Staat und Religion in der pluralen Gesellschaft



Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Rahmen der Heidelberger Hochschulreden in Heidelberg

Es ist noch nicht lange her, da waren sich viele Experten einig, dass die Religion etwas sei, womit man nicht mehr lange zu rechnen brauche. Der amerikanische Anthropologe Anthony F.C. Wallace stellte in den 60er Jahren die Prognose auf, dass die Religion mit dem globalen Zivilisationsfortschritt weltweit aussterben werde. Andere gingen nicht ganz so weit, aber die meisten nahmen an, dass die zunehmende Modernisierung die religiösen Bindungen schwäche. Wo solche Bindungen bestehen blieben, würden sie eine rein private Angelegenheit sein, für politische Fragen also unerheblich.

Die tatsächliche Entwicklung schien dieser These Recht zu geben. Die Mitgliedschaften in den großen Kirchen gehen zurück – dieser Prozess ist nicht neu. Er wurde aber erst in den letzten Jahrzehnten deutlich spürbar. Auch die große Mehrheit derjenigen, die einer Kirche angehörten, war der Ansicht, Religion sei eine Sache des persönlichen Glaubens, die man aus der politischen Auseinandersetzung weitgehend heraushalten sollte. Das Zauberwort hieß „Säkularisierung“: Die modernen Institutionen sollten aus ihrer traditionellen Verklammerung mit religiösen Werten und Inhalten gelöst werden. Religion in einer säkularen Gesellschaft sollte heißen: Religion in einem Umfeld, das in seinen wesentlichen Funktionen ohne die Religion auskommt – eine Art Ornament, das manche Momente feierlicher macht, aber darüber hinaus ohne Bedeutung für den eigentlichen Gang der Dinge ist.

Diese Interpretation hatte Auswirkungen darauf, wie wir den Rest der Welt betrachteten. Es war klar, dass die politische Bedeutung von Religion – sei es der christlichen oder anderer – in anderen Teilen der Welt größer war als bei uns. Es galt aber als ausgemacht, dass sich die Modernität einer Gesellschaft nicht zuletzt daran zeige, wie ‚säkular’ sie war. So wurde ein Rückstand in der Säkularisierung zu einer allgemeinen Rückständigkeit, von dem man hoffen musste, dass sie langsam, aber sicher überwunden würde.

In den vergangenen Jahren hat sich dieser Eindruck verändert. In den USA hat die These, dass Modernisierung und Religion nicht zusammenpassen, ohnehin noch nie gestimmt. In den letzten Jahren und Jahrzehnten gab es auch in vielen anderen Teilen der Welt wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierungen. Die Demokratie hat in den letzten 15 Jahren in einer Vielzahl von Ländern Einzug gehalten, die mit diesem Gesellschaftsmodell bislang wenig oder keine Erfahrung gemacht hatten. Es gibt aber keine Anzeichen dafür, dass außerhalb Westeuropas die gleiche Entwicklung stattfindet, die man hier mit dem Begriff der Säkularisierung im Blick hatte.

Eine Ausnahme bilden vielleicht einige ehemalig kommunistische Länder Ostmitteleuropas, die eine ganz besondere Geschichte haben. Angesichts dessen ist dann wieder die Entwicklung in Russland umso bemerkenswerter, einem Land, in dem während eines Großteils des 20. Jahrhunderts eine Politik vorherrschte, die die Religion aktiv unterdrückt hat. 2001 sagte Präsident Putin, sein Land habe freiwillig „die Rolle einer Hüterin der wahren christlichen Werte [übernommen]. Unbedingt muss man jenen zustimmen, die meinen, dass ohne Christentum, ohne orthodoxen Glauben, ohne die daraus erwachsene Kultur Russland gar nicht hätte entstehen können.“

