Interview in der Neuen Zürcher Zeitung vom 19.10.2018
Der deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble musste erleben, wie Loyalität mit Verrat vergolten wurde. Im Interview spricht er über sein Vertrauen in Menschen, Mächte und Institutionen.
Von Anja Jardine
Herr Bundestagspräsident, Sie bezeichnen das Attentat, das Sie vor 28 Jahren in den Rollstuhl brachte, als Unfall. Ist Ihr Grundvertrauen in die Mitmenschen ungetrübt?
Je bekannter Sie sind, desto mehr Gegner haben Sie. Das können wir auch in den sozialen Netzwerken sehen. Sie ziehen Aggressionen auf sich oder auch psychisch kranke Menschen an. Das ist der Preis. Ich hörte damals einen Knall. Und habe gar nicht sofort realisiert, dass ich getroffen wurde. Ich meine mich zu erinnern, dass ich Mündungsfeuer gerochen habe, obwohl ich zuvor ja noch nie Mündungsfeuer gerochen hatte. Als ich später erfuhr, dass der Mann aus einer Entfernung von zehn Zentimetern auf mich geschossen hatte, war diese Erinnerung plausibel.
Sie sind Christ. Ihr Glaube gebe Ihnen die Freiheit, Verantwortung zu übernehmen, haben Sie gesagt. Weil es eine höhere Instanz gibt, die das letzte Wort behält?
Ja. Und der Glaube verhilft einem auch zu einer realistischen Einschätzung. Es gibt Dinge, auf die Sie keinen Einfluss haben. Zum Beispiel, wenn ein geistig Verwirrter auf Sie schiesst. Die menschliche Existenz ist begrenzt, unvollkommen, doch hat sie ihre Freiheiten – das ist es ja auch, was der Protestantismus mit der Reformation in die westlichen Werte eingebracht hat. Es ist, wie es ist. Als ich damals wieder zu Bewusstsein kam und wusste, jetzt bin ich gelähmt, habe ich nicht allzu lange gehadert, sondern mir gesagt: Ich kann es nicht ändern, aber solange ich lebe, lebe ich. Und wenn die Alternative zu diesem Leben die ist, nicht mehr zu leben, wollen wir lieber versuchen, damit zu leben. Ich hatte ja das Glück, dass ich das, was ich ursprünglich in der Freizeit aus Leidenschaft gemacht hatte und was zu meinem Beruf geworden war, nämlich politisches Engagement, auch weiterhin machen konnte.
Das Vertrauen in politische Akteure, auch untereinander, wird schnell infrage gestellt – oft auf der Grundlage einzelner Sätze oder abstruser Gefechte fern der eigentlichen Sachfrage. Zermürbt einen das nicht über die Jahre?
Wenn Sie die Hitze nicht aushalten, sollten Sie nicht in die Küche gehen. Wer die Neigung hat, Gemeinschaft zu organisieren und auch an der Spitze zu stehen, muss das akzeptieren, aushalten, versuchen dagegenzuhalten. Ich war schon in der Schule Klassensprecher. Manche Menschen wollen das nicht. Ich habe vier Kinder, die sehr unterschiedlich sind in ihrem Engagement. Mir macht es Freude. Und wenn man älter wird und mehr versteht, sieht man ja auch ein: Gott sei Dank läuft nicht alles so, wie ich es mir vorstelle. Die Freiheit beruht nun einmal darauf, dass nicht einer allein entscheiden kann. Wenn man sich das klarmacht, kommt man auch mit all dem zu Rande.
Wann waren Sie froh, dass Sie sich nicht durchsetzen konnten?
In den sechzehn Jahren der Kanzlerschaft von Helmut Kohl war ich vermutlich derjenige, der in unterschiedlichen Funktionen am engsten mit ihm zusammenarbeitete, in vielfältiger Weise. In den späteren Jahren seiner Amtszeit habe ich oft gesagt: Wir sind eigentlich eine gute Kombination. Ich wäre oft mit Initiativen gegen die Wand gelaufen, während er eher zu zögern schien – was mich zunächst oft geärgert hat. Er hat gesagt: «Politik ist die Kunst des Möglichen. Wenn es nicht geht, dann geht es halt nicht.»
Ihre Loyalität zu Helmut Kohl ist legendär.
Wissen Sie, im September ist ja Volker Kauder, der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, überraschend nicht wiedergewählt worden. Ich kenne ihn seit mindestens fünfzig Jahren und habe oft zu ihm gesagt: «Du bist ein Vorbild an Loyalität gegenüber der Kanzlerin. Aber die Kanzlerin braucht auch einen Gegenpol.» Widerlager nennt man das bei den Konstrukteuren. Ich hatte es als Fraktionsvorsitzender bei Kohl besser, denn er hat das ertragen.
Ist Loyalität eine Charakterfrage?
