Heute das Wachstum von morgen sichern



Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble beim Hauptstadtforum der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft

Sehr geehrter Herr Schmid,

sehr geehrter Herr Pellengahr,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich bedanke mich sehr für Ihr freundliches Willkommen und für Ihre guten Wünsche. Erlauben Sie mir, dass ich mich – ehe ich mich der Schuldenbremse, der Konsolidierung und weiteren wichtigen Aufgaben widme – zum Thema „Soziale Marktwirtschaft“ äußere.

Da ich in Freiburg geboren bin, habe ich eine gewisse Interpretationshoheit über die Grundgedanken der Freiburger Schule. Ich war noch mit Ludwig Erhard zusammen in der Landesgruppe der baden-württembergischen CDU-Abgeordneten. Bei der Definition der Sozialen Marktwirtschaft durch die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft wurden die Erfahrungen der letzten zwei Jahre ein bisschen ausgeblendet. Diese möchte ich Ihnen kurz nachreichen:

Jede freiheitliche Ordnung braucht Rahmen, Grenzen und Regeln, die verhindern, dass die freiheitliche Ordnung sich selbst zerstört. Und sie braucht Mechanismen, die immer wieder Übertreibungen entgegenwirken. Denn die Beteiligten selbst – wir Menschen – sind aus eigener Kraft nicht in der Lage, das entsprechend zu korrigieren.

Dies ist übrigens eine der großen Herausforderungen der Globalisierung. Tatsache ist, dass die Globalisierung die Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftlichen Dynamik noch viel schärfer hervortreten lässt. Bei uns in Europa noch ein bisschen verzögert verglichen mit anderen Teilen der Welt, mit China zum Beispiel.

Soziale Marktwirtschaft war immer die Verbindung von Markt und Wettbewerb als die effizienteren Systeme für die Allokation von Ressourcen einerseits, mit Grenzen und Mechanismen für den sozialen Ausgleich andererseits. Daran musste man schon zu Zeiten Ludwig Erhards oft erinnern. Auch er hat einige Enttäuschungen erlebt und ist belächelt worden, als er Maßhalten gefordert hat.

Die Themen des heutigen Abends – Staatsfinanzen und die Frage nach dem Weg aus der Schuldenfalle – sind zum jetzigen Zeitpunkt, d. h. nach dem Europäischen Rat vom 19. Oktober 2010, vor dem G-20-Gipfel am 11. und 12. November 2010 in Seoul und auch im Lichte der jüngsten Ergebnisse des Arbeitskreises „Steuerschätzungen“ vom 4. November 2010 hochaktuell und spannend.

Lassen Sie mich kurz zurückschauen: 2008 hatten wir gesamtstaatlich einen ausgeglichenen Haushalt, d. h. keine Neuverschuldung. Das konnte man nicht vorhersehen, als die Regierung von Angela Merkel 2005 die Amtsgeschäfte aufgenommen hat. Damals haben wir als erstes der Europäischen Kommission die Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zugesichert. Einer der großen vorausgegangenen Fehler war, dass man den Stabilitäts- und Wachstumspakt unter der Führung Deutschlands und Frankreichs nachhaltig beschädigt hatte.

Die Bundesregierung unter der Führung von Angela Merkel, der ich bereits als Innenminister angehört habe, hat dann entschieden, dass wir den Pakt einhalten und das Defizit zurückführen. 2008 hatten wir tatsächlich gesamtstaatlich kein Defizit. Und als ich im letzten Jahr das Amt des Bundesfinanzministers übernehmen durfte, habe ich gesagt, dass man ohne die Schuldenbremse des Grundgesetzes diese Aufgabe gar nicht mehr übernehmen könnte.