Man könnte die Beispiele aus unserer globalisierten Welt fast beliebig vermehren. Auch bei uns in Deutschland hat sich die Diskussion in den letzten Jahren verschoben. Sicherlich – der Mitgliederschwund der großen Kirchen hält an, und auch die allgemeine Alphabetisierung in der christlich-jüdischen Tradition scheint nachzulassen. Gleichzeitig gibt es aber auch eine gegenläufige Entwicklung: Angesichts der großen Aufgaben, vor denen unsere Gesellschaft steht, ist vielen Menschen wieder stärker bewusst geworden, wie wichtig Werte sind, die Orientierung geben und die Grundlage sind für die Verantwortung individueller Entscheidungen. Viele sehen die Bedrohung, die unserer Welt durch scheinbar „unbegrenzte“ Möglichkeiten drohen, und sie sehen die Notwendigkeit des Maßhaltens, die Bedeutung von Grenzen als Vorkehrung gegen Übertreibungen.

Die Debatte über den Gottesbezug in der Verfassung der Europäischen Union, über Stammzellenforschung, aber auch – in ganz anderer Weise – die öffentliche Anteilnahme an der Person des letzten Papstes während seiner letzten Tage deuten darauf hin, dass wir sensibler werden für die Bedeutung religiöser Fragen. Ein interessantes Beispiel ist Jürgen Habermas, der sich selbst (mit Max Weber) als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet und doch in zahlreichen Äußerungen der letzten Jahre zum Ausdruck bringt, dass hier etwas unabgeschlossen ist, dass die Säkularisierung nicht die letzte Antwort auf die Probleme unserer Zeit sein kann. Habermas spricht in diesem Zusammenhang übrigens von einer „Dialektik der Säkularisierung“ – so der Titel eines Buches, das er 2005 gemeinsam mit dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger herausgegeben hat.

Leider sind die Entwicklungen, die dazu geführt haben, dass wir uns wieder stärker für die Religion interessieren, nicht nur positive. Religion hatte in der Geschichte des Menschen immer ein Janusgesicht. Sie kann Wunderbares bewirken und hat das immer wieder getan: Viele Aktivisten, die sich weltweit für Menschenrechte, für Umweltschutz, für Kranke oder Arme einsetzen, tun dies aus religiösen Beweggründen. Sie diente aber auch immer wieder als Erklärungsmuster fanatischer Verblendung und verbindet sich so mit Inhumanität, Gewalt und Terrorismus. Religiöse Konflikte können das Zusammenleben von Gesellschaften und Nationen unterminieren und zu blutigen Fehden führen. Es ist diese Zwiespältigkeit, die unserem Thema seine Dringlichkeit gibt.

Nun gibt es bei uns eine Tradition, die in der Religion primär so etwas wie einen Störfaktor für die Politik sieht. Der preußische König Friedrich der Große hat in seinem politischen Testament von 1752 diese Sicht aus der Position des Aufklärers auf seine unnachahmliche Weise zum Ausdruck gebracht. Für Friedrich war die Erfahrung der Religionskriege noch ein relativ kurz zurückliegendes Trauma. Und so besteht sein Ideal in einem Miteinander der Religionen, bei dem der Herrscher diese vor allem daran hindert, ihrer Neigung zu Streit und am Ende gewalttätiger Auseinandersetzung nachzugehen. Der Preußische König macht hierbei kein Geheimnis daraus, dass für ihn die Grundlage jeder Religion Mangel an Aufklärung ist. Die Toleranz des Herrschers beruhte weniger auf einer Wertschätzung der Religion als auf der Einsicht, dass man dem Volk das nicht nehmen darf, woran es nun einmal hängt.

Die Probleme, die Friedrich artikuliert, sind nicht aus der Luft gegriffen. Ich war vor einigen Wochen bei der Eröffnung der Lutherdekade. Gerade im Wirken Luthers und in der folgenden Geschichte des Protestantismus zeigen sich die verschiedenen Gesichter der Religion. Auf der einen Seite sind da Luthers mutige Worte auf dem Reichstag zu Worms, die geradezu zum Symbol von Gewissensfreiheit geworden sind und seine mahnenden Worte an die Fürsten, mit denen er die damaligen Missstände anprangert. Auf der anderen Seite darf man auch nicht seine harten, kompromisslosen Worte im Bauernkrieg und seine maßlosen Ausfälle gegen die Juden vergessen. Diese Ambivalenz des Reformators setzt sich in der Geschichte des Luthertums fort: Dem sozialen Engagement des Protestantismus seit dem 19. Jahrhundert steht die lutherische Kriegstheologie des Ersten Weltkriegs gegenüber. Im 20. Jahrhundert gab es die Rechtfertigung deutscher Diktaturen, aber auch den Einsatz für Freiheit und Menschenrechte.

