Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sontagszeitung vom 1. Mai 2016. Von Ralph Bollmann und Rainer Hank
FAS: Herr Schäuble, Ihr Vater hat die Schule nach der mittleren Reife verlassen, Sie selbst haben es zum Bundesfinanzminister gebracht. Sie sind ein Aufsteiger.
Unsere Familiengeschichte ist eine, wie sie fürs 20. Jahrhundert typisch war. Mein Großvater war ein Arbeiter bei der Uhrenfabrik Junghans in Schramberg. Die Vermögensverhältnisse waren nicht so, dass mein Vater Abitur machen konnte. Deshalb hat er eine Lehre absolviert, sich zum kaufmännischen Leiter hochgearbeitet, sich als Steuerberater selbständig gemacht.
FAS: War er die Ausnahme in der Familie?
Seine Schwester ging in die Schweiz als Dienstmädchen „in Stellung“, wie das damals hieß. Dann bekam sie als unverheiratete Frau ein Kind und hatte wirklich zu kämpfen. . Sie hat ihr Leben dem Sohn gewidmet, ihm eine gute Ausbildung ermöglicht, er wurde ein erfolgreicher Geschäftsmann. Für uns war sie nach dem Krieg eine vornehme Dame. Sie kam ja aus Luzern, aus einer unzerstörten Welt.
FAS: War es bei Ihnen selbst von Anfang an klar, dass Sie aufs Gymnasium gehen?
Aus dem bildungsbürgerlichen Anspruch meines Vaters war das selbstverständlich, auch für meine beiden Brüder. Wir waren ja alle in der Schule nicht schlecht. Bei meinem Vater galt das Prinzip: Durchschnitt haben wir genug.
FAS: Es gab für Sie keine Einschränkungen?
[…]
FAS: Gab es dann Diskussionen, ob Sie studieren dürfen?
Wenn man Abitur machte, hat man hinterher auch studiert. Das war damals ganz normal. Am Ende haben die drei Söhne verwirklicht, was schon der Vater wollte, was ihm aber noch unerreichbar war. Offenbar hatte er mittelbar einen starken Einfluss, auch wenn er uns keine Vorschriften gemacht hat.
FAS: Das Geld fürs Studium war da?
Nicht sofort. Nach dem Abitur musste ich ein halbes Jahr als Praktikant bei der Sparkasse arbeiten, bis mein Bruder sein Examen fertig hatte. Zwei Söhnen zur gleichen Zeit das Studium zu finanzieren, das war ein bisschen viel.
FAS: Mussten Sie während des Studiums auch jobben?
In den Semesterferien habe ich in der Steuerkanzlei meines Vaters gearbeitet, für private Wünsche haben wir etwas Geld dazuverdient. Aber um die Grundversorgung hat sich der Vater gekümmert, das gehörte zu seinem Stolz. Um ein Stipendium haben wir uns nie bemüht, das wollte mein Vater nicht.
FAS: Weil er fand: Man macht sich vom Staatsgeld nicht abhängig?
Die Einstellung war: Das brauchen wir nicht, das machen wir selbst. Aber ich kann mich nicht beschweren. Es war eine kleinbürgerliche, kleinstädtische Atmosphäre. Wir litten keine Armut.
FAS: Dann gingen Sie in die Finanzverwaltung. Weil Sie schnell ein sicheres Einkommen wollten?
Ich wollte immer Anwalt werden, wie mein älterer Bruder. Der hatte mich bedrängt: Geh‘ erst mal in die Steuerverwaltung, da bist du als Wirtschaftsanwalt noch mal besser qualifiziert. Das haben damals viele gemacht. Dann kam bei mir die Politik dazwischen.
FAS: Sie haben gesagt, das ist eine Familiengeschichte aus dem 20. Jahrhundert. Heute sind solche Aufstiegsgeschichten nicht mehr so leicht möglich?
Die jungen Leute haben es doch heute leichter! Schon weil das Bildungssystem viel besser ausgebaut ist.
FAS: Es hat sich gar nichts verschlechtert?
Die Lebenswege sind weniger planbar geworden. Aber wenn Sie heute als junger Mensch im Handwerk eine Lehre machen, haben Sie ziemlich gute Chancen. Auch in akademischen Berufen. Es müssen ja nicht alle Betriebswirtschaft studieren.
FAS: Was ist mit der Abstiegsangst der Mittelschicht, die ihre Kinder ins Internat nach England schickt, damit sie den sozialen Status halten kann?
So etwas gab es zu meiner Zeit auch schon. Mein erstes Gymnasium in Triberg hatte auch ein Internat. Die Schüler kamen zum Teil aus Familien, die man heute noch in den Vermögensstatistiken findet. Für unsereinen war immer klar, dass es da einen sozialen Abstand gibt. Heute gehen auch ganz normale Schüler für ein Jahr nach Amerika. Solche Möglichkeiten hatten wir damals nicht.
