„Ich war ein gefürchteter Geiger“



Im Interview mit der Berliner Morgenpost vom 4. August 2013 spricht Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble über jugendliches Musizieren, richtiges Zuhören und Klang-Kultur im BMF.

Berliner Morgenpost: Herr Schäuble, im vergangenen Jahr haben Sie eine Rede in der Deutschen Oper gehalten, als diese ihr 100-jähriges Jubiläum feierte, und die Zuschauer fragten sich danach, warum ein Finanzminister so eine Begeisterung für klassische Musik hat.

Wolfgang Schäuble: Die kommt ganz sicher daher, dass ich in meiner Kindheit Geige gespielt habe. Mein Vater hat auch ein wenig Geige gespielt. Und meine Eltern wussten instinktiv, wie wichtig es ist, ein Instrument spielen zu lernen. Das hatte nichts mit Pädagogik zu tun. Zumal in den frühen 50er-Jahren die gesamte Musikpädagogik grausig war, auch die Art, wie man ein Instrument gelernt hat. Kein Vergleich zu heute.

Berliner Morgenpost: Aus Sicht der Eltern ist speziell Geige doch Folter.

Wolfgang Schäuble: Bei uns mussten mehr meine Geschwister leiden. Geige ist schwer zu lernen, wirklich mühsam. Es dauerte sehr lang, bis ich selber daran Freude hatte, mir zuzuhören. Ich war sozusagen ein gefürchteter Geiger. Aber als ich es dann einigermaßen beherrschte, konnte ich auch gleich in kleineren Orchestern spielen. Ich habe in meiner Heimat im Schwarzwald in den Kirchen, egal ob evangelisch oder katholisch, und im Schulorchester gespielt, allein deshalb, weil es nicht so viele junge Geiger gab.

Berliner Morgenpost: Wann haben Sie aufgehört mit dem Geigenspiel?

Wolfgang Schäuble: Mit dem Ende der Schulzeit. Damals wäre es auch schwierig gewesen, ein Zimmer zu finden, in dem man hätte Geige spielen dürfen. Ich war als Student Untermieter bei einer Witwe in Freiburg, ich habe da auf der Couch im Wohnzimmer geschlafen.

Berliner Morgenpost: Muss klassische Musik über das Elternhaus vermittelt werden?

Wolfgang Schäuble: Ich werde jetzt keine allgemeinen pädagogischen Ratschläge geben. Wenn das meine Frau liest, wird Sie mir sagen: „Du bist grade der Richtige“, so oft wie ich – nicht – zu Hause sein konnte. Ich belehre ja schon den Rest der Welt über die solide Finanzpolitik. Das muss reichen.

Berliner Morgenpost: Wie schade.

Wolfgang Schäuble: Es ist von Neurologen nachgewiesen worden, dass das Spielen im frühkindlichen Alter Auswirkungen auf das Gehirn hat (lachend). Also, wenn ich mir heute so überlege, warum Deutschland eine so erfolgreiche Finanzpolitik hat …

Berliner Morgenpost: Schon klar. Angenommen, Sie haben zwei Stunden plötzlich frei: Lesen Sie lieber ein Buch oder gehen Sie in ein Konzert?

Wolfgang Schäuble: Es kommt darauf an. Bei den sommerlichen Temperaturen würde ich es vorziehen, ein Buch im Liegestuhl zu lesen. Aber am Abend kann man ja immer noch ins Konzert gehen. Es ist durch nichts zu ersetzen, die Musik unmittelbar zu hören. Musik findet im Augenblick statt. Es gibt auch eine Kommunikation zwischen denen, die musizieren, und denen, die zuhören.

Berliner Morgenpost: Was meinen Sie damit?

Wolfgang Schäuble: Nehmen wir die Berliner Philharmonie. Dort findet sich üblicherweise ein kompetentes Publikum ein. Und da ist es schon wichtig, dass das Publikum immer wieder gefordert wird. Die Philharmoniker können ja nicht immer nur das gleiche klassische Repertoire vortragen. Sie müssen auch weiter gehen, sie müssen auch moderne Dinge spielen. Wir sind ja in diesen Dingen viel rückständiger als die Menschen vor 200 Jahren. Die waren viel offener, sich auch einmal Ungewohntes anzuhören.

Berliner Morgenpost: Musik als Hintergrundberieselung ist für Sie nichts?

Wolfgang Schäuble: Nein, überhaupt nicht. Beim Staatsbankett für Obama haben die zwölf Cellisten der Berliner Philharmoniker gespielt, also mit die besten der Welt. Sie haben nach der Vorspeise und nach dem Hauptgang gespielt. Und ich hatte es förmlich schon kommen sehen – wenn so eine Gesellschaft an Tischen zusammensitzt, dann kann das leicht schiefgehen. Zudem war im Programm nicht angekündigt, wer denn da nun spielen wird …

Berliner Morgenpost: … und alle haben während des Musizierens weitergeredet. Der Intendant Martin Hoffmann war wenig begeistert.

Wolfgang Schäuble: Man hätte den Gästen schon ankündigen müssen: Hier spielt eines der berühmtesten und weltweit besten Cellisten-Ensembles. Welcher Besucher Berlins würde sich nicht die Finger danach lecken, diese Musiker selber hören zu dürfen? Nur wenige scheinen realisiert zu haben, wem sie da lauschen konnten. Das mitzuerleben, tat nicht nur mir weh, das war auch kein Höhepunkt für die Musiker.