Aber glücklicherweise haben wir diese Schuldenbremse. Im letzten Jahr hatten wir in der mittelfristigen Finanzplanung für 2010 für den Bund noch eine Neuverschuldung von 6 Mrd. Euro vorgesehen. Tatsächlich waren wir aber im Haushaltsentwurf bei 86 Mrd. Euro. Die zusätzlichen 80 Mrd. Euro waren die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise und die Kosten der Maßnahmen zu ihrer Bewältigung: geringere Steuereinnahmen und geringere Einnahmen der sozialen Sicherungssysteme, die ausgeglichen wurden; zugleich höhere Ausgaben der Sozialversicherungen, die als automatische Stabilisatoren wirken. Diese Vorgehensweise war auf internationaler Ebene verabredet. Sie war richtig und im Übrigen erfolgreich.

In Europa und darüber hinaus werden wir schon fast um unsere Krisenbewältigung beneidet, auch um das „Job-Wunder“ in Deutschland. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die noch vor ein paar Jahren eher mit etwas hoch gezogenen Mundwinkeln über den „Rheinischen Kapitalismus“ gesprochen haben – so hat man ja die Soziale Marktwirtschaft außerhalb der alten Bonner Republik genannt.

Die Kritiker haben eingesehen, dass dieser „Rheinische Kapitalismus“ im Gegensatz zu mit anderen Ortsnamen verbundenen Kapitalismusdefinitionen auch seine Vorzüge hat – zumindest in der Krisenbewältigung. Hier spielt die Ausweitung der Kurzarbeit eine maßgebliche Rolle. Erhebliche staatliche Leistungen werden mit einem hohen Maß an sozialer Partnerschaft gepaart. Kennzeichen dieses Rahmens der Sozialen Marktwirtschaft zur Krisenbewältigung ist auch der Beitrag der sozialen Partner; die positiven Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt werden auch in anderen Ländern anerkennend erwähnt.

Mithin sind nicht allein politische Entscheidungen wie die Ausweitung der Kurzarbeit die Erfolgsfaktoren unseres Wirtschaftssystems, auch die Flexibilisierungen, die die Tarifpartner ohne Ermahnungen der Politik ermöglicht haben, sind ein wichtiger Punkt.

Aber zurück zum Bundeshaushalt: der erste Entwurf des Haushalts 2010 vom Juli vergangenen Jahres wies eine Neuverschuldung von rund 86 Mrd. Euro aus. Ich habe im aktualisierten Entwurf vom Dezember 2009 die Zahlen im Wesentlichen übernommen. Ich habe allerdings gesagt, auch unter Einbeziehung dessen, was wir an Sofortmaßnahmen gemacht haben, gehen wir nicht über diese Grenze hinaus.

Im Laufe der Haushaltsberatungen hat sich eine günstigere Haushaltsentwicklung ergeben, und wir konnten den Haushalt schon mit einer deutlich geringeren Verschuldung von immerhin unter 80 Mrd. Euro verabschieden. Inzwischen können wir damit rechnen, dass wir eine Neuverschuldung von etwa 50 Mrd. Euro erreichen. Das bedeutet aber nicht, dass ich deswegen 30 Mrd. Euro mehr zur Verfügung habe. Hier wird übersehen, dass es sich um 50 Mrd. Euro Neuverschuldung handelt.

Um es in den Worten der schwäbischen Hausfrau zu sagen: Sparen ist, wenn man vorhandenes Geld nicht ausgibt und nicht ein bisschen weniger Schulden machen. Dennoch ist es für uns eine gute Nachricht, dass wir „nur“ etwa 50 Mrd. Euro neue Schulden aufnehmen müssen, zumindest im Vergleich zu den ursprünglich erwarteten 86 Mrd. Euro!

Die Entwicklung der Neuverschuldung ist für die Einhaltung der Schuldenbremse des Grundgesetzes von zentraler Bedeutung. Die Schuldenbremse sieht vor, das strukturelle Defizit bis 2016 auf 0,35 % des Bruttoinlandsprodukts zurückzuführen. Dies hat in mindestens gleichen Jahresraten, beginnend ab 2010, zu erfolgen. Diesem Konsolidierungspfad ist das strukturelle Defizit des Jahres 2010 zugrunde zu legen.