Ganz gleich wie man die Rechnung aufmacht: In jedem Fall ist klar, dass die Sicht der Aufklärung auf die politische Relevanz der Religion einseitig war.

Sie hat Recht, wo Religion das Gemeinwesen bedroht, wo fanatische religiöse Kräfte das Zusammenleben der Menschen, den Zusammenhalt der Gesellschaft und das Funktionieren der Institutionen behindern oder zu zerstören drohen.

Das Problem, dass Religionen auch zu Trennung und Streit führen, betrifft uns auch heute. Wenn von einem „Krieg der Kulturen“ geredet wird, dann geht es vor allem um religiöse Auseinandersetzungen. Nur denkt man weniger an einen Konflikt zwischen Protestantismus und Katholizismus, sondern an die Auseinandersetzung zwischen christlich-jüdischer und islamischer Welt. Und dabei handelt es sich längst nicht mehr nur um ein außenpolitisches Problem mit der arabischen Welt, sondern auch um eine innenpolitische Herausforderung, die wir lösen müssen.

Es war ein grundlegender Fortschritt, religiös neutrale gesellschaftliche und staatliche Institutionen zu schaffen, die es ermöglichten, unabhängig von den verschiedenen Religionsgemeinschaften zu handeln und politische Entscheidungen allen gegenüber gleichermaßen zu vertreten.

Die friderizianische Fixierung auf die problematische Seite der Religion war dennoch einseitig. Sie übersieht die fundamentale, positive Bedeutung, die Religion für politisches Handeln bleibend hat. Religion ist eine wichtige Ressource, aus der auch in unserer Gesellschaft grundlegende Wertorientierungen entspringen. Sie ist – um eine Formulierung des kanadischen Philosophen Charles Taylor aufzugreifen – eine wichtige „Quelle des Selbst“, aus der wir schöpfen – gerade auch angesichts der großen Herausforderungen, vor denen die Politik steht. Daran ändert auch eine verfassungsrechtliche Trennung von Kirche und Staat nichts. Denn die Politik wird von Menschen gemacht, und diese Menschen kommen nicht aus dem luftleeren Raum. Menschen mit einem religiösen Hintergrund werden als politisch aktive Bürger gebraucht. Sie werden umso mehr gebraucht, sofern sie über eine klare Orientierung, eine Grundausrichtung ihres Lebens verfügen. Von der Politik wird zu Recht Orientierung für unsere Gesellschaft erwartet. Orientierung aber kann nur geben, wer selbst orientiert ist. Der religiöse Glaube gehört zu den wichtigsten Quellen starker Wertvorstellungen in unserer Kultur. Die Politik kann auf diese Quelle nicht verzichten.

Dabei geht es nicht nur um die Überzeugung einzelner. Religion hat mit Gemeinschaft zu tun, und auch in dieser Dimension ist sie für den Staat in unserer zunehmend individualistischen Gesellschaft von Bedeutung. Allein durch den Bezug auf politische Institutionen kann Identität nicht erreicht werden. Der „Verfassungspatriotismus“ kann nicht erklären, warum wir beim Fußballspiel Deutschland gegen Frankreich unsere eigene Mannschaft anfeuern, obwohl doch beide Seiten ähnliche politische Werte vertreten. Mich hat Karl Otto Hondrich überzeugt, der Identität mit Bezug auf „geteilte Gefühle“ definiert. „Vom Einklang der Gefühle“, so hat er einmal formuliert, „geht ein eigener Zauber aus: der Zauber der Einheit.“ Wenn wir uns einem Gemeinwesen zugehörig fühlen wollen, muss es etwas geben, was uns auf einer tieferen menschlichen Ebene miteinander verbindet. Das hat dann mit den Fragen nach Anfang und Ende menschlichen Lebens zu tun. Trotz Urknall und schwarzen Löchern bleibt die Frage nach dem Davor und Danach und dem Woher und Wohin, und da sind wir auf der Ebene, auf der Religion und Glaube angesiedelt sind. In diesem Sinn können wir auch in einem modernen, pluralen und säkularen Gemeinwesen nicht auf den Beitrag der Religion verzichten.

