„Gesetz der knappen Güter gilt auch für Geld“



Interview in der Neuen Zürcher Zeitung vom 11.01.2021

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble blickt mit Sorge auf das Ausgabenwachstum in der Corona-Pandemie. Das Parlament habe seine Rolle bei der Bewältigung der Seuche jedoch gut erfüllt, sagt der CDU-Politiker im Gespräch mit Alexander Kissler und Anna Schneider

Herr Schäuble, die Corona-Pandemie trifft viele Länder, aber jedes Land reagiert anders. Mitglieder einiger ausländischer Regierungen lassen sich öffentlichkeitswirksam impfen, um für die Impfung zu werben. Wäre eine solche vertrauensbildende Massnahme auch in Deutschland wünschenswert?

Die deutsche Bevölkerung ist in einem hohen Mass bereit, sich impfen zu lassen. Da braucht es aus meiner Sicht kein demonstratives Impfen von Prominenten, und deshalb halte ich es für richtig, wenn bekannte Politiker sich impfen lassen, wenn sie an der Reihe sind. Wir wollen uns nicht vordrängen. Gäbe es die Notwendigkeit, grössere Bedenken gegen das Impfen zu zerstreuen, wäre auch ich bereit, mit gutem Beispiel voranzugehen.

Hätte die deutsche Regierung angesichts der Schwierigkeiten, genügend Impfstoff für die eigene Bevölkerung zu bekommen, nicht stärker nationale Interessen verfolgen müssen?

Ich bin stolz darauf, dass sich die Bundesregierung in der Pandemie für einen europäischen und nicht für einen nationalen Weg entschieden hat. Das Virus trifft uns alle, da sollten auch alle Staaten gleich behandelt werden, unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Leistungskraft. Wir werden im 21. Jahrhundert eine umso bessere Zukunft haben, je mehr wir die Kraft aufbringen, unsere Probleme in Europa gemeinsam zu lösen.

Bedeutet das, eine schlechte Versorgung mit Impfstoffen und gegebenenfalls den Tod von Menschen hinnehmen zu müssen, um der europäischen Idee nicht zu schaden?

Nein, keineswegs. Bei der Bestellung des Impfstoffes durch die Europäische Union gab es keinen perfekten Weg. Man wusste nicht, welcher Impfstoff als erster zur Verfügung stehen würde. Darum ist es gut, dass die EU bei verschiedenen Anbietern bestellt hat. Europa als Schicksals- und Solidargemeinschaft hat sich bewährt.

Dennoch wuchsen im vergangenen Jahr die Zweifel, ob die Regierung nicht zulasten des Parlaments ihre Kompetenzen überdehnt habe. Die Stunden der Exekutive waren keine Sternstunden des Bundestags.

Der Bundestag ist das höchste Verfassungsorgan, er macht die Gesetze und wählt die Regierung, aber er ist nicht das ausführende Organ. Das Parlament entscheidet und kontrolliert, die Regierung handelt. Am Anfang der Pandemie haben wir der Regierung relativ weite Ermächtigungsgrundlagen gegeben. Später haben wir das Infektionsschutzgesetz deutlich verschärft und präzisiert. Es wäre falsch, wenn das Parlament entscheiden wollte, welcher Impfstoff bestellt wird. Dafür laben wir eine Exekutive, in diesem Fall sogar die Europäische Kommission.

Es fand also im Zuge der Pandemiebekämpfung keine Aushöhlung der Demokratie statt?

Die öffentliche Debatte darüber habe ich ernst genommen. Der Bundestag ist aber im vergangenen Jahr seiner Verantwortung gerecht geworden. Das Ansehen des Bundestags wie auch der Bundesregierung ist nach allen Umfragen, die ich kenne, gestiegen. Ich kann ganz selbstbewusst sagen: Wir haben unsere Rolle als Parlament wahrgenommen, und wir werden es auch in diesem Jahr tun. Darauf können sich die Bürger in Deutschland verlassen.

Vor einem halben Jahr nannten Sie die Corona-Krise „eine grosse Chance“, weil „der Widerstand gegen Veränderung in der Krise geringer wird“. Soll die Seuche zu politischen Zwecken instrumentalisiert werden?

Keineswegs. Das war eine Beschreibung der Wirklichkeit. Wir Menschen sind so. Wir scheuen Veränderungen. Gegen Innovationen gibt es zunächst häufig Widerstand. In Berlin, dessen Flughafen gerade mit erheblicher Verspätung fertiggestellt worden ist, gelang es inmitten der Pandemie, ein Notfallkrankenhaus innerhalb weniger Wochen zu errichten. Vor Corona wäre das undenkbar gewesen. Auch in der Digitalisierung geht es jetzt zum ersten Mal spürbar schneller voran.

Die von Ihnen geschilderten Probleme sind Ergebnis politischen Handelns oder Unterlassens. In einer schlimmen Krise entdecken dieselben Politiker, die die Verzögerungen zu verantworten hatten, die Freuden der raschen Problemlösung. Ist das nicht ein Armutszeugnis?