Hierfür wurde bis Anfang dieses Jahres davon ausgegangen, dass natürlich das vom Gesetzgeber im Haushalt verabschiedete strukturelle Defizit maßgeblich sei. Das hätte etwa 67 Mrd. Euro in diesem Jahr betragen. Ich habe frühzeitig entschieden und bekannt gemacht, dass wir nicht das im Haushalt 2010 zugrunde liegende und im März 2010 verabschiedete strukturelle Defizit, sondern das zum Zeitpunkt der Aufstellung des Bundeshaushalts 2011 und der damit verbundenen Fortschreibung der mittelfristigen Finanzplanung absehbare tatsächliche Defizit für 2010 als Ausgangspunkt für den Konsolidierungspfad verwenden sollten.

Damit haben wir den Spielraum für die Einhaltung der Schuldenbremse in einer zweistelligen Größenordnung eingeengt. Ich habe auch gesagt, dass wir nicht alle vier Wochen eine weitere Aktualisierung aufnehmen oder das tatsächliche strukturelle Defizit zugrunde legen könnten, weil dieses erst 2011 feststeht.

Ich bin jedenfalls zuversichtlich, dass die Neuverschuldung im Jahre 2011 nicht über der tatsächlichen Neuverschuldung des Jahres 2010 liegen wird. Das ist die klare Politik dieser Bundesregierung und dieser Koalition. Die Koalition bekennt sich einvernehmlich und ohne jeden Zweifel zu der Position der Rückführung der zu hohen Neuverschuldung und zwar entsprechend den Anforderungen des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes und der Schuldenbremse des Grundgesetzes. Die sich daraus ergebenden finanzpolitischen Spielräume sind äußerst bescheiden.

Ich muss dies gelegentlich auch meinen ausländischen Finanzministerkollegen erklären. Da die Bundesrepublik Deutschland ein Föderalstaat ist, kann man den Haushalt des Bundes nicht ohne Weiteres mit dem Haushalt des französischen Zentralstaats vergleichen. Im Bundeshaushalt sind all die normalen Verwaltungs- und Vollzugsaufgaben nach der Ordnung unseres Grundgesetzes enthalten. Deswegen besteht dieser Bundeshaushalt zu deutlich über 50 % auf der Ausgabenseite aus gesetzlich festgelegten Sozialausgaben. Wenn Sie den Schuldendienst berücksichtigen, wird der Spielraum ziemlich klein.

Deswegen ist die Vorstellung, man könne alleine auf der Ausgabenseite des Bundeshaushalts den Anforderungen der Schuldenbremse nachkommen und die notwendige Rückführung der Ausgaben leisten – und das dann noch der Öffentlichkeit erklären – schlicht unrealistisch. Wir haben uns daher in der Koalition darauf festgelegt, die Haushaltskonsolidierung nicht alleine über Ausgabenkürzungen zu schaffen.

Ein Mindestmaß an sozialer Akzeptanz eines Haushaltskonsolidierungspakets oder einer Schuldenbremse ist eine notwendige Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung der Haushaltskonsolidierung. Die ausgabenseitige Konsolidierung haben wir daher mit einem begrenzten Beitrag von Steuerverbesserungen und Mehreinnahmen ergänzt, die beiden Komponenten stehen im Verhältnis von etwa zwei Dritteln zu einem Drittel über den Vierjahreszeitraum zueinander. Ich glaube, dass dies richtig und vertretbar ist.

Das bringt mich auf eine zweite Bemerkung: Die Forderung nach Subventionsabbau ist ungeheuer populär, genauso wie Forderungen nach Sparen. Allerdings nur, bis die Forderungen konkret werden.