Teilweise schon. Als Frau Merkel mich nach der Bundestagswahl 2009 fragte, ob ich Finanzminister werden wolle, habe ich gesagt: «Sie wissen, was Sie sich antun. Ich werde nicht bequem sein. Ich habe meinen eigenen Kopf. Aber ich bin loyal.» Das habe ich in meinem Leben oft bewiesen. Ich war zwölf Jahre Mitglied der von Frau Merkel geführten Regierungen und habe immer darauf bestanden, entsprechend dem Grundgesetz innerhalb der von der Bundeskanzlerin bestimmten Richtlinien meinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung zu leiten. Aber ich war nie illoyal.
Gilt Ihre Loyalität der Person oder dem Amt?
Bei mir ist es eher mein Amtsverständnis; die Loyalität zu Personen würde ich als Treue bezeichnen, das ist etwas anderes. Auch bei Helmut Kohl. Vor jenem berüchtigten Parteitag der CDU 1989 in Bremen, bei dem es im Vorfeld den Versuch gab, Kohl als Parteivorsitzenden zu stürzen, weil schon damals niemand mehr ernsthaft erwartete, dass er die nächste Bundestagswahl noch gewinnen würde, habe ich zum damaligen Generalsekretär Heiner Geissler gesagt: «Solange ich ein Amt habe, in das mich der Bundeskanzler berufen hat, werde ich nicht gegen ihn arbeiten. Oder intrigieren. Wenn ich der Meinung bin, er müsse weg, dann würde ich zu ihm gehen und das Amt niederlegen.» Dann kam die Wiedervereinigung, und alles war ganz anders. Aber ohne die für uns überraschende Entwicklung in der DDR wäre die Bundestagswahl 1990 vermutlich für die CDU verloren gegangen.
Acht Jahre später haben Sie es ihm dann direkt gesagt.
Es war allen klar, aber niemand traute sich, es ihm zu sagen. Ich bin von allen gedrängt worden. Meine Frau hat zu mir gesagt, ich sei so feige wie die anderen. Da bin ich im Frühsommer 1998 zu ihm gefahren und habe gesagt: «Helmut, du weisst, dass wir die Wahl mit dir nicht mehr gewinnen.» Er hat geantwortet, das sehe er anders. Aber ich glaube, er hat es auch gewusst: Die Wahl war 1998 nicht mehr zu gewinnen.
Waren Sie in der Spendenaffäre zu lange loyal?
Ich habe ihn lange verteidigt – aus Sicht der CDU und der Öffentlichkeit zu lange. Erst als ich gemerkt habe, dass er mir in seiner Verzweiflung plötzlich Dinge anhängt, von denen er wusste, dass sie überhaupt nicht stimmten, habe ich ihm gesagt: «Mein Lieber, ich habe in meinem Leben viel Zeit mit dir verbracht. Ich glaube, zu viel. Jedenfalls ist es genug. Ich will mit dir für den Rest meines Lebens nichts mehr zu tun haben.» Dann waren wir geschiedene Leute. Das heisst aber nicht, dass ich vor seinen Leistungen keinen Respekt habe. Auch hege ich schon lange keinen Groll mehr gegen ihn.
Haben Sie eine gute Menschenkenntnis?
Ich habe nicht die beste Menschenkenntnis, meine Frau hat die bessere. Aber wenn jemand wie Kohl sechzehn Jahre Bundeskanzler ist, dann ist er am Ende zweifellos ein anderer als am Anfang. Ein so hohes Amt mit Verantwortungen, Belastungen, Druck, aber auch so vielen Möglichkeiten der Erfüllung und der Verwirklichung verändert einen Menschen sehr.
Über den türkischen Präsidenten Erdogan haben Sie vor zehn Jahren gesagt: «Vor dem müssen wir in Europa keine Angst haben.» Mittlerweile benimmt er sich furchterregend.
Als er Bürgermeister von Istanbul war und in die nationale Politik der Türkei ging, empfand ich ihn als spannende Perspektive für die Türkei. Ich war ein paarmal bei ihm. Er hat versucht, die Türkei zu modernisieren und zugleich jenen Teil der Bevölkerung einzubinden, der traditionell stärker im Islam verankert ist. Das fand ich einen interessanten Ansatz. Was aber daraus geworden ist, haben wir gesehen. Manche haben von Anfang an gesagt: Täuscht euch nicht. Vielleicht wird jetzt erst sichtbar, was ich damals nicht gesehen habe, vielleicht hat er sich auch durch die lange Zeit an der Macht verändert.
Können Diktatoren vertrauenswürdige Partner sein, zum Beispiel, um in einer Region Stabilität zu schaffen?