FAS: Die ganze Ungleichheitsdebatte ist also an den Haaren herbeigezogen?
Armut und Ungleichheit werden ja oft in absoluten Größen gemessen. Es geht bei uns in der Diskussion aber immer um Relationen: Wenn Sie alle Einkommen verdoppeln, bleibt die Zahl der Armen nach dieser Definition gleich hoch. Das ist absurd. Und dann verwechselt man Einkommen und Vermögen, und beim Einkommen nimmt man oft Brutto statt Netto – ohne die Umverteilung durch das Steuer- und Sozialsystem zu berücksichtigen.
FAS: Dann können wir das Thema also gleich beenden?
Die Debatte ist schon wichtig. Am oberen und unteren Rand sind die Ausfransungen größer geworden. Die Globalisierung vergrößert den Druck gerade auf die geringer Verdienenden. Hinzu kommen Exzesse in der Außendarstellung. Früher waren die Wohlhabenden diskreter.
FAS: Seit die Firmen ihre Vorstandsgehälter öffentlich ausweisen müssen, ist es mit der Diskretion sowieso vorbei.
Ich habe kein Verständnis dafür, wenn man ein großes Dax-Unternehmen erst in eine existenzbedrohende Krise führt und dann in einer öffentlichen Debatte die eigenen Boni verteidigt. Das zeigt, dass etwas nicht funktioniert.
FAS: Als Finanzminister sind Sie im Kabinett für Verteilungsfragen zuständig. Verteilt unser Steuersystem zu viel oder zu wenig um – oder genau richtig?
Genau richtig, das gibt es gar nicht. Und das Steuersystem soll ja nicht nur umverteilen. Es muss vor allem die öffentlichen Haushalte ordentlich finanzieren – und zwar so, dass einerseits die Wirtschaft funktioniert und andererseits das Gefühl der Fairness nicht verloren geht.
FAS: Arbeitseinkommen sind in Deutschland sehr hoch belastet, Alleinstehende zahlen oft 50 Prozent an Steuern und Abgaben. Ist das zu viel?
Das liegt an den Sozialabgaben und damit auch an einem Sozialsystem, das gerade dem Mittelstand eine gute Absicherung bietet. Die Steuerquote dagegen ist in Deutschland nicht zu hoch, und nur dafür bin ich als Finanzminister zuständig.
FAS: Das muss man doch addieren?
Natürlich kommt beides zusammen. Der Druck auf das Sozialsystem wächst. Vor allem zwei Dinge erfordern Anpassungen: der erfreuliche medizinische Fortschritt und der demographische Wandel. Wir müssen uns auch fragen, ob wir immer die richtigen Anreize setzen? In Deutschland werden zum Beispiel so viele künstliche Hüftgelenke eingesetzt wie kaum irgendwo sonst auf der Welt. Da fragt man sich, sind wir Deutschen eine hüftkranke Nation, oder hat das vielleicht andere Gründe?
FAS: Bei den Renten sind Sie gerade dabei, die Beiträge weiter nach oben zu treiben.
Das stimmt nicht. Das Problem besteht doch darin, dass heute auch wegen veränderter Familienstrukturen vor allem viele Frauen im Alter eine niedrige Rente haben. Wenn eine Frau nur von ihren eigenen Beiträgen ihre Rente bestreiten muss, dann reicht das oft nicht sehr weit – gerade bei der Generation, die jetzt schon in Rente ist.
FAS: Dafür gibt es die Grundsicherung.
Sie liegt nicht höher als das Existenzminimum, das ohnehin jeder bekommt. Wenn einzelne nach 40 Jahren Arbeit am Ende nicht mehr Rente bekommen, als wenn man nicht gearbeitet hätte. Das empfinden viele als ungerecht.
FAS: Auf Arbeitseinkommen sind bis zu 45 Prozent Einkommensteuer fällig, Kapitaleinkünfte werden nur mit 25 Prozent Abgeltungssteuer belastet. Ist das gerecht?
Ich war nie ein Freund der Abgeltungssteuer. Aber mein Vorgänger Peer Steinbrück hatte recht, als er sie mit dem schönen Satz begründete: Besser 25 Prozent von x als 45 Prozent von nix. Bei der Besteuerung von Kapitaleinkommen stoßen wir in Zeiten der Globalisierung nun mal an Grenzen.
FAS: Sie haben Steuer-CDs gekauft und wollen gegen Offshore-Geschäfte in Panama vorgehen. Sind da noch so viele Löcher offen?
Bevor wir an den Steuersätzen etwas ändern, muss der automatische Informationsaustausch mit allen Ländern funktionieren. Wir müssen auch wissen, wer hinter anonymen Stiftungen oder Briefkastenfirmen steht. Das ist technisch alles gar nicht so einfach. Aber wir sind auf gutem Wege.
FAS: Wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, schaffen Sie die Abgeltungsteuer ab?
So habe ich das vorgeschlagen. Dann könnten wir in der nächsten Wahlperiode sogar einmal überlegen, den allgemeinen Einkommensteuersatz zu senken.