Und beim Subventionsabbau habe ich früh darauf hingewiesen, dass man sich nicht täuschen möge. Bei der großen Mehrzahl der Subventionen, die im Bundessubventionsbericht der Bundesregierung ausgewiesen sind, stehen Sie – wenn die Subventionen konkret zurückgeführt werden sollen – plötzlich vor einer Debatte über Steuererhöhungen. Das kann man anhand des aktuellen Sparpakets sehr genau studieren.

Wir haben alle Maßnahmen als Beitrag zum Subventionsabbau begründet. Ich war mir nicht sicher, ob das in jedem Einzelfall überzeugend sein wird, aber es entspricht der Wahrheit. Es sind alles Maßnahmen, die im Subventionsbericht der Bundesregierung ausgewiesen sind, aber deren Kürzung dennoch heftig kritisiert wird. Deswegen bitte ich um eine gewisse Milde in der Beurteilung unseres Konsolidierungspakets. An diesem Konsolidierungspakt wird nicht gerüttelt. Wir werden zwar innerhalb des Pakets gewisse Verschiebungen vornehmen, aber die Rahmendaten werden eingehalten. Darauf können Sie sich verlassen.

Meine Damen und Herren,

Sie müssen sich verdeutlichen, dass wir gesamtstaatlich erst im Jahre 2012 dank der vorhergesagten erfreulichen Steuermehreinnahmen wieder das Niveau der Steuereinnahmen des Jahres 2008 erreichen. Bis dahin weisen wir in den Jahren 2010 und 2011 noch Defizite in Höhe von zweistelligen Milliardenbeträgen aus. Im Übrigen liegen nach dem Ergebnis der Steuerschätzung die Steuereinnahmen im Jahr 2012 bei Ländern und Gemeinden jeweils knapp in der Größenordnung der Steuereinnahmen des Jahres 2008, beim Bund aber noch 5 bis 6 Mrd. Euro darunter, was wir allerdings durch die vorgeschlagenen Steuermehreinnahmen ein Stück weit ausgleichen.

Unser Sparpaket ist daher auch makroökonomisch mehr als begründet, und man sollte sich von der oberflächlichen Diskussion der Tagesdebatte nicht irreführen lassen: Der Bund hat eine schlechtere Struktur in seinem Haushalt als die Länder in ihren Haushalten. Deswegen ist es berechtigt, dass wir zur Einhaltung der Schuldenbremse des Grundgesetzes in einem begrenzten Ausmaß im Bereich der dem Bund zustehenden spezifischen Verbrauchsteuern zu Einnahmeverbesserungen kommen.

Dieser Weg wird fortgesetzt. In dem Maße, in dem wir fiskalische Spielräume erschließen, wird man auch Konzepte für Steuersenkungen entwickeln, beraten und beschließen können. In dieser Legislaturperiode wird der Spielraum dabei ein begrenzter sein. Die Bundeskanzlerin hat zu Beginn dieser Legislaturperiode bei der ersten Lesung des Bundeshaushalts 2010 im Bundestag gesagt, sie werde oft gefragt, was das Ziel sei. Sie hat gesagt, wenn wir 2013 wieder das Vorkrisenniveau hätten, wäre viel erreicht. Jetzt haben wir die Chance, in Wachstums- und Haushaltszahlen das Niveau schon 2012 zu erreichen.

Das zeigt, dass wir besser sind, als wir befürchten mussten. Aber es bleibt dabei: Selbst 3,4 % Wachstum in diesem Jahr sind vor dem Hintergrund von über 4,5 % Rückgang im vergangenen Jahr nur eine Erholung von einer Krise, die uns wegen der stärkeren weltwirtschaftlichen Verflechtung der deutschen Wirtschaft stärker getroffen hat als Andere.

Ich will eine Bemerkung zu den aktuellen internationalen Themen machen, auch in Vorbereitung auf den G-20-Gipfel in Seoul am 11. und 12. November. Es ist schon merkwürdig: International ist es eigentlich völlig unstreitig gewesen, dass man eine wohl abgewogene „Exit-Strategie“ braucht. Es bestand Konsens, zunächst nicht pro-zyklisch zu reagieren, aber dann eine wohl abgewogene „Exit-Strategie“ zu verfolgen und zwar in jedem Land zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt. Jedenfalls dann, sobald die Krise im Wesentlichen überwunden ist.

