SZ: Was suchen, was finden Sie in Ihrer evangelischen Kirche?
Schäuble: Halt, Geborgenheit und Gemeinschaft. Ich bin ein einfacher Mensch. Ich war nie besonders fromm, aber ich habe im Laufe meines Lebens mehr und mehr die Erfahrung gemacht, dass es gut ist, wenn man Halt hat. Dietrich Bonhoef fer hat 1 943 in seinem Glaubensbekenntnis gesagt: Man kriegt die Kraft, wenn man sie braucht. Das stimmt. Ansonsten versuche ich, mir meinen Konfirmandenglauben zu bewahren. Dann wird es nicht so kompliziert.
SZ: Beschreiben Sie diesen Konfirmandenglauben.
Schäuble: Ich glaube, dass wir nicht aus eigener Macht heraus leben. Das Alte wie das Neue Testament ist voll von fundamentalen Menschheitserfahrungen, Sie können sie als Finanzminister jeden Tag brauchen: den Tanz ums Goldene Kalb, den Turmbau zu Babel, die Maßlosigkeit der Menschen, die in ihrer Idiotie sich selbst zerstören.
SZ: Wobei in der Finanzkrise die babylonische Verwirrung nicht bei den Finanzjongleuren eintrat, sondern bei den Politikern.
Schäuble: Die Finanzgurus wussten auch nicht mehr, was sie tun sollten. Aber ja: Die Politik war auch nicht viel besser. Warum sollen wir klüger sein als alle anderen? Diese Demut gehört für mich zu einer christlichen Politik, sie ist Voraussetzung für die Demokratie. Jede Überhebung wird gefährlich.
SZ: Der Glaube bietet Sicherheit, Heimat, Nähe – aber er soll auch verunsichern, das allzu Vertraute aufbrechen. Ist das nicht ein Widerspruch?
Schäuble: Heimat und Öffnung gehören zusammen. Der Mensch trägt beides in sich, er ist auch gut und böse zugleich, in ihm wohnt das Erhabene und die Niedertracht. Der christliche Glaube weiß davon. Er verdammt den Menschen nicht, er weiß aber von unseren Grenzen. Sie können sich mit dem Wesen des Lebens, dem Grund unserer Existenz nicht beschäftigen, ohne an eine Dimension zu kommen, die sich menschlichen Kategorien entzieht. Das ist die Religion.
SZ: Gehört für Sie zum Glauben die Kirche selbstverständlich dazu?
Schäuble: Ja, die Kirche ist für mich ein Teil der Heimat. Mein Heimatort ist Hornberg im Schwarzwald. Da lebte ich mit meinen Eltern und Brüdern, da habe ich Fußball und Tennis gespielt, da bin ich auch in die Kirche gegangen. Es ist die Stadt des Hornberger Schießens, der ersten Abrüstungsinitiative der Welt wenn doch heute nur die Taliban Piffpaff ! rufen würden, statt zu schießen!
SZ: Eine Provinz, die prägt.
Schäuble: Ja. Hornberg liegt in einem engen Schwarzwaldtal. Meine Mutter hatte jahrelang Beklemmungen, als sie dorthin zog. In den 50er Jahren war die Welt dort schon sehr klein. Deshalb habe ich nicht das Weltumgreifende, deshalb mag ich die kleinen Räume. Ich empfinde nicht das Tal beklemmend, sondern den Gedanken, ich müsste in Shanghai leben.
SZ: Das Heimattal, das ist Ihr Bild von Religion.
Schäuble: Die Nähe, der Zusammenhalt, das Vertrauen ineinander. Als ich jetzt im Krankenhaus war, sind meine Geschwister durch halb Deutschland gefahren, um mich zu besuchen. Da habe ich es sehr gut. Andere sind weltoffener, mobiler, sprechen viele Sprachen – ich aber habe, was mich hält.
SZ: Na ja, ein bisschen sind Sie schon in der Welt herumgekommen.
Schäuble: Ich bin nie gerne gereist. SZ: Die Nähe wurde Ihnen nie zu eng? Schäuble: Nein. Je älter ich werde, desto mehr Respekt habe ich vor meinen Eltern. Sie lebten in dieser wohlgeordneten und bürgerlichen Welt – aber ich habe mich nie unterdrückt gefühlt. Mein Vater war ein engagierter Christdemokrat, seine Söhne sind es auch. Wir haben oft darüber diskutiert, warum. Es gibt nur eine Erklärung: Weil er überhaupt nicht Einfluss auf uns genommen hat.
SZ: Er vertraute Ihnen.
