Die Mauer ist weg! Seit heute genauso lange, wie sie Berlin und unser Land geteilt hat. Kein gewöhnlicher Tag also.
28 Jahre sind in der Geschichte einer Nation eigentlich nichts Besonderes. Im Leben von Menschen schon. Die
Berliner Mauer hat sich in die Biografie von Generationen in Ost und West eingeschrieben.
Diese Mauer ist Vergangenheit, sie ist Teil unserer Geschichte – und darin keine Fußnote. Sie steht für politische Verblendung, Kontrollwahn, Machtbesessenheit. Ihr Fall erzählt vom Bürgermut, vom Drang nach Freiheit, Selbstbestimmung und einem besseren Leben. Seit der Friedlichen Revolution in der DDR wissen wir, dass Mauern Menschen nicht dauerhaft aufhalten.
Heute wächst die Jugend ganz selbstverständlich im geeinten Deutschland auf. Was für ein Kontrast zu der Zeit, als die Welt in Ost und West geteilt war und es zwei Staaten in Deutschland gab, als Familien getrennt blieben, Soldaten und Selbstschussanlagen die Grenze zur mörderischen Falle machten – und der Umgang mit der Diktatur westdeutsche Politiker auf die Probe stellte.
Bei der Mauer haben wir die Bilder vom 13. August 1961 vor Augen, denken wir an die 70er Jahre mit ihren hochemotionalen Debatten um die Neue Ostpolitik – „Wandel durch Annäherung“. Und natürlich an den Herbst ‘89, der die Wiedervereinigung erst ermöglichte.
Dazwischen liegen die 80er Jahre – ein Jahrzehnt, in dem niemand ahnte, dass die Mauer verschwinden würde und mit ihr die innerdeutsche Grenze. Als es in der Deutschlandpolitik der Bundesregierung noch darum ging, die Mauer wenigstens etwas durch lässiger zu machen, um so auch an der Einheit der Deutschen festzuhalten.
Die Weltlage war mit zwei verfeindeten, atomar hochgerüsteten Systemen zementiert. Im sowjetischen Machtbereich galt die ‚Breschnew-Doktrin‘, das postulierte Recht zur militärischen Intervention in sozialistische Staaten. Sie legitimierte nachträglich den Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 – und 1979 den Krieg inAfghanistan. Dass Aufstände gegen die Staatsmacht militärisch niedergeschlagen würden, war bereits am 17. Juni 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn und Polen demonstriert worden. Es dauerte bis weit in die 80er Jahre, bis sich die sowjetische Führung unter Michail Gorbatschow von dieser Doktrin zu lösen begann.
Allen war damals bewusst, dass der Schlüssel zur deutschen Einheit nicht in unseren Händen lag. Aus der DDR-Verfassung waren längst sämtliche Hinweise auf die „deutsche Nation“ getilgt, die SED-Führung beanspruchte volle staatliche Souveränität. Und auch wenn die Präambel des Grundgesetzes die Deutschen dazu verpflichtete, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“, war der Glaube daran vielen Bürgern der Bundesrepublik geschwunden.
Der Grundlagenvertrag, um den in der Bundesrepublik heftig gestritten wurde, hatte 1972 dem SED-Staat Anerkennung zugestanden – staatsrechtlich, nicht völkerrechtlich. Das war mehr als eine juristische Spitzfindigkeit.
In der Realität der Zweistaatlichkeit beharrten beide Seiten auf ihren Grundsätzen. Neue Ostpolitik hieß in der Praxis seitdem, dass Bonn und Ost-Berlin die Gegensätzlichkeit ihrer Positionen anerkannten und über das dennoch Machbare verhandelten. Mit dem Ziel auf westdeutscher Seite, den Menschen beiderseits der Grenze die Folgen der Teilung zu erleichtern. Um Landsleuten zu helfen, musste sich die Bundesrepublik also mit denen einlassen, die ihre Bürger unterdrückten. Das empfanden viele als Zumutung.
Anfang der 80er, mitten im Ringen um den NATO-Doppelbeschluss, standen die Chancen dafür nicht günstig. Der Bonner Regierungswechsel 1982 löste zusätzlich Befürchtungen aus, Ost-West-Kontakte könnten eingefroren werden, eine Abkehr von der „Politik der kleinen Schritte“ drohen.
Doch Helmut Kohl signalisierte Kontinuität, wobei er zugleich betonte, dass Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl nicht das letzte Wort der Geschichte sein könnten. Die Bundesregierung setzte die Verhandlungen mit der DDR über menschliche Erleichterungen fort. Und sie hielt am Wieder vereinigungsgebot fest. Den vier Geraer Forderungen Erich Honeckers gab sie nicht nach. Der SED-Generalsekretär hatte 1980 die Festlegung der Elbgrenze auf der Flussmitte gefordert, die Abschaffung der Zentralen Erfassungsstelle für SED-Unrechtstaten inSalzgitter, die Anerkennung der DDR-Staats bürgerschaft und die Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften.