Deshalb habe ich zu keinem Zeitpunkt die wiederholt in Europa und darüber hinaus geäußerte Kritik akzeptieren können, dass Deutschland mit seiner Konsolidierungsstrategie die weltwirtschaftliche Entwicklung dämpfe. Wir haben immer gesagt, dass die Einleitung der „Exit-Strategie“ für Deutschland angesichts der positiven wirtschaftlichen und finanzpolitischen Entwicklung richtig ist. Wir berufen uns dabei auf die Beschlüsse der letzten G-20-Treffen und müssen dieses Jahr damit beginnen.

Im Übrigen haben sich beim G-20-Gipfel in Toronto im Juli 2010 alle Industrieländer, auch die Vereinigten Staaten von Amerika, mit der Unterschrift ihres jeweiligen Staats- oder Regierungschefs verpflichtet, ihre Defizite bis 2013 zu halbieren. Wir schaffen dies gerade in Deutschland. Ob alle anderen es schaffen, weiß ich nicht. Aber deswegen bin ich ein bisschen unfreundlich, wenn ich zu sehr dafür kritisiert werde, dass wir nichts anderes machen, als gemeinsame Verabredungen einzuhalten.

Und deswegen erlaube ich mir gelegentlich darauf hinzuweisen – beispielsweise gegenüber meiner französischen Kollegin im Frühjahr – die deutsche Wirtschaft sei zu wettbewerbsfähig. Damit bin ich beim Stichwort „global imbalances“: Wir standen ganz stark in Gefahr, in Seoul in dieser Woche ziemlich isoliert dazustehen. Wenn ich die Nachrichten richtig lese, wird die amerikanische Forderung, alle Leistungsbilanzungleichgewichte auf +/- 4 % zu begrenzen, aufgegeben.

Hierfür war es ganz wichtig, dass wir ein hinreichendes Maß an europäischer Solidarität erreicht haben. Ohne die französische Unterstützung wäre die Durchsetzung unserer Position nicht gelungen. Es ist sehr wichtig, dass wir mit gemeinsamen Positionen in Europa verhindern, dass wir international zu sehr unter Druck geraten. Wir haben im Übrigen, wenn man die Eurozone als Ganzes nimmt, kein Ungleichgewicht in der Leistungsbilanz. Ohne den deutschen Überschuss würde die Eurozone ein Leistungsbilanzdefizit aufweisen. Im Kreis der G-20 betone ich immer wieder, dass man Europa als Einheit auffassen muss.

Wir haben in den G-20 unsere Lehren aus der Finanzmarktkrise gezogen und mehr erreicht, als viele vor zwei Jahren für möglich gehalten haben. Wir sind dabei noch nicht am Ende, aber wenn Basel III in Seoul indossiert wird und dann in europäisches und in nationales Recht umgesetzt wird, haben wir einen großen weiteren Schritt erreicht.

Die Väter und Mütter des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes konnten in den 90er Jahren nicht vorhersehen, dass sich im Jahr 2010 unter den völlig veränderten Globalisierungsbedingungen der Finanzmärkte Entwicklungen in einem Teil der Welt in Sekundenschnelle überall in der Welt auswirken. Dies müssen wir aber heute akzeptieren. Dabei führt die Debatte über eine mögliche Transferunion in die Irre. Denn kein Land und keine Volkswirtschaft profitiert so viel von der gemeinsamen Währung wie die Bundesrepublik Deutschland. Die anderen Mitgliedstaaten in der Eurozone und in der Europäischen Union sehen das sehr genau.