Mir scheint, dass dieser Beitrag eher noch wichtiger wird. Auch der Staat ist nicht unveränderlich. Wir neigen dazu, vom Staat die Lösung für fast alle Probleme zu erwarten, die es in unserer Gesellschaft gibt. Ich glaube, wir müssen wieder lernen, uns Menschen mehr zuzutrauen. Nicht alles kann vom Staat übernommen werden, sondern nur das soll von ihm übernommen werden, was er wirklich besser machen kann. Wo das nicht so ist, sollten wir den Mut haben, Verantwortung an die Gesellschaft zurückzugeben.

Die Entwicklung, die dem Staat so viele Verantwortungen zugeschoben hat, hat auch damit zu tun, dass wir traditionell sehr scharf zwischen Privatem und Öffentlichem trennen. Eine deutlich geringere Rolle hingegen spielt bei uns der Bereich, in dem Bürger etwas gemeinsam, jedoch nicht in staatlicher Verantwortung machen. Es ist aber genau dieser Bereich, der in den Vereinigten Staaten von Amerika die oft bewunderte Vielfalt von bürgerschaftlichem Engagement hervorbringt. Dass in dieser Hinsicht die Uhren auf beiden Seiten des Atlantiks unterschiedlich ticken, ist schon Max Weber aufgefallen, als er die amerikanische Gesellschaft studierte und mit der deutschen verglich. Bekannt ist seine Formulierung, dass die amerikanische Gesellschaft kein formloser „Sandhaufen von Individuen“ sei, sondern dass Verbände, also nichtstaatliche Zusammenschlüsse von Bürgern, eine entscheidende Rolle spielten. Zu den wichtigsten Akteuren in diesem Bereich gehören die Religionsgemeinschaften.

Wenn wir bei uns das bürgerschaftliche Engagement stärken wollen und dabei auf die Ebene solcher Zusammenschlüsse schauen, sollten wir sehen, dass die Fähigkeit der Religion zur Gemeinschaftsbildung von bleibender, eher steigender Bedeutung in unserer Gesellschaft ist. Der Staat braucht Religion nicht nur als Quelle individueller Werte, sondern auch wegen ihrer gemeinschaftlichen Dimension.

Man könnte einwenden, dass die gemeinschaftsstiftende Rolle der Religion ein Ding der Vergangenheit war, die in einer Zeit zunehmend pluraler Religiosität zum Anachronismus geworden ist. Und enthält nicht Religion – gerade in ihrer pluralen Realität – zumindest ebenso viel Trennendes wie Verbindendes?

Es ist richtig, dass die von vielen so genannte „Rückkehr der Religion“ nicht einfach einen Zustand wieder herstellt, der in der Vergangenheit geherrscht hat. Wie immer man die Intensität der religiösen Entwicklung in der deutschen Gesellschaft in den kommenden 20 bis 50 Jahren beurteilen mag, sie wird sicherlich von einer zunehmend pluralen Situation geprägt sein. Es wird also keine Rückkehr zu der Zeit geben, in der der allergrößte Teil der deutschen Bevölkerung selbstverständlich der evangelischen oder katholischen Kirche angehörte und andere religiöse Gruppen, wie etwas das Judentum oder die Freikirchen – bei aller Bedeutung, die ihnen zukam – rein zahlenmäßig kleine Minderheiten waren. Wir haben es momentan mit einem Diversifizierungsprozess zu tun, dessen Ausmaß noch nicht abzusehen ist. Der Islam steht aus nahe liegenden Gründen am meisten im Blick der Öffentlichkeit, aber auch die jüdischen Gemeinden sind in den vergangenen 15 Jahren erheblich gewachsen – nicht zuletzt durch Einwanderung. Einwanderer sind oft religiös aktiv, und wenn sie nicht in bestehende deutsche Religionsgemeinschaften integriert werden, schaffen sie sich ihre eigenen Gruppen und Gemeinschaften.

