Gemeinsame Arbeit ist Grundlage für eine tiefere Verständigung



Laudatio von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille an Stef Wertheimer in Düsseldorf

Ludwig Wittgenstein hat einmal gesagt:

?Die Idee sitzt gleichsam als Brille auf unserer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie.?

Ideen sind es also, die unseren Blick auf die Wirklichkeit prägen. Am Ende geht es aber nicht nur ums Sehen und Begreifen. Ideen haben auch die Kraft, unsere Wirklichkeit ein Stück weit zu verändern. Dazu brauchen wir Menschen wie Stef Wertheimer, die für ihre Ideen leben und sie mit viel Einsatz und Pragmatismus lebendig werden lassen. Das unterscheidet sie von den bloßen Phantasten und Utopisten, die alles wollen und doch nichts erreichen.

Die Idee, dass Menschen trotz ihrer Unterschiede friedlich zusammenleben, nimmt in jedem Zeitalter eine andere Form an. Die gesellschaftliche Vielfalt hat durch die Globalisierung in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Ein gedeihliches Miteinander setzt heute mehr denn je voraus, dass die Menschen bereit sind, die Unterschiede in Herkunft, Religion und Kultur anzuerkennen. Nach den Verbrechen des Nationalsozialismus wissen wir Deutsche, wie unverzichtbar Toleranz und gegenseitiger Respekt sind. Und aus diesem Grund gehört die Verständigung zwischen Deutschen und Nichtdeutschen, zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen und natürlich zwischen Christen und Juden zum geistigen Fundament unserer Freiheitsordnung.

Ein gedeihliches Miteinander kann der Staat nicht verordnen. Er kann aber gute Rahmenbedingungen schaffen, fremdenfeindliche Übergriffe konsequent verfolgen und das bürgerschaftliche Engagement für ein friedliches Zusammenleben nach Kräften fördern.

Dieses Engagement kommt aus allen gesellschaftlichen Gruppen. Und so ist es folgerichtig, dass unter den bisherigen Trägern der Buber-Rosenzweig-Medaille neben Politikern viele Wissenschaftler, Künstler und Menschen des Glaubens sind ebenso wie einige gesellschaftliche Einrichtungen und Initiativen. In diesem Jahr geht die Auszeichnung erstmals an einen Unternehmer, und das ist  aktuell auch deshalb wichtig, weil es unterstreicht, dass unsere Gesellschaften ein verantwortungsvolles Unternehmertum brauchen und dass es dieses Unternehmertum auch gibt.

Stef Wertheimer hat die Idee vom friedlichen Zusammenleben der Menschen vor allem um den Faktor Arbeit bereichert. Sie, Herr Wertheimer, haben vor vielen Jahren aus dem Nichts eine kleine Werkstatt aufgebaut, daraus ein großes Unternehmen gemacht und die Chancen der Globalisierung früh genutzt. Sie haben die Erfahrung vermittelt, dass Arbeit die Menschen in einem sehr umfassenden Sinn prägt, ihnen Würde gibt und Lebenschancen eröffnet. Und Sie haben gezeigt, dass gemeinsame Arbeit den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt und ein wichtiger Stabilitätsgarant ist. Der enge Kontakt, den Sie stets zu Ihren Mitarbeitern hatten, kam Ihnen hierbei zu Gute.

Aus dieser Überzeugung haben Sie in Israel und in benachbarten Ländern moderne Industrieparks zur Förderung junger Unternehmen gegründet. Den Anfang haben Sie vor mehr als 20 Jahren in Tefen gemacht. Ihre Parks sind keine Kopfgeburten; sie haben nichts Kompliziertes, Theoretisches, Abstraktes. Es sind, im Gegenteil, pragmatische, im Prozess von trial and error gereifte und erprobte Modelle des Zusammenlebens und -arbeitens. Dort erschließen sich Israelis und Palästinensern, Juden und Muslimen vielfach gemeinsame Zukunftsperspektiven. Sie sagen: ?Ich bin sicher, dass der Frieden Wirklichkeit wird. Das wird dann der Fall sein, wenn jeder etwas zu verlieren hat.? So kann nur jemand sprechen, der sich nicht abbringen lässt von der Idee einer gemeinsamen Zukunft für Israelis und Palästinenser in Frieden, Wohlstand und Sicherheit.

Um zu verstehen, was Sie antreibt, ist es wichtig, Ihre Geschichte zu kennen. Das Leben eines Einzelnen findet im Konkreten statt, nicht im luftleeren Raum. Bevor Stef Wertheimer die Idee vom friedlichen Zusammenleben zu seiner Idee machte, hat er als Kind Unfrieden, Ausgrenzung und Verfolgung am eigenen Leib erfahren.

Stef Wertheimer wurde Mitte der 1920er Jahre in Kippenheim in Baden geboren. Sie wuchsen inmitten einer Gemeinde von rund 150 Jüdinnen und Juden auf, die damals in Kippenheim lebte. Ihr Vater Eugen hatte im Ersten Weltkrieg als Soldat für Kaiser und Reich gekämpft. Er hat dabei ein Bein verloren. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wird es Ihnen in der Schule ähnlich ergangen sein, wie es Ihre etwa gleichaltrige Kippenheimer Cousine Pia Wertheimer beschrieben hat. Sie musste nun im Klassenzimmer hinten sitzen, war isoliert und durfte nicht mehr aktiv am Unterricht teilnehmen. Pias Eltern flohen 1937 nach Amerika. Bereits 1936 haben Stef Wertheimers Eltern mit ihren drei Kindern die badische Heimat verlassen, in der ihre Vorfahren über viele Generationen gelebt hatten. In Palästina fanden sie ein neues Zuhause.

