstaaten einen wachsenden Nationalismus. Wie groß ist diese Gefahr?

Gerade deswegen ist das Projekt umso wichtiger. Wir müssen es eben noch überzeugender erklären. Und vor allen Dingen beweisen, dass wir Probleme gemeinsam besser lösen können, als wenn wir es nicht gemeinsam tun. Das oberste nationale Interesse der Deutschen – und auch aller anderen europäischen Staaten – ist nach den zwei schrecklichen Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts ein gelingendes Europa.

Macrons wollte seinen Besuch in Ludwigsburg beginnen, wo Präsident Charles de Gaulle 1962 seine „Rede an die deutsche Jugend“ gehalten hat. Was verbinden Sie damit?

Das war schon eine große Rede. Der Zweite Weltkrieg war noch nicht so lange her und de Gaulle sprach von „Kindern eines großen Volkes“, das eine große Zukunft hat. Das war ein unglaubliches Signal.

Sie waren damals 20 Jahre alt. Fühlten Sie sich angesprochen?

Ich habe die Rede im Fernsehen verfolgt. Sie hat mich beeindruckt, genauso wie de Gaulles Persönlichkeit und sein Triumphzug durch Europa. Die Rede ist kurz darauf durch Kennedys Rede in Berlin überlagert worden, mit dem Satz „Ich bin ein Berliner“. Und die Amerikaner hatten durch die unmittelbare Bedrohung durch die Sowjetunion auch ein anderes Gewicht. Aber ich habe mich Frankreich immer verbunden gefühlt.

Sie sind im Schwarzwald aufgewachsen, in der französischen Besatzungszone. Wie haben Sie das erlebt?

Ich habe die französische Besatzung nie als etwas Lästiges empfunden. Wir sind friedlich aufgewachsen. Der Kommandierende Offizier unserer Kleinstadt war in dem Haus einquartiert, in dem meine Familie wohnte. Es war ein sehr freundliches Miteinander. Geprägt hat mich dann auch Adenauers Politik der deutsch-französischen Aussöhnung, der europäischen Einigung und der Westintegration in den 50er-Jahren. Dann kam Helmut Schmidt und seine enge Freundschaft zu Giscard D’Estaing. Und Helmut Kohl hatte mit François Mitterrand eine sehr vertrauensvolle Beziehung, in der es auch viel um die europäische Einigung ging. Nach dem Fall der Mauer gab es einen Moment der Krise, weil Frankreich die Konkurrenz durch ein größeres, wirtschaftlich stärkeres Deutschland befürchtete. Aber die Irritationen waren schnell überwunden. Das war auch eine der großen Leistungen von Helmut Kohl.

Gerhard Schröder und Jacques Chirac schienen auch zurechtzukommen. Angela Merkel hat dann Chirac, Nicolas Sarkozy, François Hollande und Macron erlebt.

Schröder und Chirac lagen sich auch von ihrer Art her nahe. Und wahrscheinlich haben sie sich auch kulinarisch gut verstanden. Frau Merkel ist mit ihren Amtskollegen so umgegangen, wie es der Verantwortung einer deutschen Bundeskanzlerin gebührt. Aber sie war in solchen Beziehungen nicht so sehr emotional engagiert, sondern eher rational – vielleicht mit Ausnahme von Obama. Sie hat mich gelegentlich gebeten, zu ihren Treffen mit Sarkozy dazuzukommen. Mit Sarkozy war es ja manchmal nicht so einfach. Ich kannte ihn lange, unter anderem waren wir gleichzeitig Innenminister. Da konnte ich mit ihm in einer anderen Weise umgehen.

Es gibt eine Beauftragte für deutsch-französische Beziehungen im Auswärtigen Amt. Gerhard Schröder hatte sich zu diesem Thema Brigitte Sauzay, die ehemalige Dolmetscherin Mitterrands, als Beraterin ins Kanzleramt geholt. Braucht es so jemanden wieder im Kanzleramt?

Die Position von Beauftragten wird überschätzt. Der Bundeskanzler und der französische Präsident sind selbst die allerersten Beauftragten für die deutsch-französischen Beziehungen. Als Finanzminister habe ich immer französische Beamte mit ins Ministerium geholt, die unsere Positionen mit erarbeitet haben. Das war enorm hilfreich. Mir war bei politischen Entscheidungen immer wichtig, die Interessen Europas und Frankreichs mit im Blick zu haben.