Die desaströse Wirtschaftslage der DDR spielte der Bundesregierung in die Hände. Der Arbeiter- und Bauernstaat brauchte dringend Devisen. Zugeständnisse in humanitären Fragen konnten in harter Währung sprichwörtlich ‚erkauft‘ werden. Die Grundformel lautete: Finanzielle Leistungen gegen menschliche Erleichterungen. Das war durchaus fragwürdig und es machte angreifbar. Wir stießen deshalb in den Verhandlungen mit der SED-Spitze immer wieder an Grenzen und mussten uns die Frage nach der eigenen moralischen Integrität stellen. Immerhin konnten wir selbst gegen den Druck aus Moskau eine Eiszeit in den deutsch-deutschen Beziehungen verhindern.
Die Fäden der Deutschlandpolitik liefen im Kanzleramt zusammen. Beziehungen entwickelten sich auf unterschiedlichen Ebenen, auch zwischen Helmut Kohl und Erich Honecker – per Telefon, in Briefwechseln, bei persönlichen Begegnungen. „Begräbnisdiplomatie“: Dieser Begriff bürgerte sich ein, als Bundeskanzler und SED-Generalsekretär am Rande von Trauerfeiern für die kurz hintereinander verstorbenen sowjetischen Staatschefs Andropow und Tschernenko in Moskau zusammentrafen. Das war Jahre vor Honeckers umstrit tener offizieller Visite in Bonn 1987.
In Ost-Berlin betrieb die Ständige Vertretung weiterhin intensive Kontakt pflege vor Ort, das Bonner Wirtschaftsministerium unterhielt eine Treuhandstelle für den innerdeutschen Handel. Familienzusammenführungen, Abschiebungen in den Westen und den Gefangenenfreikauf wurden diskret über das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen geregelt. Es war der DDR ein Dorn im Auge, denn aus ihrer Sicht mischte es sich in die „inneren Angelegenheiten“ ein. Diesen Vorwurf erhob Ost-Berlin immer dann, wenn die Bundesregierung gegen Menschenrechtsverletzungen protestierte oder Verstöße gegen deutsch-deutsche Übereinkommen beklagte.
Für Fortschritte in den Beziehungen sorgten Gesprächskanäle der Bundesregierung über Rechtsanwalt Wolfgang Vogel und DDR-Unterhändler Alexander Schalck-Golodkowski. Sie waren streng vertraulich. Alle Beteiligten wussten, dass beide nicht nur zu Honecker enge Beziehungen unterhielten. Die Staatssicherheit war allgegenwärtig. Schalck verhandelte über Geld, Vogel über Ausreiseersuchen – und über den Freikauf von Häftlingen. Eine hochsensible Angelegenheit, denn dabei ging es um persönliche Schicksale und um innerdeutschen Menschenhandel, bei dem das Regime Häftlinge als Devisenquelle nutzte. Damit DDR-Bürger nicht ermuntert wurden, auf diese Weise selbst ihre Ausreise zu erzwingen, sollten Freikäufe kein öffentliches Thema sein.
1983 staunte die bundesdeutsche Öffentlichkeit allerdings nicht schlecht: Ausgerechnet Franz Josef Strauß fädelte an der Seite des unlängst verstorbenen Philipp Jenninger mit dem DDR-Unterhändler Milliarden-Kredite für die DDR ein – für einen Unrechtsstaat, schuldig schwerer Menschrechtsverletzungen. Das bedeutete ein moralisches Dilemma, gewiss, aber es war das Ergebnis kühler Abwägung im Kalten Krieg. Denn für Westgeld gab es humanitäre Zusicherungen: Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze wurden abgebaut, Familienzusammenführungen erleichtert und Kinder vom Zwangsumtausch befreit.
Als Chef des Bundeskanzleramtes führte ich ab 1984 intensive Gespräche mit den DDR-Unterhändlern. Ich erlebte das monatelange Ringen um winzige Fortschritte. Alles hing mit allem zusammen. Forderungen wurden miteinander verknüpft, was die Gespräche zu einem politischen Handel von großer Komplexität machten. Die Verhandlungen waren delikat, für beide Seiten. Wo es in der Bundesrepublik den Zusammenhang zwischen Kredit und Zugeständnissen brauchte, um die Geldleistungen an die klamme Diktatur zu rechtfertigen, blieb die DDR sorgsam darauf bedacht, das Junktim nicht bekannt werden zu lassen.
