SPIEGEL: In deutschen Archiven und Behörden liegen weggesperrt wohl über eine Million Verschlusssachen aus den ersten Jahrzehnten der Republik. Warum geben Sie diese Geheimpapiere nicht frei?
Dr. Schäuble: Weil ich das allein nicht kann. Jede Behörde, die ein Aktenstück als geheim einstuft, hat ausschließlich selbst das Recht, diesen Vorgang später zu öffnen. Jedes Ressort, jede Behörde entscheidet selbst über seine Akten. Ich kann also gar nicht verfügen, ob etwa das Verteidigungsministerium oder das Auswärtige Amt …
SPIEGEL: … neben Ihrem Ministerium die Behörden, die die meisten VS-Sachen produzieren…
Dr. Schäuble: Akten freizugeben haben oder nicht. Ich kann lediglich versuchen, innerhalb der Bundesregierung eine Lösung dieses unendlichen Problems zu erreichen. 1995 wurde geregelt, dass von diesem Zeitpunkt an erstellte Akten grundsätzlich nach 30 Jahren frei zur Benutzung sind. Wer glaubt, dass im Einzelfall Papiere weiterhin geheim bleiben sollen, der muss es dann ordentlich begründen.
SPIEGEL: Es geht aber jetzt um die Zeit vor 1995. Die geänderte Verschlusssachen-Anweisung von 2006 ist wieder aufgehoben worden, weil die Behörden sich außerstande sahen, diesen riesigen Berg an Akten daraufhin zu überprüfen, ob man sie freigeben darf. Die Ankündigung „Freie Fahrt für Forscher“ ist seitdem perdu.
Dr. Schäuble: Nein, es geht darum, eine besser praktizierbare Regelung zu finden. Ich denke, die Akten müssten abgeschichtet werden, je nach Alter. Für die ersten beiden Jahrzehnte der Bundesrepublik sollte doch zügig festgestellt werden können, ob es denn wirklich noch so viele Dokumente gibt, die weiterhin geheimhaltungsbedürftig sind. Herrschaftszeiten, ich glaube es selber auch nicht. Hier also könnten enge Entscheidungsfristen gesetzt werden. Bei jüngeren Akten müssten sie länger sein. Irgendwo gibt es doch Grenzen, bei aller Notwendigkeit eines gewissen Geheimhaltungsbedürfnisses.
SPIEGEL: Der Deutsche Historikerverband empfiehlt unter anderem den Pragmatismus der Briten als Vorbild. An jedem ersten Arbeitstag eines neuen Jahres geben die 30 Jahre alte Akten summarisch heraus – und Seiten, auf denen potentielle Geheimnisse stehen könnten, werden einfach entfernt und gesondert aufbewahrt.
Dr. Schäuble: Jahrgangsweise ist das auch kein Problem; und bestimmte Akten halten auch die Briten zurück. Aber bei uns wurde eben über Jahrzehnte nichts unternommen – und das soll nun in kurzer Zeit nachgeholt werden. Es gibt keine Regelungs-, sondern eher ein Vollzugsproblem. Geöffnet werden dürfte schon heute. Man muss die Durchsicht eben nur leisten können.
SPIEGEL: Wer mit Beamten über dieses Thema redet, hört aber immer wieder, dass eigentlich das Innenministerium blockt, als der Wächter über die Verschlusssachen-Vorschrift.
Dr. Schäuble: Na ja, das ist eben auch Teil des Schwarzer-Peter-Spiels, vielleicht auch Unkenntnis, was ja auch klugen Köpfen gelegentlich passiert. Es ist aber falsch. Alle Bundesbehörden können und dürfen jederzeit Akten öffnen, wenn diese nicht mehr einem berechtigten Geheimschutzinteresse unterliegen. Sie können heute damit anfangen.
SPIEGEL: Welche Rolle spielt dabei das Bundesarchiv?
Dr. Schäuble: Wir müssen alle Akten dem Archiv anbieten und hören immer, dass nur ein kleiner Teil archivwürdig, weil zeithistorisch bedeutsam, sei. Das Bundesarchiv kann zwar nicht entscheiden, gestempelte Akten freizugeben. Aber es kann jederzeit sagen, welche in den Reißwolf sollen und welche nicht.
SPIEGEL: Wann kommt es zu einer Regelung, die der Wissenschaft und der Öffentlichkeit wirklich hilft?
Dr. Schäuble: Der erste Anlauf ist nicht vollends gelungen. Wenn es jetzt auf der Fachebene der Ministerien Schwierigkeiten geben sollte, werde ich selbst mit meinen Kabinettskollegen die notwendigen Gespräche führen. Weil uns der politische Wille nach historischer Transparenz eint, sollte der gordische Knoten noch in dieser Legislaturperiode durchschlagen werden.
Quelle: SPIEGEL, Ausgabe 11/2009