Hier besteht zunächst eine formale Herausforderung für den Staat. Unser Rechtssystem ist hervorgegangen aus einem Staatskirchensystem, das, nachdem die Staatskirchen abgeschafft worden waren, auf Religionsgemeinschaften insgesamt erweitert wurde. Diese Konstruktion ist durchaus auf Pluralisierung ausgerichtet und hat sich bislang auch bewährt, zum Beispiel in der Zusammenarbeit mit dem Zentralrat der Juden. Für manche Religionen ist es allerdings schwerer als für andere, den organisatorischen Rahmenbedingungen, die das deutsche Gesetzeswerk voraussetzt, gerecht zu werden. Der Islam ist keine Kirche, und die Muslime wollen das auch nicht. Und unser Verfassungsstaat darf auch nicht vorschreiben wollen, wie sich Religionsgemeinschaften zu organisieren haben. Aber unsere bewährte Beziehung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften beruht auf Partnerschaft, und wer das für sich nutzen will, muss dem Staat diesen Partner als Religionsgemeinschaft zur Verfügung stellen. Auch abgesehen von der rechtlichen Grundlage ist das Miteinander von Religion und Staat in Deutschland de facto lange geprägt gewesen von der engen Kooperation mit solchen Religionen, deren Organisation es einfach machte, einen Ansprechpartner zu finden, mit dem sich der Staat über Fragen des gegenseitigen Interesses austauschen konnte.

Das soll und wird nicht alles anders werden. Ich bin ganz und gar nicht der Ansicht, dass wir die Art und Weise der Zusammenarbeit zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften völlig und womöglich über Nacht umkrempeln müssen. Sie funktioniert in vielen Bereichen einfach gut. Und ich bin auch nicht der Ansicht, dass die Pluralisierung, von der ich gesprochen habe, etwas daran ändert, dass bestimmte Religionen historisch und kulturell in unserem Teil der Welt eine besondere Rolle spielen. Das sind nun einmal das Christentum und – in anderer Weise – das Judentum, mit dem uns Deutsche auch eine besonders schwierige und schmerzhafte Geschichte verbindet. Am einen wie am anderen wird sich nichts ändern. Deswegen gibt es aber auch nicht nur das Recht der Minderheit auf Toleranz und Gleichbehandlung, sondern es gibt auch einen Anspruch der Mehrheit auf Rücksichtnahme.

Dennoch muss der Staat auch neue Wege gehen. Die Einberufung der Deutschen Islamkonferenz durch das Bundesinnenministerium war auch ein Zeichen dafür, dass wir uns dieser Notwendigkeit bewusst sind. Deutschland ist ein Land, das religiös vielfältiger wird, und der Staat hofft auf die wert- und gemeinschaftsbildenden Kräfte aller hier vertretenen Religionen im gemeinsamen Interesse unserer Gesellschaft.

Wie aber können wir es erreichen, dass wir Menschen durch Religion miteinander verbinden, und gleichzeitig vermeiden, dass auf der Grundlage unterschiedlicher religiöser Bekenntnisse sich neue Gräben auftun? Dafür ist es hilfreich, dass wir auf das sehen, was uns in unserer religiösen und konfessionellen Verschiedenheit miteinander verbindet und weniger auf das, was uns trennt.