Schäuble: Ich habe drei Tage nach meinem 18. Geburtstag meinen Führerschein gemacht. Das war 1960, und meine Freunde sagten: Komm, wir gehen ins Nachbardorf feiern. Ich bin zu meinem Vater ins Büro, ganz vorsichtig, und habe ihn gefragt: Kann ich dein Auto haben? Mein Vater antwortete: Zeig mir deinen Führerschein. Dann sagte er: Trink keinen Alkohol und pass auf – und gab mir den Schlüssel. Das war ein Maß an Zutrauen, das er auch aus seinem Glauben heraushatte.
SZ: Haben Sie zu Hause über Religion, über Gott, geredet?
Schäuble: Wir haben das mehr gelebt als zu viel geredet.
SZ: Beide Kirchen sind getroffen von Fällen, in denen Kirchenmitarbeiter Kinder sexuell missbraucht und brutal geschlagen haben. Erschüttert Sie das?
Schäuble: Solche Fälle sind schrecklich. Wobei ich mir, wenn es um Schläge geht, manchmal denke: Wir legen da die Maßstäbe von heute an etwas an, das vor 50 Jahren passiert ist. Das finde ich problematisch. Es war damals so falsch wie heute, Kinder zu schlagen. Ich bin meinen Eltern auch dankbar dafür, dass sie mich nie geprügelt haben. Aber man sollte auch nicht jede Ohrfeige mit sexuellem Missbrauch gleichsetzen.
SZ: Aber es gab Fälle von sexueller Gewalt in viel größerem Ausmaß, als wir uns das vorgestellt haben. Was macht das für Sie aus der Heimat Kirche?
Schäuble: Ich habe zum Glück keine schlechten Erfahrungen mit der Kirche gemacht. Es muss also in meiner Jugend ein paar dieser seltenen Menschen gegeben haben, die mit Kindern umgehen konnten, ohne ihnen Gewalt anzutun.
SZ: Die Erschütterung, die auch viele Christen spüren, empfinden Sie nicht?
Schäuble: Meinen Glauben erschüttern die Vorfälle nicht. Wobei es da doch eine Rolle spielt, dass ich evangelisch bin und die evangelische Kirche nicht in dem Maße betroffen ist wie die katholische. Ich habe als evangelischer Christ hohen Respekt vor der katholischen Kirche, vor ihrer Spiritualität, vor ihrer Entscheidung, am Zölibat festzuhalten. Aber: Das ist nicht meine Welt. Mir liegt die Kultur des evangelischen Pfarrhauses näher. Aber auch dort ist geprügelt worden. Ich kann mir diese Gewalt nicht wirklich vorstellen. Ich weiß, dass es sie gab und gibt, in Kirchen, Schulen, Sportvereinen. Zum Glück habe ich ganz andere Erfahrungen gemacht. An mich hat sich nie einer rangemacht. So wie nie einer versucht hat, mich zu bestechen. Was vielleicht auch mit der Herkunft zu tun hat: Mein Vater war Steuerberater, der hat aber die Unterlagen seiner Mandanten behandelt wie der schärfste Betriebsprüfer. Eine gute Distanz.
SZ: Und ein typischer Fall von protestantischer Ethik?
Schäuble: Wobei mein Vater katholisch war. Er war ja von den Sakramenten ausgeschlossen, weil er es zugelassen hat, dass ich evangelisch getauft wurde.
SZ: Hat Sie das belastet?
Schäuble: Ach, damit sind wir aufgewachsen. Damals war das ja noch engstirnig. Meine Mutter hat gesagt: ein Glück, dass Oma nicht mehr erlebt, dass die Enkel nicht katholisch sind. Das Erzbischöfliche Ordinariat in Freiburg hat interveniert, als die CDU Ende der vierziger Jahre meinen Vater als Bürgermeisterkandidaten in einer Kleinstadt aufgestellt hat. Ein Evangelischer, das wäre gegangen. Aber ein Katholik, der in schwerer Sünde lebte, das ging nicht. Mein Vater hat zu meiner Mutter gesagt: Wenn ich sterbe, gehst du wegen der Beerdigung am besten gleich zum evangelischen Pfarrer. Und als er starb, da war tatsächlich der katholische Pfarrer nicht da, wir überlegten, ob wir nicht den evangelischen Amtsbruder aufsuchen sollten . . .
SZ: . . . Und?
Schäuble: Es kam dann doch der katholische Pfarrer.
SZ: Spielt Gott im Alltag für einen christlichen Politiker eine Rolle?
Schäuble: Insofern, dass ich weiß: Am Ende hängt alles nicht an einem selber. Als ich jetzt im Krankenhaus war und vor der Operation die Narkose zu wirken begann, dachte ich mir: Jetzt hast du nichts mehr selber in der Hand. Aber ich nehme Gott nicht in Anspruch, um die griechische Finanzkrise zu lösen.