In einer Demokratie können Politiker nicht einfach machen, was sie wollen — zum Glück. Man braucht Mehrheiten, und die Mehrheit ist oft schwerfällig und lehnt Veränderungen ab. Demokratie ist ein mühsames Geschäft. Dort aber, wo Entscheidungen leicht durchzusetzen sind, mangelt es oft an Freiheit und am Rechtsstaat. Bei allem Respekt vor den Erfolgen Chinas: Dass über das Schicksal eines derart bekannten und erfolgreichen Geschäftsmannes wie Jack Ma von Alibaba seit Wochen gerätselt wird, zeigt die Gefahren eines effizienten Überwachungsstaates deutlich. Wir Europäer haben allen Grund, auf unser Modell von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit und der unbedingten Würde eines jeden Menschen stolz zu sein.

Haben Sie darum mehrfach in der Corona-Debatte darauf hingewiesen, dass nicht jedes Leben um jeden Preis geschützt werden kann?

Ich habe darauf hingewiesen, dass nach der Ordnung unseres Grundgesetzes der oberste Wert die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist. Und dass jeder Mensch sterben muss. Soweit ich sehe, bestreitet das niemand. Der Schutz des Lebens ist ein hohes Gebot. Bei politischen Entscheidungen gilt es aber immer, die Folgen abzuwägen. Die Politik versucht, allen Menschen die bestmögliche medizinische Versorgung zukommen zu lassen. Dennoch müssen wir, wenn wir Leben durch harte Massnahmen retten wollen, die sozialen Nebenkosten berücksichtigen, die Vereinsamungseffekte, die Auswirkungen auf die Bildung, auf den Sport, auf die Kultur oder auch die wirtschaftlichen Folgen.

Die Einschränkungen der Grundrechte haben im Zuge der Pandemiebekämpfung gewaltige Ausmasse angenommen. Es gibt Versammlungsverbote, Ausgangssperren, Bewegungseinschränkungen. Wurde da wirklich abgewogen, wie Sie es fordern?

Bis anhin ist eine Mehrheit im Bundestag der Auffassung, dass bei den Massnahmen hinreichend abgewogen wurde. Die rechtsprechende Gewalt ist dem im Wesentlichen gefolgt. Wir bestätigen hier im Gespräch gerade, wie schwierig dieser Abwägungsprozess sein kann. Einmal heisst es, das Leben werde unzureichend geschützt, und ein anderes Mal, die lebensrettenden Massnahmen seien zu drakonisch. Es gibt keine Patentlösung für alle Probleme. Wenn die Argumente transparent dargestellt werden und dann die Mehrheit entscheidet, gib es aus demokratischer Sicht nichts auszusetzen. Genau das ist der Sinn des Parlaments.

Noch keineswegs abgewogen wurden die Argumente für jenen Fall, da Grundrechtseinschränkungen sich für Geimpfte als nicht mehr notwendig erweisen sollten.

Nur der Bundestag entscheidet, wie lange die Voraussetzung für sämtliche Grundrechtseinschränkungen gegeben ist. Er kann jederzeit erklären, dass die pandemische Notlage beendet ist. Für die von Ihnen angeführte Debatte ist der Zeitpunkt erst dann gegeben, wenn wir wissen, ob Geimpfte das Virus weitergeben können. Momentan wissen wir das nicht. Auch die Wissenschafter, die den Impfstoff erfunden haben, wissen es noch nicht. Die komplizierte Debatte, ob und wie wir Geimpfte beispielsweise von hygienischen Vorschriften entbinden, können wir erst dann führen. Natürlich werden Grundrechtseinschränkungen schwieriger zu begründen sein, wenn ein geimpfter Mensch kein Gesundheitsrisiko mehr für andere darstellt.

Schon heute sind die finanziellen Kosten der Pandemiebekämpfung Thema. Von der schwarzen Null, für die Sie als Finanzminister standen, ist keine Rede mehr, die Schuldenbremse wurde gelockert. Vor diesem Hintergrund nannte Ihr Parteifreund Friedrich Merz nun Olaf Scholz den ersten Finanzminister in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, „der offensichtlich keine Grenzen beim Geldausgeben kennt“. Teilen Sie die Einschätzung von Friedrich Merz?

Ich spreche hier als Bundestagspräsident, nicht als persönlicher und politischer Freund von Friedrich Merz. Ausserdem gibt es in Deutschland die gute Gepflogenheit, dass Amtsnachfolger nicht von ihren jeweiligen Vorgängern kritisch bewertet werden. Meine Vorgänger haben das so gehalten, Herr Schily als Innenminister und Herr Steinbrück als Finanzminister. An diese Tradition möchte ich gegenüber Olaf Scholz anknüpfen. Wahr ist, dass kein Finanzminister in den letzten fünfzig, sechzig Jahren eine vergleichbare Herausforderung zu bewältigen hatte wie der jetzige Amtsinhaber angesichts der Pandemie. Langfristig gilt das Gesetz der knappen Güter freilich auch für Geld. Wir werden es nicht ausser Kraft setzen können in unserem Drang, die Folgen der Pandemie umfassend abzumildern.