Nehmen wir den für die monotheistischen Religionen – für das Christentum ebenso wie das Judentum und den Islam – zentralen Bezug auf Gott. Bei allen Unterschieden im Einzelnen, kommt es im Grundsatz doch darauf an, dass Menschen wissen, dass sie mit ihrem eigenen Tun in der Verantwortung vor einer Autorität stehen, die sie nicht selbst eingesetzt haben. Dass sie sich auf etwas beziehen, was größer ist, als sie selbst. Dass da etwas ist, das von ihnen nicht gemacht, aber von ihnen zu respektieren ist. Dass es bei allem, was sie wollen und tun, nicht nur um sie selbst geht. Schon das hat weit reichende Folgen für politisches und gesellschaftliches Handeln. Wissen um Unverfügbares ist eine Vorkehrung gegen totalitäre Allmacht und Machtmissbrauch. „Wo immer in der Welt einer nicht mehr weiß, dass er höchstens der Zweite ist, da ist bald der Teufel los“, sagte Bischof Reinelt zum 50. Jahrestag der Dresdner Bombennacht.

Genau darum geht es nach meinem Verständnis in der Präambel des deutschen Grundgesetzes. Dort steht, dass das deutsche Volk sich dieses Grundgesetz im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott gegeben hat. Nach meiner Überzeugung kann ein solcher Verweis Menschen verschiedener Konfessionen und Religionen einen. Er muss sie nicht trennen. Warum sollte sich zum Beispiel ein Muslim durch einen solchen Verweis ausgeschlossen fühlen?

Wie steht es aber mit Atheisten? Werden sie so vor den Kopf gestoßen? Nicht unbedingt. Wenn es um existenzielle Fragen, um die Frage nach Anfang und Ende, nach dem Sinn des Lebens und der Existenz von Wahrheit und Recht geht, stößt auch jemand, der keiner Religionsgemeinschaft angehört, auf die religiöse Dimension. Auch Atheisten suchen meist einen absoluten Bezugspunkt: die Idee der Wahrheit oder der Freiheit, das Recht oder die Gerechtigkeit. Wenn damit nicht Ideologien gemeint sind, sondern etwas, das den Einzelnen in die Pflicht nimmt, dann gibt es mehr Gemeinsamkeiten als man zunächst denken würde.

Der Bezug auf Gott hat auch deswegen eine große Bedeutung für das Zusammenleben der Menschen, weil er unmittelbare und direkte Folgen für das Menschenbild hat. Die Verantwortung der Menschen vor Gott ist nie losgelöst von der Verantwortung für den Mitmenschen. Das Doppelgebot der Liebe, das in der jüdischen Überlieferung und im Neuen Testament als Zusammenfassung aller Gebote gilt, verbindet nicht zufällig die Liebe zu Gott mit der Nächstenliebe. Die biblische Schöpfungsgeschichte drückt denselben Zusammenhang aus, indem sie davon spricht, der Mensch sei nach dem Ebenbild Gottes geschaffen.

In unsere Verfassungswirklichkeit hat dieser Gedanke Eingang gefunden in der Formulierung des Art. 1 GG, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Dieser Grundsatz gilt unumstößlich; auch nicht eine verfassungsändernde Mehrheit könnte ihn ändern. Unsere politische Ordnung – das, was oft als die Wertordnung des Grundgesetzes bezeichnet wird – beruht zuallererst auf dem Prinzip der Menschenwürde. Aus diesem Grundsatz sind letztlich die einzelnen Grundrechte entsprungen, die das Fundament unserer freiheitlichen Ordnung ausmachen. Dazu gehört ganz wesentlich der Grundsatz religiöser Toleranz, das Prinzip der Religionsfreiheit. Das ist ganz wichtig. Zumindest aus christlicher Sicht lässt sich sagen, dass gerade der christliche Glaube die Akzeptanz religiöser Pluralität als Teil der Achtung vor der Menschenwürde fordert.

Die Menschenwürde, die dem Glauben entspricht, dass der Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist, bedeutet, dass jeder Mensch, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft oder Religion seine eigene, unveräußerliche und unverwechselbare Würde hat, und das bedeutet notwendig auch den Respekt vor der Verschiedenheit, und damit Toleranz. Daraus lässt sich auch der Grundsatz der Trennung zwischen staatlicher Gewalt und religiösen Organisationen ableiten. Wenn Glaubensgewissheit in irdische Ordnung übersetzt wird, ist für Toleranz wenig Platz, und deshalb lässt sich die Absage an jeden Fundamentalismus in der politischen Ordnung gerade auch mit religiösen Gründen verteidigen.