Klar. Ich kann ja nicht nur mit denen reden, denen ich wirklich vertraue. So ist die Welt nicht. Und die Weltpolitik schon zweimal nicht. Sie müssen mit allen zusammenarbeiten. Die meisten Menschen sind ja nicht nur schwarz oder nur weiss. Asad war vor dem Bürgerkrieg vermutlich nicht derart schlimm, wie er es inzwischen geworden ist. Hätte man den Menschen in Syrien deswegen sagen sollen, sie dürften nicht für Freiheit und Demokratie streiten? Natürlich nicht. Vor dem Hintergrund der schmerzlichen Erfahrungen mit dem Arabischen Frühling habe ich vor kurzem «Tugend und Terror» von Johannes Willms gelesen, die Geschichte der Französischen Revolution. Faszinierend! Wie wird aus den Menschheitsanliegen «Gleichheit, Brüderlichkeit, Freiheit» der Terror? Innerhalb von wenigen Jahren? Das scheint eng miteinander zusammenzuhängen. Aber deswegen darf man nicht resignieren. Wir sehen ja, dass sich unsere Freiheitsordnung auch immer wieder als schwach und fehlbar erweist.
Halten wir im Westen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie für zu selbstverständlich?
Obama hat das gesagt: Die grösste Gefahr für die Demokratie ist die, dass man sie für selbstverständlich hält. Aber die Erkenntnis ist nicht neu. Unser alter Goethe hat das auch schon erkannt: «Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.» Je älter ich werde, desto mehr teile ich die Überzeugung von Karl Popper, dass der Vorteil der freiheitlichen Gesellschaft darin besteht, dass sie sich korrigieren kann. Es ist schon verrückt: Viele sagen heute, so furchtbar attraktiv sei der Westen auch nicht mehr, Bürokratie und Perfektionismus machten uns schwerfällig, «Schau doch mal China an, wie da alles zack, zack läuft». Doch gleichzeitig sind die chinesischen Führer erstaunlich nervös, weil sie glauben, dass unsere westlichen Werte eine ansteckende Krankheit sind. Ich hingegen empfinde sie nicht als Krankheit, sondern als sehr attraktiv. Und schützenswert.
Wie bewerten Sie das Erstarken der AfD?
Natürlich sind manche Entwicklungen gefährlich, und ich sage auch: Wehret den Anfängen. Aber das kann man! Nichts ist unabwendbar. Es liegt immer auch an uns selber, was morgen sein wird. Nicht nur, aber eben auch. Ich finde es wirklich paradox, dass in den meisten westlichen Ländern die Menschen in Umfragen sagen, es gehe ihnen so gut wie eigentlich noch nie. Aber bei der Frage, wie es den Kindern gehen werde, ist die Zahl derer, die antworten, unseren Kindern werde es mal schlechter gehen, so hoch wie schon lange nicht mehr. Es zeigt auch: Wer mehr hat, kann mehr verlieren.
Vertrauen Sie eigentlich uns? Den Medien als vierter Gewalt?
Klar machen Sie auch Murks. Aber nicht nur. Wir brauchen Sie. Die Medien sind bei der Zunahme der Informationen wichtiger denn je. Irgendjemand muss ja den Menschen helfen – mir auch –, aus der unendlichen Fülle an Informationen ein bisschen was herauszufiltern. Jemand muss mir helfen zu bewerten. Der Wandel ist so grundlegend und schnell, dass er auch Angst macht. Aber es ist ja gut, dass die Welt sich verändert. Wenn alles noch wäre wie zu Zeiten meiner Grosseltern, wäre das nicht so toll. Ich muss anfangen, das auch für mich selbst zu akzeptieren.
Ist Ihr Vertrauen in die selbstregulierenden Kräfte der Wirtschaft über die Jahre geblieben?
Im Prinzip ja. Wir Christlichdemokraten haben ja die Soziale Marktwirtschaft mit vielen Freiheiten, aber auch der sozialen Verantwortung entwickelt. Als Ludwig Erhard anfing, von «masshalten» zu sprechen, hat man begonnen, über ihn zu spotten. Und seine Kartellgesetzgebung haben viele in der deutschen Industrie energisch bekämpft. Zugrunde lag auch bei ihm das Verständnis einer humanen Ordnung: Freiheit, die dem Menschen die Entfaltung seiner Möglichkeiten erlaubt, aber zugleich einen Rahmen steckt, der Nachhaltigkeit, sozialen Ausgleich, Fairness ermöglicht. Später setzte man auf eine weitgehende Deregulierung, die dann zu weltweiten Krisen führte. Heute versuchen wir, unter den Bedingungen der Globalisierung neue Rahmenbedingungen zu finden. Dieser Rahmen muss eben immer wieder aufs Neue justiert werden. Das ist der Grundgedanke der Sozialen Marktwirtschaft, und er ist so richtig wie eh und je.
Lässt sich Vertrauen wiederherstellen, wenn es einmal zerstört wurde?
Ja! Es ist nicht einfach, aber es geht. Dass heute viele junge Israeli nach Berlin kommen, zu Besuch oder sogar auf Dauer, das ist vor dem Hintergrund der Shoah ein wunderbares Geschenk.