Wenn Sie sich vorstellen, was ohne die gemeinsame europäische Währung in den letzten Jahren passiert wäre, verstehen Sie, dass es nicht um eine nostalgisch-romantische Sicht auf Europa geht, sondern um die Wahrnehmung unseres wohlverstandenen Zukunftsinteresses. Dies besteht darin, dass wir die gemeinsame europäische Währung bewahren und die sich mühsam, aber doch entwickelnde europäische Integration fortsetzen. Die Globalisierung verändert für alle Europäer die Rahmenbedingungen in diesen Jahren und Jahrzehnten in einer dramatischen Weise. Wir brauchen die europäische Einigung nicht mehr, um den Kalten Krieg zu überwinden, sondern um für das Zeitalter der Globalisierung gerüstet zu sein. Deswegen müssen wir uns mehr engagieren und deswegen haben wir uns engagiert.

Bei der Bankenkrise vor zwei Jahren mussten wir in einer Weise handeln, wie es sich weder die Bundeskanzlerin noch mein Vorgänger Peer Steinbrück vorstellen konnten, weil wir nicht in der Lage waren, systemische Risiken zu vermeiden. Aber natürlich war klar, dass dies für die Zukunft nicht wieder so sein kann. Deswegen haben wir in der vergangenen Woche das Gesetz zur Bankenrestrukturierung im Deutschen Bundestag verabschiedet.

Über die Einzelheiten kann man noch diskutieren, aber der Kern ist, dass wir bei der nächsten Krise die Finanzinstitute, auch wenn sie systemrelevant sind, so geordnet abwickeln können, dass wir die Moral-Hazard-Problematik vermeiden, bei der die Chancen privatisiert, aber die Risiken auf die Steuerzahler übertragen werden.

Dieses Problem haben wir für den Bankensektor in Angriff genommen. Dasselbe gilt für die Eurozone. Mein amerikanischer Kollege Tim Geithner, der bei der Entscheidung über Lehman Brothers anwesend war, hat mir einmal gesagt, dass er 24 Stunden später dieselbe Entscheidung nicht mehr getroffen hätte. Er warnte uns, dass wir in der Eurokrise eine falsche Entscheidung ebenfalls 24 Stunden später verfluchen würden.

Deswegen stand für mich fest, dass wir die Kredite für Griechenland beschließen mussten. Aber ich betone: zeitlich befristet, so wie übrigens die Stützungsmaßnahmen für den deutschen Finanzsektor Ende dieses Jahres auslaufen. Nun muss ein europäischer Krisenbewältigungsmechanismus hinzukommen. In der Van Rompuy-Task Force haben wir einen einstimmigen Beschluss erreicht, den der Europäische Rat eine Woche später einstimmig verabschiedet hat und immerhin die Eröffnung einer Chance für einen Krisenbewältigungsmechanismus enthält.

Ohne den Akkord von Deauville zwischen Nicolas Sarkozy und Angela Merkel hätten wir dies nicht erreicht. Das Problem ist zwar noch nicht gelöst, aber wir sind auf dem Weg zu einer Lösung. Dies ist absolut notwendig, damit wir auch bei der nächsten Krise die Moral-Hazard-Problematik vermeiden können. Man kann den Menschen nicht erklären, dass man für Anleihen von Staaten mit höheren Risiken zwar höhere Zinsen bekommt, aber wenn das Risiko sich verwirklichen sollte, die Gemeinschaft der Staaten einspringt. Indem wir unseren eigenen Beitrag leisten und zeigen, dass eine wachstumsfreundliche Defizitreduzierung möglich ist, haben wir eine verbesserte Chance, im europäischen Verbund darauf zu drängen, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt eingehalten wird.

Eine kleine Bemerkung am Rande: Automatische Sanktionen sind zwar von der Bundesrepublik Deutschland unterstützt worden, von einigen wenigen europäischen Ländern auch. Aber die Mehrheit der europäischen Länder – auch solche, die uns hinterher kritisiert haben – hat in der Van Rompuy-Task Force klar erklärt, dass ihr Land automatische Sanktionen nicht akzeptieren würde. Deswegen haben wir nicht etwas aufgegeben, was ohnehin nicht realistisch war, sondern wir haben Politik als Kunst des Möglichen richtig verwirklicht.