Im November 1938 hat ein entfesselter brauner Mob auch im badischen Raum die Synagogen geschändet und verwüstet ? in Lörrach, in Mosbach, in Ettenheim, in Kippenheim. 1939 starb Ihr Onkel Siegfried Wertheimer unter ungeklärten Umständen im Gefängnis. Im Oktober 1940 wurden die letzten Juden aus Kippenheim deportiert. Das war das Ende der jüdischen Gemeinde in Kippenheim. Es war das Ende jahrhundertealten jüdischen Lebens zwischen Rhein und Schwarzwald. Das letzte Kind, das in Kippenheim in einer intakten jüdischen Gemeinde geboren wurde ? das war 1935 ?, ist heute hier in diesem Saal. Es ist Inge Auerbacher.

Mit ihren anderen kulturellen Wurzeln war es kein leichter Anfang für die Jeckes, wie die Juden aus Deutschland in ihrer neuen Heimat zuerst spöttisch, dann aber mehr und mehr anerkennend genannt wurden. Auch für Stefan Wertheimer, aus dem bald Stef Wertheimer wurde, war die Integration, nicht nur die sprachliche, nicht immer einfach. In Ihrem Museum in Tefen, sehr verehrter Herr Wertheimer, haben Sie der Geschichte der deutschsprachigen Juden in Israel, ihrem kulturellem Erbe und ihrer gelungenen Integration ein Denkmal gesetzt. Am 14. Mai dieses Jahres feiern Juden in aller Welt den 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel. Auch in Frankfurt am Main wird es einen Zentralen Festakt geben. Dass diese Staatsgründung erfolgreich war, liegt auch daran, dass der Staat Israel und seine Bürger eine gewaltige Integrationsleistung erbracht haben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat es viele Jahre gedauert bis in Deutschland eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit begann. Bei den Tätern ist das vielleicht nicht so überraschend und hat wohl auch etwas mit Scham zu tun. Wir wissen aber von Ignaz Bubis und vielen anderen, dass selbst die überlebenden Opfer lange brauchten, bis sie ? wenn überhaupt ? darüber sprechen konnten.

Die verzögerte Aufarbeitung kann man am Schicksal der Jüdischen Synagoge in Kippenheim gut sehen. Ich stamme aus dieser Gegend und kenne die Verhältnisse recht gut. In den 1950er Jahren hatte ein neuer Eigentümer einschneidende bauliche Veränderungen vorgenommen, die der früheren Bedeutung des Gebäudes in keiner Weise gerecht wurden. Dass das ehemalige jüdische Gotteshaus noch in den 1970er Jahren als Lagerhaus genutzt wurde ? unter anderem zur Aufbewahrung von Schweinefutter ?, hat Sie, Herr Wertheimer, erzürnt. Heute gibt es eine größere Sensibilität im Umgang mit der deutsch-jüdischen Geschichte. Inzwischen ist die ehemalige Synagoge in Kippenheim außen und innen grundlegend renoviert worden. Dazu haben Sie, Herr Wertheimer, in besonderer Weise beigetragen ebenso wie einige engagierte Bürger aus Kippenheim und dem Umland, die sich seit rund 40 Jahren für den deutsch-israelischen Austausch und die Aufarbeitung der Vergangenheit einsetzen. Das Gebäude ist nun ein Ort der Erinnerung, des Lernens und des Dialogs.

Eine ungewöhnliche Form des Gedenkens hat der Künstler Gunter Demnig mit seinem Projekt ?Stolpersteine? gefunden. Demnig erinnert an die Opfer des Nationalsozialismus, indem er vor ihrem letzten Wohnort Gedenktafeln aus Messing in den Boden einlässt. Auch in Kippenheim sind seine Stolpersteine, die vergangenes Leben ins Bewusstsein der Gegenwart heben, zu finden. Solche Projekte helfen uns, Geschichte in ihren konkreten Dimensionen zu begreifen, auch wenn wir niemals wirklich werden verstehen können. Überhaupt sind es oft ? wie uns die Gedenkstätte Yad Vaschem oder das Jüdische Museum in Berlin deutlich machen ? Einzelschicksale, die den Nachgeborenen einen besseren Zugang zu dieser Zeit des Schreckens eröffnen.

Erinnerung und Aufarbeitung sind notwendig. Das friedliche Zusammenleben der Völker und Religionen braucht aber auch den Austausch im Hier und Jetzt, um Ausgrenzung und Hass vorzubeugen. Das gedeihliche Miteinander von Juden, Christen und Muslimen fällt uns nicht in den Schoß. Wir müssen es uns immer wieder von neuem erarbeiten. Stef Wertheimer hat uns gezeigt, dass das ?Erarbeiten? tatsächlich ein Zusammen-Arbeiten ist und dass die gemeinsame Arbeit die Grundlage für eine tiefere Verständigung sein kann. Diese Idee haben Sie uns gleichsam als Brille auf die Nase gesetzt. Und mit dieser Brille dürfen wir heute doch mit einiger Zuversicht in die Welt sehen. Für Ihre Sehhilfe und für das, was Sie als Ideengeber praktisch bewirkt haben, gebührt Ihnen unsere Anerkennung, unsere Ehrung und vor allem unser Dank.