Der Bezug auf Gott führt aber nicht nur zum Gedanken der Menschenwürde und dem Toleranzprinzip. Er kann den Menschen auch davor bewahren, sich selbst zum Maß aller Dinge zu machen. Der Mensch braucht Grenzen. Er braucht Grenzen im Interesse seines eigenen Menschseins, seiner Humanität. Auf diese Grenzen macht ihn der Bezug auf ein transzendentes Wesen aufmerksam. Diese Einsicht ist für unsere Welt überlebenswichtig. Die Menschen lernen in ungeheurer Geschwindigkeit hinzu. Wissenschaft und Technik ermöglichen ihnen Dinge, von denen noch vor wenigen Jahrzehnten kaum zu träumen war – Biotechnologie, Nanotechnik und Astrophysik sind Beispiele hierfür. Die globalisierte Wirtschaft produziert eine sich permanent wandelnde Welt und gibt dem Menschen erstaunliche Instrumente an die Hand, um sein eigenes Geschick und das der Erde in die Hand zu nehmen.

Bei all dem bleibt der Mensch ambivalent. Seine Größe ist gleichzeitig sein Verhängnis. Sein Streben führt ihn zu neuen und höheren Einsichten, aber auch zu Neid und Missgunst, Habgier und Streit. Im Krieg sehen wir diese „Wolfsnatur“ des Menschen in ihrer zerstörerischen Wirklichkeit. Wir hatten in den letzten Jahren mehr als genug Gelegenheit, Zeugen davon zu werden. Dabei ist die militärische Auseinandersetzung nicht die einzige Bedrohung. Auch von einer ungezügelten Finanzwirtschaft geht eine Bedrohung aus. Das sieht man gerade im Moment in aller Deutlichkeit. Auch da zeigt sich der Mensch als Wolf, insoweit zum Glück noch ohne Blutvergießen. Es kommt für unsere Zukunft viel darauf an, dass wir uns selbst Zügel anlegen. Marktwirtschaft ist unverzichtbar, sie braucht aber eine Ordnung, die Freiheit und Verantwortung miteinander verbindet.

Der Mensch braucht Grenzen. Grenzen, die er sich selbst in Freiheit setzt. Der Bezug auf Gott ist eine wichtige Motivation, Grenzen zu akzeptieren. Das Wissen von etwas Unverfügbarem ist eine Vorkehrung gegen Übermaß, Allmachtsphantasie und Machtmissbrauch.

Staat und Religion begegnen sich heute in einer neuen Situation. Beide haben sich verändert. Auf der religiösen Seite ist aus der bei uns traditionellen Dominanz einiger oder weniger Religionen eine Vielfalt von Religionen geworden. Der Staat kann nicht mehr der Alleinverantwortliche für alle Arten von gesellschaftlichen Problemen sein. In beiden Entwicklungen liegen Gefahren, aber auch Chancen. Die Pluralität von Religionen kann zu neuen gesellschaftlichen Konflikten führen. Der Rückzug des Staates von traditionellen Aufgaben kann zur Aushöhlung gesellschaftlicher Strukturen führen. Aber ich meine, wir sollten auch die Chancen sehen, die in beiden Entwicklungen liegen. Religionen können jeweils für sich und gemeinsam eine wichtige Grundlage individueller und gesellschaftlicher Werte sein. Und vieles von dem, was sie in dieser Hinsicht leisten, ist bei ihnen am Ende besser aufgehoben als beim Staat. Es kommt darauf an, dass es uns gelingt, in ihnen die motivierenden und persönlichkeits- sowie gemeinschaftsbildenden Kräfte für die Lösung unserer Aufgaben zu mobilisieren. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies eine entscheidende Bedingung auch für den Erfolg von Politik sein kann.