Von der fiskalischen Gegenrechnung hört man wenig.

Ich beobachte mit Sorge, dass immer mehr Menschen sagen, auf eine Milliarde mehr oder weniger komme es nicht an. Irgendwann werden wir wieder lernen müssen, dass auch 100 Millionen Euro jemand erwirtschaften muss, damit der Staat diesen Betrag ausgeben kann. Wenn Friedrich Merz darauf aufmerksam macht, dass wir an die Zeit nach der Pandemie denken müssen, hat er recht. Die wirkliche Bewährungsprobe kommt noch: Wie bringen wir unser Leben wieder so schnell in Gang, dass wir die Kosten der Ausgleichszahlungen erwirtschaften können? Dafür braucht es eine leistungsfähige Wirtschaft. Es ist richtig, schon heute darüber nachzudenken.

Friedrich Merz möchte den Vorsitz der Partei übernehmen. Wäre er der geeignete Vorsitzende, um die Ambitionen Markus Söders auf die Kanzlerkandidatur zurückzuweisen?

Da ich meine Funktion als Parlamentspräsident nicht mit meiner Mitgliedschaft in der CDU vermengen will, sage ich dazu heute nichts. Ich bitte um Verständnis.

Seit Jahren kämpfen Sie für eine deutliche Verkleinerung des Bundestags, bis anhin ohne Erfolg. Empfinden Sie das Scheitern dieser Ambitionen als persönliche Niederlage?

Ich bin sehr enttäuscht, dass die nötige Reform nicht zustande gekommen ist, und insofern ist es auch eine persönliche Niederlage. Vor allem aber ist es für unser Parlament nicht gut. Das Wahlrecht wird von allen Parteien auch unter dem Gesichtspunkt betrachtet, wie man die eigenen Chancen möglichst günstig gestaltet. Jedenfalls ist es unter diesen Umständen nahezu unmöglich, eine feste Obergrenze für die Zahl der Abgeordneten im Parlament festzulegen. Schon zu Beginn der letzten Legislaturperiode im November 2017 bat ich darum alle Fraktionen zu mir, um dieses Problem gemeinsam zu lösen. Es ist am Ende trotz allen Bemühungen nicht gelungen. Nun müssen wir einen neuen Anlauf starten.

Sie selbst werden diesen Anlauf starten, denn Sie kandidieren erneut für den Bundestag. Im kommenden Jahr wären Sie dann seit fünfzig Jahren Abgeordneter.

Auf vielfältiges Drängen insbesondere von jüngeren Parteimitgliedern habe ich mich nach einigem Zögern zur Kandidatur bereit erklärt. Ich habe noch immer Freude an der Politik. Vielleicht ist es gut, in Zeiten des Übergangs jemanden mit Erfahrung und mit Erfahrungen in den eigenen Reihen zu wissen.

kis./ars. Wolfgang Schäuble wurde am 18. September 1942 in Freiburg im Breisgau geboren, seit 1972 ist der promovierte Jurist Mitglied des Deutschen Bundestages. Nach drei Jahren als parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion (1981 bis 1984) war er zunächst Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes im Kabinett Kohl II und III, anschliessend war er von 1989 bis 1991 Bundesinnenminister.

Am 31. August 1990 erlebte er einen der grössten Momente der deutschen Geschichte: Er unterschrieb gemeinsam mit Günther Krause, dem Chefverhandler der DDR, den Einigungsvertrag. Kurze Zeit später, am 12. Oktober 1990, fiel Schäuble einem Attentat zum Opfer. Nach einer Rede in Oppenau schoss ein Mann auf den erstbesten Politiker von Rang, seitdem ist Schäuble ab dem dritten Brustwirbel abwärts gelähmt. Aufhalten liess er sich dadurch nicht. 2005 übernahm er ein zweites Mal das Amt des Bundesinnenministers, in den Jahren 2009 bis 2017 war er Bundesfinanzminister. Schon bevor Schäuble das erste Mal in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, unterstützte er Helmut Kohl. Von Machteroberung bis Kanzlerschaft — Schäubles Loyalität zu Kohl ist legendär. Auch während der sogenannten Spendenaffäre blieb Schäuble lange an Kohls Seite, in den Augen der CDU und der Öffentlichkeit zu lange. Zum Bruch kam es, als Kohl eine Intrige schmiedete, um Schäuble zu Fall zu bringen. Ende 2017 wurde Schäuble als Nachfolger von Norbert Lammert zum Bundestagspräsidenten gewählt. Bei den Bundestagswahlen im Herbst 2021 will er noch einmal kandidieren — seine Chancen, erneut Präsident zu werden, stehen gut.

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