Ein Beispiel dafür sind die Verhandlungen über die Neufestsetzung der Transitpauschale. Die DDR forderte seit 1972 für die Nutzung der Transitverbindungen nach West-Berlin pauschal hohe Millionenbeträge – 1988 fast 10 Milliarden DM für einen Zeitraum von zehn Jahren. Das war Westdeutschen nur bei sichtbaren Gegenleistungen im erleichterten Transitverkehr zu vermitteln. Und wenn die Verhandlungen mit anderen offenen Fragen zur Linderung der Teilungsfolgen verbunden wurden, etwa der Verbesserung von Reisemöglichkeiten für DDR-Bürger. Dazu zählte auch der Umweltschutz, insbesondere die Gewässer-Reinhaltung der Flüsse aus dem Osten. Neben der Kali-versalzenen Werra betraf das die hochgradig verschmutzte Elbe. Mittelfristig drohte ein ‚Umkippen‘ im Hamburger Hafen, was die Bundesregierung für Zugeständnisse erpressbar machen konnte. Das deshalb 1988 von mir geforderte Koppelgeschäft aus Transitpauschale und Elbsanierung war brisant. Die DDR machte Honeckers Forderung nach Grenzziehung in der Mitte der Elbe zur Verhandlungsmasse. Für uns war das unannehmbar, denn unter keinen Umständen wollten wir über die Grenzregelung die Teilung legitimieren. Die Konsultationen zogen sich über Monate. Am Ende stimmte die DDR zu, ohne dass es zu Zugeständnissen bei der Grenzfrage gekommen war – ihre Abhängigkeit vom Westgeld gab erneut den Ausschlag.
Ich empfand den Deal über die Transitpauschale als großen Erfolg, für den es allerdings eine Bedingung gab: Wieder sollte kein Junktim erkennbar sein. Auch die vereinbarte Wiederaufnahme von Gesprächen über die Reinhaltung der Elbe wurde erst später öffentlich gemacht.
Kleine Zugeständnisse und große Kredite: Die eingespielte Form deutsch-deutscher Verständigung war überholt, als sich immer mehr DDR-Bürger dafür entschieden, ihren Staat zu verlassen. Auf die Abstimmung mit den Füßen von bald Hunderttausenden konnte nicht mehr mit der „Politik der kleinen Schritte“ reagiert werden. Dass zuvor immer mehr Ausreisegenehmigungen erteilt, die Familienzusammenführung erleichtert, erste Städtepartnerschaften ins Leben gerufen und die Zahl der jährlichen Westreisen erheblich gesteigert werden konnten – diese Erfolge der Deutschlandpolitik in den 80er Jahren stehen für sich. Waren sie zu teuer erkauft? Wurde mit dem Westgeld womöglich dazu beigetragen, die DDR-Führung in einer Zeit zu festigen, als die SED-Spitze nicht einmal mit Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion umzugehen verstand? Ich bin überzeugt, dass die ermöglichten Ausreisen zur Destabilisierung der DDR beitrugen. Und auch die Westreisen, durch die DDR-Bürger das „kapitalistische Ausland“ erlebten und ihre West-Erfahrungen in den maroden Osten trugen. Die Deutschen blieben einander nahe, über all die Jahre der scheinbar unumkehrbaren Teilung.
Nichts ist voraussetzungslos. Konkrete Auswirkungen der Deutschlandpolitik auf die Entwicklungen 1989 bleiben spekulativ. Dennoch sind diese Jahre ein noch immer spannendes politisches Lehrstück über Festigkeit in Grundsatzfragen und die Bereitschaft zu pragmatischer Zusammenarbeit, über den schmalen Grat zwischen dem, was politisch machbar und moralisch vertretbar ist.
Nach offiziellen Gesprächen mit der SED-Führung am 9. und 10. November 1988 wurde der Durchbruch bei derBekämpfung der Elbeverschmutzung endlich bekannt gegeben. Doch der mühsam errungene Verhandlungscoup ging in der Aufregung um Jenningers Rede zum Gedenken an die Pogrome gegen die deutschen Juden unter.
Transitpauschale und die im Frühjahr 1989 tatsächlich wieder aufgenommenen Verhandlungen zur Elbsanierung wurden von den Ereignissen überholt, die Berlin veränderten, unser Land und die Welt. Erich Honecker hatte im Gespräch mit mir an jenem 10. November 1988 gesagt, die Geschichte könne man nicht neu schreiben. So steht es im DDR-Protokoll. Im Jahr darauf gelang durch revolutionären Bürgermut Historisches – das steht heute in jedem Geschichtsbuch.
(erschienen in der FAZ, 5.2.2018)