Ich will noch eine Bemerkung zum Thema Steuervereinfachung machen. Ich bin zwar dafür, dass wir uns die Mehrwertsteuer genau anschauen. Allerdings ist es eine Sache, die reine Lehre zu predigen, aber etwas anderes, wenn es konkret wird. Ich sage auch gleich, dass wir Steuervereinfachungen mit einem begrenzten Volumen auf den Weg bringen. Die Länder werden im Bundesrat nur zustimmen, wenn der Bund die Ausfälle für die Länder und Kommunen kompensiert.

Deswegen haben wir uns einvernehmlich in der Koalition darauf verständigt, dass 500 Mio. Euro die Obergrenze dessen ist, was wir uns leisten können. Das wird schwierig genug sein. Allerdings dürfen wir die Erwartungen nicht überspannen. Es wird auch hinterher ein kompliziertes Steuerrecht bleiben. Dies liegt nicht etwa an mangelndem Ehrgeiz meinerseits, sondern daran, dass man eine Vorstellung davon haben muss, was realistischerweise erreicht werden kann, wenn man eine wirklich grundlegende Steuervereinfachung will.

Dafür müsste man einen hohen zweistelligen Milliardenbetrag an Steuerentlastungen zur Verfügung haben. Zudem müsste man so pauschalieren, dass solche Einnahmeausfälle verkraftet werden können. Solange man diesen Spielraum nicht hat, muss man in den Anforderungen zurückhaltender sein.

Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung zu den Kommunalfinanzen. Ich habe mich immer dafür eingesetzt, dass wir uns um die schwierige Situation der Kommunalfinanzen besonders und vorrangig kümmern müssen. Mir bereitet Sorge, dass die kommunale Selbstverwaltung immer stärker erodiert. Ich bin sehr traurig, wenn Wahlbeteiligungen bei den Bürgenmeisterwahlen in Baden-Württemberg von über 30 % schon als gutes Ergebnis angesehen werden.

Dies stärkt nicht unbedingt die Stabilität unserer Freiheitsordnung und unserer gewaltenteilig organisierten Demokratie. Die Kommunalfinanzen stehen dazu in einem sehr viel grundlegenderen Zusammenhang, als viele glauben. Natürlich weiß ich, dass die Finanzsituation in den Kommunen sehr unterschiedlich ist. Und natürlich weiß ich, dass die Länder eigentlich für den kommunalen Ausgleich zuständig sind. Aber auch die Handlungsmöglichkeiten der Länder sind begrenzter, als man gelegentlich aus der Sicht von Bundespolitikern zugeben mag. Deswegen versuchen wir einen Weg zu finden und haben die Gemeindefinanzkommission eingesetzt.

Ich gehöre zu den Menschen, die seit mindestens 20 Jahren davon überzeugt sind, dass die Singularität der deutschen Gewerbesteuer nicht etwas ist, von deren Einführung wir den Rest Europas und der Welt überzeugen sollten. Wenn auf der Autobahn alle anderen Falschfahrer sind, muss man überlegen, ob man nicht möglicherweise selbst die Fahrtrichtung korrigieren sollte. Aber wir haben keine realistische Chance, bei der Gewerbesteuer etwas zu erreichen, ohne dazu einen Konsens mit den kommunalen Repräsentanten zu erreichen.

Das ist die Realität in unseren Parteien, das ist die Realität im Bundesrat. Deswegen habe ich die kommunalen Repräsentanten, die mich um ein Gespräch gebeten hatten, vergangene Woche gefragt, ob sie in irgendeinem Punkt kompromissbereit wären, um zu einem einvernehmlichen Ergebnis zu kommen. Die Antwort war nicht überraschend: nein. Übrigens auch nicht bei der Korrektur der ertragsunabhängigen Elemente in der Gewerbesteuer.