SZ: Haben Sie nie mit Gott gehadert?
Schäuble: Nein.
SZ: Auch nicht, als nach dem Anschlag auf Sie aus dem Sportler Schäuble ein Rollstuhlfahrer wurde?
Schäuble: Im Gegenteil. Ich habe da die Erfahrung gemacht, die Bonhoeffer beschrieben hat: Widerstandskraft in der Not kriegt man nicht auf Vorrat. Man kriegt sie, wenn man sie braucht. Ich habe gelernt, dass das Leben weitergeht. Ich habe Geduld gelernt und Disziplin.
SZ: Gibt es eine christliche Haushaltspolitik?
Schäuble: Nein. Der Kern ist, nicht an die menschliche Allmacht zu glauben. Für alle Politiker heißt das, dass sie nicht immer recht haben können, wie nicht einmal SZ-Leitartikler immer recht haben können. Für den Finanzminister heißt es: Gute Finanzpolitik geht nicht ohne Werte, ohne Verantwortung, Kreativität, soziales Denken, ohne Freiheit, Orientierung, Grenzen. Wenn man das weiß, kommt man zu einer Politik der Mitte und der Gelassenheit, ohne Auswüchse und Übertreibungen. Das Christliche ist der Orientierungsrahmen für eine pragmatische Politik.
SZ: Das klingt konservativ. Jesus war aber ziemlich radikal.
Schäuble: Konservativ ist nicht das Gegenteil von radikal. Die großen Erneuerer der Geschichte waren Konservative.
SZ: Jesus, der voller Zorn die Geldwechsler aus dem Tempel wirft, war ein
Konservativer?
Schäuble: Warum soll ein Konservativer nicht Geldwechsler aus dem Tempel werfen können? Konservativ heißt doch nicht: der Macht ergeben zu sein, altmodisch oder reaktionär. Konservativ heißt: Erfahrungen nicht einfach beiseitezuschieben. Es ist konservative Politik, jetzt das europäische Engagement nicht aufzugeben, jetzt nicht zu denken: Warum sollen wir für andere zahlen, die fauler sind als wir? Wir haben keinen Grund, über andere von oben herab zu urteilen. Wir verdanken der Europäischen Union mehr als alle anderen Nationen. Dass wir diese Erfahrung auch in einer Krise nicht vergessen, das ist konservativ. Konservativ ist auch, nicht zu vergessen, was die Deutschen im vergangenen Jahrhundert getan haben. Konservativ ist, gegen den Verlust des Gedächtnisses zu sein. Und das ist auch christlich.
SZ: Sind die Kirchen nicht die einzigen globalen Organisationen, die den Finanzkapitalismus bändigen können?
Schäuble: Das finde ich eine falsche Vorstellung. Die Kirche ist nicht einfach die Gegenmacht zur Politik und zur Wirtschaft. Es wäre furchtbar, wenn wir den Kirchen die Entscheidungen über die Finanzmärkte überlassen würden. Dass sie da nicht mehr als eine Wächterfunktion haben, ist ein historischer Fortschritt. Die Trennung von Politik und Religion ist die Voraussetzung für die Universalität der Menschenrechte. Deshalb ist es gefährlich, wenn die Religion zu viel Macht über die Politik gewinnen will.
SZ: Sind Ihnen die Kirchen zu politisch?
Schäuble: Es gab schon eine Zeit, da beschäftigte sich mancher Pfarrer vor allem mit der Tagespolitik und war vor allem gegen die CDU.
SZ: Das ist besser geworden?
Schäuble: Günther Beckstein ist mit großer Mehrheit zum Vizepräses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland gewählt worden. Wenn Ihnen das einer vor 15 Jahren gesagt hätte: Der Beckstein von der CSU, der angeblich so unchristliche Hardliner, führt gemeinsam mit einer Grünen-Politikerin die EKD-Synode! Da hätten Sie gelacht. Ich halte das aber für einen Fortschritt. Man muss ja trotzdem nicht Günther Becksteins politische Auffassungen teilen.
SZ: Das tut ja auch die Mehrheit der Synode nicht.
Schäuble: Ich habe einmal einem Pfarrer gesagt: Im Pfarrgemeinderat haben Sie die Mehrheit, die sind sozialliberal. Aber ich biete Ihnen jede Wette an: Im Gottesdienst habe ich die Mehrheit. Also machen Sie in Ihren Predigten nicht zu viel Politik, sonst komme ich vor und widerspreche Ihnen.
SZ: Aber muss die Kirche nicht visionär sein und kritisch?