Berliner Morgenpost: Warum sind Sie nicht Kulturminister?

Wolfgang Schäuble: Weil es keinen Bundeskulturminister gibt.

Berliner Morgenpost: Das ist ja nur ein Titel, daran wird es ja wohl nicht scheitern.

Wolfgang Schäuble: Deutschland hätte nicht annähernd diesen kulturellen Reichtum, wenn Kultur nicht Ländersache wäre. Ich weiß noch, wie die Philharmoniker drauf und dran waren, sich vom Bund finanzieren zu lassen. Ich habe mit dem Orchestervorstand diskutiert und denen gesagt: „Macht das nicht. Ihr macht damit einen schweren Fehler. Wenn ihr, basierend auf einem rechtlichen Rahmen, DAS Orchester Deutschlands werdet, zerstört euch das.“ Sie müssen es über ihre Qualität beweisen. Natürlich wäre das angenehm gewesen, nicht vom ewig klammen Berliner Senat abhängig zu sein. Aber das wäre grundfalsch gewesen. Sie haben dann die Stiftung gemacht.

Berliner Morgenpost: Können Sie abschalten, wenn Sie in der Philharmonie sitzen?

Wolfgang Schäuble: Ja, nach ein paar Minuten ist das sonstige Leben vergessen. Aber das kann ich auch auf dem Fußballplatz, da geht es sogar noch ein bisschen schneller.

Berliner Morgenpost: Haben Sie ein Lieblingshaus in Berlin?

Wolfgang Schäuble: Es gibt viele Spielstätten, an denen ich gerne bin. Aber wenn ich jetzt eines herausheben müsste, dann wäre das schon die Philharmonie – und dort fast lieber den kleinen Saal. Er ist intimer.

Berliner Morgenpost: Was ist das Besondere an der Philharmonie?

Wolfgang Schäuble: Es ist der Platz, wo eines der besten Orchester der Welt spielt. Der Saal hat eine unglaublich tolle Akustik, der Bau hat den Vorteil, dass das Orchester nicht frontal vor dem Publikum sitzt, sondern eher mittendrin. Und daher haben Sie in der Philharmonie egal, wo Sie sitzen, eine phänomenale Akustik.

Berliner Morgenpost: Haben Sie schon einmal die Philharmonie enttäuscht verlassen?

Wolfgang Schäuble: Natürlich spielen die Musiker nicht immer gleich. Aber enttäuscht … Nein, eigentlich nicht. Verstehen Sie, ich bin ja auch kein Musikkritiker.

Berliner Morgenpost: Aber Liebhaber, immerhin.

Wolfgang Schäuble: Ich habe aber Musik nie studiert, ich verstehe nichts von Kompositionstechnik. Ich kann beurteilen, ob sie sauber intonieren oder nicht. Ich merke auch, dass mein Urteil auch davon abhängt, in welcher emotionalen Verfassung ich mich befinde. Ich erinnere mich an Alfred Brendel, der ein paar Tage nach dem 11. September in der Philharmonie gespielt hat. Es war das vierte Klavierkonzert von Beethoven, ich war mit meiner Tochter dort. Und wir haben beide das Gefühl gehabt, wir sind jetzt in New York, vor allem bei den ersten Akkorden. Ich bin sicher, dass wir nicht die Einzigen waren, die so gedacht und empfunden haben.

Berliner Morgenpost: Sie waren dieses Jahr in der Waldbühne …

Wolfgang Schäuble: … und dort gab es einen tollen Moment. Als Zugabe wurde ein kurzes Solostück für Bach gespielt. Und in dieser Zeit war totale Stille. Irgendwie hatten die Philharmoniker es über das Violinkonzert von Mendelssohn zuvor geschafft, die picknickenden Zuhörer in ihren Bann zu ziehen. Und so ein Erlebnis kann Ihnen auch kein Tonträger bieten.

Berliner Morgenpost: In Ihrem Ministerium gibt es die Veranstaltungsreihe „So klingt Europa“. Gab es so einen besonderen, erinnerungswürdigen Moment für Sie dabei auch?

Wolfgang Schäuble: Wir haben die neue Veranstaltungsreihe mit Estland angefangen. Mit einem der bekanntesten Chöre des Landes. Einfach schön! Eine Musikveranstaltung mit einem Land führt nebenbei auch dazu, dass man seinen Finanzministerkollegen, der ja dabei war, anders und dadurch besser kennenlernt. Und die Art, wie die Sängerinnen musiziert haben und was sie vorgetragen haben, verrät auch etwas über das Land. Im letzten Jahr hatten wir im Rahmen der vorherigen Reihe „Musik.Zeit.Geschehen“ eine Chorinszenierung in unserem Paternoster. Als der Gesang aus den verschiedenen Stockwerken und in Bewegung zu hören war, das war schon einmalig.

Berliner Morgenpost: Wir wissen, dass Sie heute nicht so in Ratgeberlaune sind – aber trotzdem: Wen wünschen Sie sich denn als Nachfolger von Simon Rattle?

Wolfgang Schäuble: Ich glaube, wenn ich mich dazu äußere, wäre das für Sie eine gute Meldung – und mich für eine Torheit.