FAS: Eine Flat Tax von 25 Prozent auf alles, wie es der Jurist Paul Kirchhof einst forderte?
Kirchhof hatte gar keine Vorstellung, wie man an „alles“ überhaupt herankommt. Auf meine Frage nach der Besteuerung juristischer Personen sagte er: Das Problem haben wir noch nicht gelöst. Da fängt’s aber überhaupt erst an!
FAS: Warum?
Als ich Steuerrecht gelernt habe, galt noch das Prinzip: Körperschaften sind genauso zu behandeln wie natürliche Personen. Heute machen die meisten Steuersysteme einen Unterschied. Bei der Körperschaftsteuer für Unternehmen haben wir faktisch eine Flat Tax von 30 Prozent.
FAS: Welches Gerechtigkeitsargument gibt es bei Privatpersonen für die Progression – also dafür, dass die Steuerlast nicht parallel zum Einkommen ansteigt, sondern überproportional?
Ganz einfach: Dem Chefarzt bleibt noch genug zum Leben übrig, wenn er von seinem Einkommen 45 Prozent abgeben muss. Seine Sekretärin hätte schon bei 25 Prozent Mühe, überhaupt noch ihre Miete zu bezahlen. Würden wir die Progression abschaffen, müssten wir als Ausgleich eine Vermögensteuer einführen.
FAS: Warum nicht? Die Steuern auf selbst erarbeitetes Einkommen zu senken und sie auf leistungsloses Vermögen zu erhöhen wie in Amerika – das klingt doch gerecht?
Die Amerikaner haben eine ganz andere Akzeptanz dafür, in welchem Ausmaß man sich in einer einzigen Generation bereichern kann. Die kontinentaleuropäische Tradition ist eine andere. Die Bindung an Vermögen in der Generationenabfolge hat bei uns eine hohe Bedeutung. Das hat, wie auch der Sozialstaat, mit dem höheren Sicherheitsbedürfnis durch Kriege und Katastrophen zu tun.
FAS: Und dieses europäische Sozialmodell funktioniert so gut wie immer, sagen Sie?
Das kommt darauf an, von wem Sie reden. Von den Eltern mit Abstiegsängsten, die ihre Kinder nach England aufs Internat schicken? Von den Leuten, die sich über die niedrigen Sparzinsen beschweren? Oder von den Hartz-IV-Empfängern, die das alles als Luxusdebatte empfinden?
FAS: Sie verteidigen auf einmal die Nullzinspolitik von EZB-Präsident Mario Draghi?
Ich dachte, wir reden über Gleichheit und Ungleichheit?
FAS: Hat das nicht miteinander zu tun: Wer viel Geld hat, legt es mit guter Rendite in Immobilien und Aktien an. Die anderen bekommen für ihr Sparbuch keine Zinsen mehr?
Für die weniger Privilegierten ist doch viel wichtiger, dass es keine Geldentwertung gibt. Übrigens war der Sparzins auch zu D-Mark-Zeiten oft nicht höher als die Inflationsrate.
FAS: Aber die Leute hatten das Gefühl, …
…, dass drei Prozent mehr sind als null Prozent, ich weiß – auch wenn es real aufs Gleiche hinausläuft. Diese Dinge sind nicht so einfach objektivierbar. Das sind eher subjektive Empfindungen. Nur mit Zahlenreihen kann man wirtschaftliche Phänomene halt nicht erklären, anders als die meisten Ökonomen glauben.
FAS: Wollen Sie die ganze Debatte zur Psychologie erklären?
Ich rede nicht von Psychologie. Sondern von subjektivem Empfinden. Die Menschen müssen das Gefühl haben, es geht im Großen und Ganzen fair zu. Sonst können Sie den Leuten hundertmal erklären, dass sie nicht recht haben – es nützt nichts. Deshalb muss man solche Stimmungen ernst nehmen.
FAS: Spielt das eine Rolle beim Aufstieg der AfD?
Das hat vor allem mit der rasanten Veränderung in allen Lebensbereichen zu tun. Schneller Wandel schafft Abwehrkräfte. Aber die Volksparteien dürfen sich dadurch nicht verleiten lassen, prinzipienlos zu werden und jedem Recht geben zu wollen. Das wäre grundverkehrt. Und schon gar nicht dürfen wir den Menschen Versprechungen machen, von denen jeder ahnt, dass sie nicht gehalten werden können.
FAS: Sie sollen auch nicht jeder Ungleichheitsdebatte hinterherlaufen, meinen Sie?
Zumindest nicht mit kurzem Atem. Das Ringen mit der Ungleichheit ist eine beständige Aufgabe. Schon Ludwig Erhard hat vom Maßhalten gesprochen, weil er wusste: Die Marktwirtschaft neigt zu Exzessen, sie braucht immerwährende Korrekturen zur Mitte hin. Das ist die Stärke von Volksparteien.