Ich habe auf die hohen Verlustvorträge hingewiesen, die die Unternehmen vor sich herschieben. So haben wir Probleme bei der Zurechnung von Verlusten – grenzüberschreitend mit Betriebsstätten und Tochtergesellschaften –, die die Meisten überhaupt nicht mehr überblicken können. Wenn ich die jüngere Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs richtig interpretiere, ist die Hoffnung, dass das alles nur die Körperschaftsteuer, aber nicht die Gewerbesteuer betrifft, zunehmend fragil. Ich habe dies den Vertretern der kommunalen Spitzenverbände erläutert und vorgeschlagen, dass wir uns im nächsten Jahr gemeinsam zusammensetzen sollten.

In einigen Jahren werden sie möglicherweise verfluchen, dass sie heute nicht die Chance zur Abschaffung der Gewerbesteuer ergriffen haben. Da die kommunalen Spitzenverbände darauf nicht eingegangen sind, habe ich ihnen vorgeschlagen, den Gemeinden bei den Gemeinschaftsteuern ein eigenes Hebesatzrecht einzuräumen. Wir könnten ihnen den Gemeindeanteil von 15 % direkt zuweisen. Dies würde für den Bund und die Länder nichts verändern. Die Gemeinden könnten in ihren Satzungen von den 15 % in einer bestimmten Marge nach oben oder unten abweichen, sofern sie dies wollen.

Genauso sind wir bei den Kosten der Unterkunft in der Hartz-IV-Gesetzgebung vorgegangen, wo wir die Möglichkeit der Pauschalierung durch kommunale Satzungen eingeführt haben. Wir müssen uns wieder daran gewöhnen, dass die kommunalen Selbstverwaltungsorgane auch selbst entscheiden können. Ich bin ein großer Anhänger der Überzeugung, dass derjenige, der über die Ausgaben entscheidet, auch die Verantwortung für die notwendigen Einnahmen haben muss. Dies können wir nicht über Nacht in Deutschland grundlegend verändern, aber vielleicht können wir damit beginnen.

Wenn das funktioniert, können wir mit solchen Zuschlägen durchaus auch ein System finden, bei dem die Kommunen weiterhin selbst über ihre Einnahmen entscheiden können und nicht nur von Mehrwertsteuerzuweisungen abhängig sind. In der Schweiz funktioniert dies übrigens auch. All die Erklärungen, warum es in der Schweiz funktioniert und bei uns nicht funktionieren kann, möchte ich gerne in der Praxis widerlegt bekommen.

Wir müssen die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft – und damit komme ich zum Anfang der Rede zurück – in ihren beiden Elementen „sozial“ und „Marktwirtschaft“ für die Zukunft wirkungskräftig erhalten. Wir müssen sie auch immer wieder im demokratischen Entscheidungsprozess, wo ja die Legitimität der Entscheidungen zunehmend fragil geworden ist, bewahren und zukunftssicher machen.

Dafür ist es wichtig, dass wir den Rahmen der Finanzpolitik eng fassen und den Weg der Rückführung der Neuverschuldung gehen. Wenn wir eines Tages in der Neuverschuldung unter den Zuwachsraten des Bruttoinlandsprodukts liegen, können wir auch die relative Bedeutung der extrem hohen Gesamtverschuldung verringern. Indem wir die jeweilige Verantwortung für die Ausgaben mit der Verantwortung für die Einnahmen besser in Übereinstimmung bringen, stärken wir die Mechanismen, die die Soziale Marktwirtschaft zur überlegenen Ordnung gegenüber jeder anderen machen.

Dies ist der Weg, den diese Bundesregierung sich vorgenommen hat. Und dies ist der Weg, für den ich als Bundesfinanzminister mit der mir eigenen Überzeugungskraft zu wirken versuche.

Herzlichen Dank für Ihre Geduld.