Schäuble: Ja, sicher. Wenn klar ist, dass, was die Kirche fordern und wünschen muss, nicht zu hundert Prozent in der Politik umgesetzt werden kann. Die Politik braucht die Kritik durch das Christentum. Aber die Kirche darf sich nicht zum Maßstab der politischen Auseinandersetzung machen.
SZ: Wenn man die Maßstäbe der Bergpredigt an den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr anlegt, muss da nicht die Kirche sagen: Wir können diesen Einsatz nicht mittragen – egal, ob das nun Tagespolitik ist oder nicht?
Schäuble: Es gibt ja in der Bibel genügend Beispiele dafür, dass die Politik den Frieden sichern soll. Diese Friedenssicherung schließt physische Gewalt nicht aus. Aber das kann man auch anders sehen. Ich hatte mit der Neujahrspredigt der EKD-Ratsvorsitzenden Margot Käßmann überhaupt keine Schwierigkeiten. Natürlich soll eine Bischöfin es sagen, wenn sie gegen den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan ist. Sie muss dann nur respektieren, dass andere Christen anderer Auffassung sind. Ich wünsche mir von den Kirchenleitungen, dass sie zu ihrer Meinung stehen – in der Demut, sich nicht ganz sicher zu sein.
SZ: Die Kirchen werden immer weniger Volkskirchen. Wird damit nicht auch dem deutschen Staatskirchenrecht der Boden entzogen? –
Schäuble: Das glaube ich nicht. Der Staat ist religiös neutral, aber er ist sich auch bewusst, dass Religion – nicht nur die christliche – einen wesentlichen Beitrag zur Stabilität unserer auf Werte angewiesenen Freiheitsordnung leistet. Das war ein Grund, weshalb ich als Innenminister nach 1990 die Immigration von Juden nach Deutschland gefördert habe. Und deshalb glaube ich, dass auch die Muslime zur Stabilität dieser Werteordnung beitragen können.
SZ: Wenn eine muslimische Ministerin fordert, dass es keine Schulkreuze geben soll, ist die Aufregung groß.
Schäuble: Ich bin anderer Meinung als die Ministerin, aber die Aufregung über ihre Forderung halte ich für übertrieben.
SZ: Für die Union sind da aber doch einige Gewissheiten zerbrochen.
Schäuble: Ach, so viel Gewissheit haben CDU und CSU dann doch noch. Wir müssen aber ein Verständnis dafür wecken, dass auch der Islam eine wichtige Grundlage unserer Werteordnung sein kann. Deshalb habe ich die Islamkonferenz ins Leben gerufen, deshalb will ich, dass nun islamische Fakultäten an den deutschen Universitäten entstehen. Wenn der Islam Partner unseres Grundgesetzes ist, wird das Auswirkungen auf die islamische Welt haben, es wird die Gefahr der fundamentalistischen Auseinandersetzung zwischen Christen und Muslimen verringern.
SZ: Können Sie sich einen islamischen Militär-Imam bei der Bundeswehr vorstellen?
Schäuble: Warum nicht?
SZ: Käme heute noch die Anrufung Gottes ins Grundgesetz?
Schäuble: Sicher. Auch, weil jeder Muslim diese Präambel des Grundgesetzes unterschreiben kann: „In Verantwortung vor Gott und dem Menschen . . .“Einen besseren Ausdruck der Selbstbegrenzung jeder Politik gibt es nicht.
SZ: Ist die Praxis des staatlichen Kirchensteuereinzugs noch zeitgemäß?
Schäuble: Sie ist nicht Bestandteil des Glaubensbekenntnisses, aber praktisch. Sie nützt allen und schadet niemandem.
SZ: Müsste Ihnen als Finanzminister nicht eine Kultsteuer besser gefallen, die auch die Ausgetretenen zur Kasse bittet? Es gäbe viele gute Dinge zu finanzieren.
Schäuble: Wir kommen gut ohne eine Straf Steuer für den Kirchenaustritt aus.
SZ: Haben Sie je über einen Kirchenaustritt nachgedacht?
Schäuble: Nein. Mir tun die Leute leid, die nur wegen der Kirchensteuer austreten. Wer das tut, weil er nicht mehr glaubt – den respektiere ich. Ach ja, geärgert habe ich mich schon über meine Kirchenleitungen. Ich bin in der Bioethik anderer Auffassung als sie, ich finde, man darf menschlichen Forscherdrang nicht per Gesetz begrenzen. Aber deswegen austreten? Nie im Leben. Ich bin ja auch Kirche. Ich glaube fest an das Priestertum aller Gläubigen. Interview: Heribert Prantl und Matthias Drobinski
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